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Tintenwasser, Wasserfisch
Tintenwasser, Wasserfisch
„Rette mich vor mir selbst“
Ein einziger schmaler weißer Streifen Pappe, der in der Hand kaum etwas wog. Er fischte ihn, nebst Werbeprospekten, aus dem Briefkasten. Im Treppenhaus roch es modrig. Durch einen Türspalt fiel kaum Licht, dafür umso mehr Dunkelheit, die sich allerorts ausdehnte und alles verschlang – die abgestellten, rostigen Fahrräder, die Briefkästen, den Mann mit der Schiebermütze am Fuße der Treppe. Vollendete Umnachtung.
Er verzog die Mundwinkel, rieb sich den Nacken und runzelte die Stirn.
Ein Phänomen. Wenn man ihn ansah, war er stets ein Mann ohne Mimik, ohne Gestik. Allein hier, in der dunklen Ungewissheit, sah man ihn eine nahezu bühnenreife Körpersprache zum Ausdruck bringen, grandiose schauspielerische Leistung sozusagen.
Sein erster Gedanke: Diese Handschrift ist die einer Frau. Er, unter allen Menschen dieser Welt, würde so etwas am ehesten erkennen. Er war Kalligraph. Kalligraph und Veterinär, die vielleicht seltsamste Kombination, die der Menschheit jemals unter die Augen gekommen war. Und, so dachte er bei sich im Stillen, der wahrscheinlich einzige Arzt, der überhaupt etwas von Schönschrift und Schreibkunst verstand.
Eine Frauenschrift also.
Ich hätte Graphologe werden sollen, um alles in der Welt, warum habe ich einen solchen Beruf gewählt, dachte Schiebermütze. So nannten ihn seine Freunde und mittlerweile auch so mancher Klient. Er gehörte nicht zu denen, die impulsiv handelten und gleich alles aufgaben, nur um in einem anderen Berufsfeld ihr Glück zu wagen; er war von einem anderen, gewissenhaften Schlag.
Warum nur habe ich diese Profession gewählt? Und warum nur hat diese offensichtlich verzweifelte Frau ausgerechnet mich gewählt?
Zwei Häuserblocks weiter, ein einziger schmaler Flur, am Ende des Ganges ein Schlafzimmer, unmöbliert bis auf ein Bett, darin ein Mädchen, das kaum etwas wog. Nein, sie war kein Mädchen, sondern eine Kindfrau, dachte sie, sobald man sie über sie in dieser lapidaren, unverfänglichen Weise sprach. Diese Bekannten zuckten daraufhin nur mit den Schultern, wie konnten sie es auch wissen? Als sie diese Bezeichnung - diesen Namen - zum ersten Mal gehört hatte, war sie begeistert gewesen und hatte ihn sich zu eigen gemacht.
Wer außer ihr hätte auch jemals Kindfrau sein können? Bei all der Apathie, all den Stunden, die sie täglich im Bett in Bauchlage verbrachte ... da sehnte sie sich natürlich mehr denn je nach etwas Eigenem, das sie nur für sich in Anspruch nehmen konnte.
Die Bauchlage war bequem, ungewöhnlich, aber bequem. Und ganz nebenbei brauchte sie ihre Blicke dann auch nicht auf die Millionen kleiner Scherben fallen zu lassen, Splitter und Scherben und Bruchstücke, die alle ihren Platz dort hatten, in diesem riesigen Ungetüm von einem unmöblierten Zimmer. Betten zählten für sie sowieso nicht als Möbelstück, sie waren vielmehr ein Teil Lebensraum.
Ihr Sternzeichen war Fisch. Sie hatte glatte, blauschwarze Haare, sie war Fisch, und sie konnte nicht fühlen. Nicht fühlen zu können war gleichzusetzen mit nicht schwimmen zu können. Je mehr klägliche Versuche sie unternahm, Schwimmversuche, desto mehr driftete sie ab, weit hinaus, auf der Oberfläche des Ozeans, und früher oder später würde die Ozeantiefe alle Nichtschwimmer hinunter auf den Meeresgrund reißen. Je früher, desto später. Sie musste fühlen lernen, auch wenn es ihre letzte und einzige Aufgabe in dieser Welt war.
Das Viertel war klein, und eigentlich war er auch nur in diesem Viertel bekannt. Jeder, der sein Tier in Behandlung brachte und die rüde Großstadt vermeiden wollte, musste in die Peripherie, zum Veterinär mit der Schiebermütze.
Der Arzt erwartete an diesem Freitagmorgen kaum Klienten. Er hatte also genügend Muße, um sich im Büro ungestört seinen Schreibarbeiten widmen zu können und seinen Gedanken nachzugehen. Mal angenommen, die Geheimnisvolle ist eine Klientin, dachte er. Das wäre durchaus möglich. Welches Tier könnte sie besitzen? Er führte insgeheim private Studien darüber, was die Auswahl der Haustiere über die Psyche ihrer Besitzer aussagen könnte. Für ihn eine spannende und amüsante Angelegenheit. Ohne auf einen Anhaltspunkt gekommen zu sein, schlug er seine Bibel auf, die er in der obersten Schreibtischschublade aufbewahrte. Am liebsten, wie auch an jenem Tag, las er über die Menschenfischer, die ersten Jünger. Etwas gedankenverloren blickte er zu seinem Aquarium auf, dann auf die Bibelseiten und wieder auf das Aquarium. Einfach grotesk. Er sah auf die buntschillernden Fische, die so sehr mit sich und ihrer Umwelt im Einklang waren. Er dachte an die vielen stressgeplagten Menschen, die inneren Frieden und diese schwebende, leichte Sorglosigkeit der Fische so dringend brauchten.
„Rette mich vor mir selbst“ - ihm fielen gerade diese Worte wieder ein, als das Telefon klingelte. Sein Ohr dicht an die Ohrmuschel gepresst, hörte er angestrengt hin, doch vom anderen Ende der Leitung vernahm er keinen Laut. Plötzlich ein leises Klirren. Und etwas, das sich wie Schluchzen anhörte. Dann ein Freizeichen. Er legte auf. Verstört von diesem merkwürdigen Anruf ging er einige Schritte in seinem Büro auf und ab, setzte schließlich seine Bibellektüre fort.
Sie wälzte sich noch ein paar Mal hin und her.
Die Kindfrau wohnte allein, in diesem immensen Altbau, ganz allein. Die Nachbarn warfen einander schon besorgte Blicke zu. Niemand wusste, was nach diesem Todesfall mit ihr geschah ...
Nach einigen Minuten beruhigte sie sich wieder, der Schmerz ließ nach. Nein, nicht der Schmerz. Sie kramte in Gedanken nach einem treffenderen Ausdruck. Das Leben, das Leben ließ nach. Wie bei einem Fisch unter Wasser zog die Wirklichkeit nur sehr träge und schwammig an ihr vorüber.
So gefangen war sie schon, in diesem selbstgesponnenen Netz aus eigenen Spielregeln, dass sie sich nur noch selten mitteilen konnte. Hilferufe auszustoßen, die letztendlich doch nichts herbeiführen würden, denn aus diesem engmaschigen Netz kam man schwerlich los. An manchen Tagen unterhielten sie sich trotzdem, die beiden. „Fühlst du endlich?“, fragte die Frau. „Ja, aber du musst uns mehr Zeit lassen“, erwiderte das Kind. „Du kannst mir noch nicht genug wehtun. So wie eine Schreibfeder auf das Papier einen Druck ausübt, so sachte gehst du mit mir derzeit um. Du bist nicht stark, nicht feste genug.“ – „Darauf werde ich in Zukunft achten“, sagt die Frau. „Ich habe bloß panische Angst, du könntest es verlernen, das Fühlen, das Spüren.“ – „Mach dir keine Sorgen um mich. Ich bin noch klein, und ich bin lernfähig. Solange die Feder tief in Tinte getaucht ist, hat alles seine Ordnung. Er hätte es gewollt.“ – „Hätte er?“ – „Ich bin mir sicher.“
Und sie näherten sich wieder einander, wurden eins. Denn für die folgende Übung durften sie sich nicht ablenken lassen. Die glattschwarzen Haarsträhnen in der Stirn, atmete sie tief ein und aus. Auf das Glas konzentrieren. Visualisiere es. Das Glas. Das halbleere Glas. Sie umschloss es mit einer Hand und zerdrückte es, zermalmte es mit bloßer Hand, wie nur sie, die Kindfrau, es konnte. Wie man ein Ei zerdrückt. Die rote Tinte floss also wieder, beruhigend. Noch habe ich nicht alle Sinne verloren, dachte sie. Und lächelte erleichtert ein Kindfrau-, ein Tintenfischlächeln. Er dort unten, in der Ozeantiefe, hätte es gewollt.
An diesem Abend kehrte er früh zurück in seine Wohnung. Er erwartete schon den modrigen Geruch im Treppenhaus, das türkisblaue Wasser in seinem eigenen Aquarium, die Anrufe von seinen Freunden aus dem Hauskreis.
Irgendeine Fügung wollte es nichtsdestotrotz so richten, dass sie sich begegnen mussten. Die Schiebermütze glaubte nicht an Zufälle. Die Schiebermütze glaubte auch nicht an Horoskope. Und doch schien es ihm, als hätte er dieses Mädchen, auf der Bordsteinkante sitzend, irgendwo schon einmal gesehen. Als glänzten ihre Haare wie die Schuppen einer seiner Fische. Und die Haltung, in der sie da saß, verriet nichts von Stress, von Starre, von Gleichgültigkeit. Nichts von alledem. Er brauchte nur einen Blick auf ihre Hände zu werfen, da sah er sie. Die Tinte, rote Tinte, wie auf dem schmalen Pappstreifen, den er heute morgen vernichtete. Wer ertränkt schon Hilferufe im Aquarium? Er war sich dessen bewusst, dass er der wohl Einzige war, niemand sonst würde so etwas fertig bringen.
Nun, er sah die Tinte. Er folgte dem Blick der Kindfrau, der direkt auf dem Fischaufkleber auf dem schwarzen Auto fiel. Sein Auto.
„Guten Abend, gestatten? Mein Name ist ... ach, nennen Sie mich einfach Schiebermütze.“ Dabei lupfte er seine Kopfbedeckung und machte eine galante, ausladende Geste. Sie blickte erstaunt, aber unerschrocken auf. „Ist es das?“, fragte sie nur. „Ist das meine Rettung?“ Sie zeigte auf den Fisch vor ihrer Nase. „Ja, das ist sie. Der Fisch ist immer die Rettung. Vor langer, langer Zeit, da lebte jemand, der unwahrscheinlich viel rote Tinte vergoss ... ausreichend für die gesamte Menschheit ...“