Tiridrim
In einer kleinen Stadt im Norden, da lebten die Tiridrim. Niemand wusste, woher sie gekommen waren und sie selbst wussten es auch nicht. Ob sie Verwandte in anderen Städten hatten? Das wussten sie auch nicht, aber immer wieder erzählte ein alter Oheim von seinen vielen Geschwistern, die in fernen Städten lebten, wo die Sonne niemals unterging und der Himmel grün war. Die Tiridrim nannten sie sich, weil sie mit Vorliebe ihre Umwelt beobachteten und schrecklich neugierig waren. Dass es der Umwelt zumeist nicht auffiel, dass sie beobachtet wurde, lag daran, weil sie äußerst klein waren, kaum größer als Dein kleiner Finger. Sie hatten eine helle Haut, blaue und rote Zipfelmützen, die sie sich aus altem Stoff schnitzten und waren insgesamt eigentlich mager, aber nicht dürr. Da sie sehr leise sein mussten, um nicht bemerkt zu werden, schwiegen sie gerne und oft; und so lernten sie, in den Augen von ihresgleichen und allem Getier zu lesen. Schweigend spielten sie und schweigend redeten sie, nur das Leuchten ihrer kleinen — zumeist blauen — Augen verriet, dass sich sie gegenseitig etwas sagten.
Unter den Menschen wohnten sie, denn die Tiridrim fanden sie sehr interessant und waren neugierig auf die Menschen, weil sie so seltsam sind. Meistens versteckten sie sich in kleinen Spalten, unter Betten, in Nischen oder anderen kleinen Orten, denn sie brauchten nicht viel Platz, denn sie schliefen, in einen Staubmantel eingewickelt, auf dem Boden und es machte ihnen nichts aus.
Was die Menschen angeht, so wussten sie nicht von den Tiridrim, aber wenn sie meinten Geräusche zu hören, wo keine sein könnten oder sie mal wieder den Schlüssel verlegt hatten, so glaubten sie dennoch nicht an die kleinen Wesen, die sich, wenn sie neckisch waren, einen Spaß daraus machten, die Menschen zu verwirren, weil sie den lustigen Gesichtsausdruck so liebten.
In einer Menschenwohnung in dieser Stadt hatte sich ein Tiri in einem Abfluss einer Dusche einquartiert und er tat nichts lieber, als die Menschen zu beobachten, wie sie unter der Dusche standen und sich mit seltsamen Sachen einrieben und so schnell ihre Hände über den Kopf fahren ließen, dass das Haar schier aufschäumte! Dann staunte der kleine Tiri immer und bekam große Augen.
Seit kurzem war ein anderer Mensch in die Wohnung gezogen: Es war ein junger Mann (soviel wusste der Kleine über Menschen) und dem Tiri fiel auf, dass der Mann in letzter Zeit nicht mehr so lustig sang und sich nicht mehr ausgiebig mit einem matten, violetten Edelstein abschrubbte (es war Seife, aber Seife kannten die Tiridrim nicht), sondern mit verschränkten Armen einfach da stand und sich das heiße Wasser auf die Stirn rieseln ließ. Dabei starrte er mit leerem Blick geradeaus — und das immer sehr sehr lange! Der kleine Tiri schaute dann immer durch das Abflussgitter nach oben und sah die menschliche Statue über sich stehen.
Eines Tages stand der junge Mensch wieder sehr lange unter der Dusche, so dass der kleine Tiri schon dachte, er wäre eingeschlafen. Aber dann regte sich dieser plötzlich und stellte mit einem Seufzer das Wasser ab und verließ das Bad.
Der kleine Tiri in der Dusche verließ niemals sein Lager, aber er bekam öfters Besuch von einem Bekannten, der in einem kleinen Loch hinter der Badezimmerheizung wohnte. Sie blickten sich in die Augen und konnten sich so Dinge erzählen. Der Tiri aus dem Heizungsloch schnitt gerne auf und so erzählte er dem kleinen Dusch-Tiri von bösen Gnomen mit ledriger, brauner Haut und hässlichen Köpfen. Da bekam der Kleine Angst und zog sicherheitshalber mit seinen kleinen Ärmchen an dem Abflussgitter, ob auch ja kein Gnom herein kommen könnte. Dann erzählte der kleine Tiri dem anderen von dem sonderbaren Menschen und auch dieser wusste keine Antwort, meinte aber nur, dass alle Menschen seltsam und dumm seien, das hätten ihm die Ratten erzählt, die aus Spaß die Menschen an der Nase herum führten.
Am nächsten Tag ging der junge Mann auf einem Schotterweg zu seiner Arbeit und lief dabei, ohne Aufzublicken, an einem Ahornbaum vorbei, in welchem eine Tiridrim-Familie wohnte. Aber die Mama hatte genug Probleme damit, ihre Kinderchen daran zu hindern, die armen Regenwürmer von den Ästen zu werfen, denn sie waren noch unerzogen und lausbübisch und so achtete die Mama nicht auf den jungen Mann, der mit gesenktem Kopf und blassem Antlitz zu einem Parkplatz ging. Dort traf er auf ein Mädchen von rabenschwarzem Haar und festen braunen Augen, die gerade in ihr Auto steigen wollte. Drei vorlaute Tiri, die unter dem Beifahrersitz wohnten, drückten sich die Nasen platt an der Heckscheibe. Sie beobachten voller Neugierde die beiden Menschen, die sich aufgeregt unterhielten. Es waren wohl schlimme Sachen, denn das Mädchen hielt sich an ihrem Auto fest und die Augenlider des jungen Mannes zuckten. Weil sie selbst nicht sprachen, verstanden die Tiridrim auch die Sprache der Menschen nicht, aber wie bei ihresgleichen lasen sie in den Augen und die drei Wichtel wurden kleinlaut, denn sie bemerkten, welch langer Schmerz zwischen den beiden Menschen stand, den sie nicht verstanden. Da stieg das Mädchen auf einmal in das Auto ein und fuhr weg; die drei Tiri sahen noch, wie der Mann auf dem Schotterweg zurück ging. Dann liefen sie schnell über den Boden unter dem Sitz nach vorne und lugten abwechselnd vorsichtig hoch zu dem Mädchen und sie sahen, dass ihre Fingerknöchel weiß waren, mit denen sie das Steuer hielt und ihr Gesicht war starr. Da waren die Tiri traurig und setzten sich im Kreis unter den Beifahrersitz und sahen sich nicht an.
Am Abend bekam der kleine Tiri in der Dusche einen kleinen Schreck, als die Tür aufflog und der junge Mann herein kam. Diesmal war das Wasser kochend heiß und der kleine Tiri konnte sich vor Schmerz kaum an dem Gitter festhalten. Aber die Neugier obsiegte und er erhaschte einen Blick auf den Menschen, der wieder mit verschränkten Armen starr dreinblickte, und diesmal war er noch blasser und das Gesicht noch eingefallener als ehedem. Und der kleine Tiri sah, dass der Mensch weinte, und die Tränen mischten sich unter das Wasser und der Kleine steckte seine dünne Zunge in das heiße Wasser, denn er wollte wissen, wie Tränen schmeckten, aber er verbrannte sich die Zunge und hielt einen ganzen Tag lang die Hand vor den Mund.
In den folgenden Wochen begann der kleine Tiri, sich um den Menschen Sorgen zu machen. Dieser stand immer nur stumm und zornigen Blickes unter der Dusche und ließ das heiße Wasser auf sich herab rieseln; er stand einfach nur da und der Wichtel beobachtete ihn und steckte vorsichtig seine Zunge in das Wasser, welches an ihm vorbei lief und der Tiri fragte sich, ob es Wasser oder Tränen waren.
Dann, eines Tages, einige Wochen nach dem Gespräch mit dem Mädchen, geschah etwas Seltsames: Der kleine Tiri hatte sich tief in das Abflussrohr zurück gezogen und hörte nur das leise Plätschern von Wasser und er wusste, dass der junge Mann duschte.
Plötzlich hörte der Wichtel ein furchtbares Geräusch, was er nicht kannte. Es klang ungesund und schrecklich und es war vor allem laut. So laut, dass sich der kleine Tiri aus Reflex die Ohren zuhielt, aber es war zu spät und sein kleines Köpfchen brummte. Er kauerte sich zusammen und hörte jetzt ganz schwach das Wasser der Dusche, welches langsam an ihm vorbei floss durch das Abflussrohr. Nach einiger Zeit öffnete er langsam die Augen und wunderte sich: Das Rohr war von einem seltsamen Leuchten erfüllt und hatte jetzt die Farbe von dem Mützchen, was sein Bekannter von der Heizung immer trug. So neugierig war er (wie alle Tiridrim), dass er seine Angst überwand und hoch zum Gitter kletterte. Nachdem sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, erstarrte er vor Schreck. Der Kopf des Menschen lag direkt vor ihm; seine Augen schienen ihn anzustarren. Der Wichtel erkannte nun, dass das Wasser ganz rot war und sehr zäh floss. Und, als er genauer hinsah, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen, denn der kleine Tiri sah, dass der Mensch auf dem Duschboden lag und in dem Kopf war ein Loch so groß wie nur was. Und plötzlich hielt der Tiri beide Hände vor den Mund, denn er merkte, dass er aus Leibeskräften schrie und es doch nicht durfte. Mit aller Kraft drückt er gegen das Abflussgitter und kletterte aus der Dusche. Dann lief er — immer noch schreiend — in das Schlafzimmer, und die vier Tiridrim, die unter dem Bett Karten spielten, sprangen auf und rannten hervor. Sie sahen, wie der kleine Dusch-Tiri auf sie zu rannte mit erhobenen Armen und unter lautem Geschrei. Sie sahen, dass er weinte und über und über mit Blut besudelt war. Niemals hatte der kleine Tiri die Dusche verlassen und niemals andere von seiner Sippe gesehen als den Heizungswichtel. Er jammerte und heulte und die anderen Tiridrim sahen in seine gequälten Augen, die vor Tränen nur so brannten. Sie lasen Verzweiflung und Wut und so ergriffen waren sie, dass sie sich hinsetzen mussten. Nur einer nicht: Einer war zum Fenster gegangen und sah ein schwarzhaariges Mädchen an die Tür klopfen und der Tiri las in ihren Augen, während alle um ihn herum schrien und weinten, und er las Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit in ihren braunen Augen. Niemals wieder vergaß er ihren Blick, so wie auch der kleine Dusch-Tiri niemals den Blick des Mannes vergaß, als die Tiridrim auszogen und die Stadt verließen und das schöne Mädchen die Dusche betrat.