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Titel steht noch aus
Meinen siebzehnten Geburtstag feierte ich weit weg von zu Hause, in einem winzigen Ort im amerikanischen Mittelwesten, ein Ort mit breiten leeren Straßen und sauberen kleinen Holzhäusern ohne Umzäunung. Drum herum nur Maisfelder. Ich lebte dort als Austauschschülerin.
Die Stadt aus der ich kam, war damals noch von einer Mauer umgrenzt und auf der Höhe aller zeitgeistigen Hipness. Nick Cave, damals noch ein Insider-Tip, residierte vor Ort, und die Duftmarken von David Bowie und Iggy Pop lagen auch noch in der Luft. Ich hätte in diesem Jahr einfach da bleiben und weiterhin cool sein können. Ich hätte tanzen und ins Kino gehen können, ich hätte einen drauf machen können mit der ganzen Wucht meiner niemals wiederkehrenden Siebzehnjährigkeit.
Aber ich blieb nicht da in diesem Jahr, denn ich wollte dieses Amerika sehen.
Dass es dort außer New York, Chicago und Los Angeles noch tausenderlei Orte gab, von denen man in Europa niemals etwas mitbekam, daran hatte ich einfach nicht gedacht. Was zumindest den Ort Cottonwood, Minnesota nicht daran hinderte, trotzdem zu existieren und sich mir als vorläufige Lebensstation aufzudrängen.
Cottonwood hatte einen Gemischtwarenladen, eine Post, einen Friseur und einen Popcornstand. Alles auf der Main Street. Und eine Schule. Die Cottonwood High School.
Die Jugend beiderlei Geschlechts trug das Haar in Dauerwelle. Der Star der Schule, der begehrteste Mädchenschwarm, sah aus wie ein geschmacklich fehl geleiteter Schlagersänger mit Hang zu Fettpölsterchen. Als Mädchen hatte man Lidschatten in blau, und so galt es als schön und richtig. Ich konnte diese Menschen und ihr Verständnis von Coolness einfach nicht entschlüsseln, doch dieses Unverständnis war durchaus beiderseitig. Man darf nicht annehmen, dass man als metropoles Girl auf dem Land automatisch einschlägt wie eine lang ersehnte State-of-the-Art-Bombe. Vielmehr saß ich als Fremdkörper eingekeilt zwischen Cheerleadern und Bon Jovi Fans, und man fand sich gegenseitig so mittel.
Eine Position, die unverhofft den Blick frei stellt auf andere Außenseiter. Den nerdigen Freak mit den dicken Brillengläsern, den schüchternen Stotterer, die Durchgeknallte und den schwierigen leckt-mich-doch-alle Rebell. Ihre Präsenz ist plötzlich stärker, sie befinden sich in unmittelbarer Nähe.
Lenny Gould war der Rebell. Seine Hobbies leer stehende Scheunen anzünden, Briefkästen im vorbeifahren mit dem Baseballschläger zerschmettern und Besitz illegaler Drogen hatten ihm bereits ein legendäres Vorstrafenregister eingebracht. Er saß in mehrerer meiner Klassen, aber regelmäßig erscheinen tat er nur zum Kunstunterricht. Dort malte er, unabhängig von der Aufgabestellung, die Plattencover seiner Lieblingsbands ab, Anthrax und Metallica.
Lenny und ich sprachen nicht viel miteinander, wir begrüßten uns und schenkten einander die geheime Anerkennung der Ausgegrenzten. Das war schon sehr viel. Für andere Mitschüler hatte Lenny eigentlich nur die Sätze "Halt's Maul, Idiot.", "Ist mir doch egal." oder simples Ignorieren im Repertoire. Ich hätte nicht mit ihm ins Kino gehen mögen, aber ich war froh, dass er da war, und dass er seine echten Locken kurz geschnitten trug.
Die Tage, besonders die Wochenenden in Cottonwood boten ein Ausmaß von Langeweile, das monströser war als der Horizont hinter den Maisfeldern. Eine Schulkameradin nahm mich eines abends mit zum Popcornstand auf der Main Street. Dort standen ein paar weitere Schulkinder und andere Jugendliche, Tranken Cola, Moutain Dew oder Mellow Yellow und alberten ein bisschen herum. Dann ging ich wieder nach Hause. Meine Gastmutter wollte wissen, wo ich gewesen bin und mit wem.
"Ich war beim Popcornstand mit Lisa."
"Rikki, ich möchte nicht, dass du dort herum hängst."
"Am Popcornstand?" ich war verblüfft.
"Das ist kein guter Einfluss."
"Aber, sonst gibt es doch hier nichts."
"Wir haben es unseren Töchtern nie erlaubt, am Popcornstand herum zu hängen, und für dich gilt das selbe."
So ging ich nicht mehr zum Popcornstand. Meine Gastmutter war die Sorte Mensch, mit der man nicht gern über irgendetwas diskutiert. Man tat lieber, was sie sagte und ging ihr ansonsten aus dem Weg.
Zum Ende des Schuljahres näherte sich der Abschlussball, und ich begriff, dass das wichtigste Accessoire für den großen Abend ein Date ist, ein Begleiter, ein Typ, der mit einem für das Abschlussballfoto posiert, neben einem sitzt und mit einem tanzt. Den gab es für mich natürlich nicht, jedenfalls keinen den ich mir gewünscht hätte. Es gab aber eine weitere Austauschschülerin. Juana aus Kolumbien, auch sie ein Fremdkörper, mit der ich selbstredend den Großteil meiner Freizeit verbrachte. Wir würden einfach gemeinsam zum Abschlussball gehen, obwohl Juana gerne mit Frank gegangen wäre, einem vergleichsweise akzeptablen Typ, der nur bereits vergeben war. Über diese Misslichkeit klagte Juana gern ausgiebig. Dabei riss sie die nächste Chipstüte auf, was der Situation nicht zuträglich war. Juana war eine hübsche Latina, aber hier im Norden von Amerika war sie schnell und gründlich in die Breite gegangen. Frank war ein dünner Typ und Franks Freundin war zierlich, was Juana aber nicht sehen wollte. Für sie war die Konkurrentin vor allem ein skrupelloses Flittchen, bei dem Frank bekam, was er wollte. "Ich hasse die Schlampe." sagte Juana fünf mal am Tag so nachdrücklich als sei es eine neue Information. Ich aber hatte keinen Zweifel, dass Juana bei sich bietender Gelegenheit ebenfalls nichts dagegen gehabt hätte, gemeinsam mit Frank und seinem Auto irgendwo in den Maisfeldern zu parken.
Mein Gastvater hieß Jerry Hoover und war Lehrer für Schreibmaschine an unserer Schule. Ein stilles, gutmütiges Männlein. Zu Hause sah ich manchmal, wie er unter meinem Fenster im Garten heimlich rauchte. Er wusste wohl, dass es unter meinem Fenster am ungefährlichsten war, denn natürlich würde ich ihn niemals bei der bösen Hexe verpetzten, mit der er verheiratet war. Die leibliche Tochter hätte das eher gebracht. Nach einem Jahr habe ich diesen Haushalt ohne Trauer verlassen, aber Jerry lebt immer noch dort. Mit Sicherheit kann er dabei Unmengen an schlechtem Karma wettmachen, für kommende fünf Leben im voraus. Ein paar Wochen vor dem Abschlussball, als außer mir grad niemand im Hause war, atmete Jerry tief durch, rieb sich nervös die Hände und sagte: "Also, Lenny Gould hat mich angesprochen." Pause. Blick aus dem Fenster. "Er fragte, also, wegen dem Abschlussball."
Ich hatte noch nicht ganz verstanden. Jerry hob hilflos die Schultern und wirkte allgemein überfordert. "Ob er mit dir zum Abschlussball gehen kann."
"Oh." sagte ich.
"Also, das geht natürlich nicht." Er atmete noch mal ein bisschen genervt ein und aus und hob noch mal die Arme. Gespräch beendet.
"Ich habe davon gar nichts gewusst." sagte ich, aber das war offensichtlich eh klar. Ich hätte noch "Aber warum?" nachfragen oder mich irgendwie auflehnen können, aber das wäre sinnlos gewesen.
Natürlich durfte die Tochter anderer, ferner Eltern, auf die man gut aufzupassen hatte, nicht mit dem vorbestraften irren Kiffer zum Abschlussball gehen. Jerry hätte es wohl sogar erlaubt, solange es ausschließlich um den Abschlussball ginge, natürlich, man sieht sich ja auch in der Schule. Aber warum sollte er mit seiner Frau darüber diskutieren. Das konnte ich gut verstehen.
Ich hätte es cool gefunden, mit Lenny als Date zum Abschlussball zu erscheinen. Ziemlich cool sogar, hätte es nicht auch bedeutet, Juana alleine gehen zu lassen, was nicht schön gewesen wäre. Das coolste war allerdings, dass Lenny überhaupt erwog, zum blöden Abschlussball zu gehen. Mit mir. Und dass er als Bad Boy erstmal bei der zuständigen Aufsichtsperson anfragte. Das rührte mich über die Maßen. Ich sah ihn vor mir in seinem Anthrax-T-Shirt, wie er Jerry nach der Schreibmaschinenstunde abpasst und in seiner nöligen Stimme das Anliegen vorträgt. Wie Jerry sich dann windet und ohne Lenny dabei ansehen zu können "Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist." sagt. Wie Lenny dann ein "hab ich mir schon gedacht" Gesicht macht, sich trollt und auf dem Nachhauseweg noch ein paar Scheunen anzündet.
Lynne, die Freundin von Juanas Schwarm Frank, saß ebenfalls in meiner Kunstklasse. Sie war begabt, und sie war auch sehr nett. Sie und Frank, zwei der akzeptabelsten Figuren in dieser Gruselkabinett-Schule hatten einander wirklich verdient, so leid es mir tat für Juana.
"Juana, du bist sowieso bald weg, und er will doch ein Mädchen, das dableibt." sagte ich zu ihr, und dann nickte Juana einsichtig, aber nur vorläufig.
Die Kunstlehrerin Kate Michels war großartig. Wir nannten sie bei ihrem Vornamen Kate, sie war eine Lehrerin, die man gleichermaßen mochte wie respektierte. Und sie hatte viel Verständnis für Schüler vom Schlage Lenny. Sie stellte sich hinter ihn, taxierte ernsthaft das auf seinem Tisch entstehende Bild, Anthrax in Acryl, und lieferte technische Ratschläge, die Lenny dann beflissen umsetzte.
Meistens saß ich neben Lynne, die von Juanas Fixierung auf ihren Freund im übrigen nichts ahnte.
Am Tag nach dem Gespräch mit meinem Gastvater setzte sich Lenny zu uns. Er trug diese wahnsinnig zerrissenen Jeans, die von wahnsinnig vielen Sicherheitsnadeln zusammen gehalten wurde. Seine Bilder waren zwar Metal, aber es steckte auch eine Portion Punk in ihm.
Er stützte sich auf die Tischplatte und glotzte Kaugummi kauend auf mein Bild, ein Schiff, das in den Sonnenuntergang segelt. "Gefällt mir." sagte er. Als Lynne aufstand, um Kate Michels irgend etwas zu zeigen, lehnte sich Lenny näher zu mir rüber, starrte auf die Wand hinter mir (Stimmen gewidmet, dieser Satz), und sagte: "Ich hab Jerry Hoover gefragt, ob ich mit dir zum Abschlussball gehen kann."
"Ich weiß." sagte ich. Wir sahen uns nicht an. Ich malte, er guckte auf die Wand.
"Naja. War ja klar dass nicht." sagte Lenny. "Hat dich noch wer gefragt?"
"Nö. Ich gehe mit Juana."
"Hm."
Dann trollte er sich wieder zu seinen Plattencovern.
Ich fragte mich, ob Lenny nun überhaupt zum Abschlussball gehen würde, und still für mich erwog ich auch, zum Ende meines Aufenthaltes hier auf dem Mond die Autoritäten Autoritäten sein zu lassen und spontan einfach doch mit Lenny zum Ball zu gehen.
Diese herumlungernden Pläne wurden jedoch schon bald von anderen Autoritäten durchkreuzt. Eine ganze Woche lang erschien Lenny nicht in der Schule, und es ging das Gerücht, dass er sich in ernstlichen Schwierigkeiten mit dem Gesetz befinde.
Zuerst dachte ich natürlich an Drogen und brennende Scheunen, aber dann hörte ich das Wort Vergewaltigung. Ich sah Lehrer auf den Gängen tuscheln, und auch bei mir zu Hause hörte ich, wie Jerry leise mit seiner Frau über Lenny sprach und sofort verstummte, als ich die Küche betrat. Ich setzte mich auf die Veranda, starrte auf diesen Horizont und bekam Lenny und Vergewaltigung in meinem Kopf nicht zusammen.