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Tikowa
TIKOWA
Er war am Ziel seiner Träume. Er war da. Am Arsch der Welt. Was nun? Er sah sich um. Nichts, nur ein paar alte Wohnwagen und einige Tierkadaver. Und warum war er hier? Wie kam er hierher? Seit Tagen hatte er von diesem Moment geträumt. Wie er allein inmitten von Nichts stand und darauf wartete, das es passieren würde. Nur was, das wußte er zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht.
„Kann ich Ihnen helfen, Mister?“ fragte ihn jemand.
Erschrocken drehte er sich um. Vor sich sah er einen alten zahnlosen Mann, der in einem verrosteten Rollstuhl saß. Er hatte keine Beine mehr, nur noch verfaulte Stümpfe, an denen Maden entlangkrochen, um den klebrigen Eiter zu fressen. Er faßte sich ein wenig. „Entschuldigung. Was haben Sie gesagt?“
Der Alte lachte laut. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Ich weiß nicht genau.“ Er wußte es wirklich nicht.
„Jimmy Butt“ sagte der Alte und streckte ihm die Hand entgegen.
Obwohl er Ekel empfand, schüttelte er dem beinlosen Mann die Hand. „Angenehm, mein Name ist... also...“ Er überlegte und nach einer Weile flüsterte er leise: „Leider weiß ich nicht, wer ich bin.“
Jimmy Butt lachte wieder und rollte dann zu einem der alten Wohnwagen. „Kommen Sie!“ rief er. „Kommen Sie!“
Er folgte ihm. Als sie am Wohnwagen angelangt waren, klopfte Mr. Butt an die Tür. Es tat sich nichts. Wieder klopfte er. Die Tür öffnete sich. „Wurde auch Zeit.“ knurrte Jimmy. „Und jetzt hilf mir verdammt nochmal!“
Aus dem Wohnwagen stieg eine fette Frau, die keine Haare mehr auf dem Kopf hatte. Sie sah den Fremden. „Jimmy, wer ist das?“
Jimmy lachte und sagte zu der Frau: „Keine Ahnung. Hat seinen Namen vergessen. Nennen wir ihn Bob!“
Die Frau kam auf Bob zu und gab ihm die Hand. „Hallo Bob, ich bin Martha, Jimmy´s Frau.“
Bob brachte kein Wort hervor. Er sah immer noch diese unglaublich fette Frau an. Noch nie in seinem Leben hatte er so etwas widerwärtiges gesehen.
„Alles in Ordnung Bob?“ wollte Martha wissen.
„Oh, ja. Ja, alles in Ordnung, danke.“
Dann hob Martha ihren Mann aus dem Rollstuhl und trug ihn in den Wohnwagen. Widerwillig und dennoch mit einer gewissen Neugier betrat Bob den Wagen. Was sich draußen schon angedeutet hatte, war drinnen nackte Realität. Es stank bestialisch. Unzählige Katzen hatten sich in dem kleinen Wagen eingenistet. Überall lagen verschimmelte Essensreste herum. Aus den kleinen Fenstern konnte man kaum hinaussehen und der Boden war von einem Gemisch aus Scheiße und Pisse überschwemmt.
„Willkommen in unserem Schloß, Bob!“ schrie Jimmy ihn an. Die Katzen machten einen gewaltigen Lärm.
Bob konnte Jimmy kaum verstehen. „Was?“
Jimmy deutete ihm an, an der Eingangstür stehen zu bleiben. Dann hatte er plötzlich ein Schrotgewehr in der Hand. Noch ehe Bob eine Vermutung anstellen konnte, was Jimmy jetzt wohl machen würde, beendete ein Schuß den Lärm. „Alles klar, Bob. Die Drecksviecher wollen einfach nicht gehorchen.“ sagte Jimmy und lächelte. Er hatte einer Katze den Kopf weggeschossen. Deren Gehirn lag nun verteilt im Wohnwagen. Außer Bob schien das keinen der restlichen Anwesenden, einschließlich der Katzen, zu stören. „Die wissen genau, was hier abgeht. Aber sehen Sie, Bob, statt wegzurennen, bleiben sie einfach hier.“ Jimmy legte das Gewehr weg.
Martha öffnete einen Schrank und holte ein sauberes Bettlaken hervor, welches sie über einen kleinen Hocker legte. „Setzen Sie sich doch. Möchten Sie vielleicht was trinken?“ fragte Martha.
Bob schüttelte den Kopf und setzte sich. „Sind noch mehr hier?“ wollte er wissen.
„Alles zu seiner Zeit.“ sagte Jimmy. „Jetzt erst einmal zu Ihnen. Also, Sie wissen weder wer Sie sind, noch wie Sie hierher gekommen sind?“
Bob nickte und sagte leise: „So sieht es aus, ja.“
Martha murmelte leise etwas. Jimmy sah sie strafend an. „Halt die Klappe, fettes Luder!“ Dann sah er wieder zu Bob. „Hm, haben Sie vielleicht etwas in Ihrer Jacke, das uns weiterhelfen könnte?“
Bob zog seine Jacke aus und kramte aus den Taschen ein Päckchen Zigaretten, Streichhölzer und ungefähr vierzig Dollar.
„Oho!“ sagte Jimmy anerkennend. „Wir haben es hier mit einem reichen Mann zu tun. Das wird den Richter freuen!“
„Richter?“ fragte Bob. Jimmy nickte. Plötzlich begann Martha zu weinen. Bob sah zu ihr. „Was ist? Ich verstehe nicht!“ Und da bemerkte er, daß noch jemand anwesend war. Er drehte sich um. Das letzte was er sah, bevor er durch einen Schlag auf den Kopf ohnmächtig wurde, waren tätowierte Beine. Dann wurde er aus dem Wohnwagen geschleift.
Martha weinte noch immer. Jimmy sah sie an. „Er ist doch selbst schuld!“ Dann spuckte er auf den Boden.
Martha schluchzte zaghaft. „Armer Junge!“
Jimmy spuckte erneut aus und trank einen Schluck Bier.
Langsam kam Bob wieder zu sich. Es war dunkel, der Boden kalt und feucht. Er faßte sich an den Kopf, fühlte getrocknetes Blut. Scheiße! Wenn ich das Arschloch erwische, welches mich... Weiter kam er nicht. Eine Tür öffnete sich und Bob wurde vom grellen Schein einer Taschenlampe geblendet.
„Aufstehen!“ befahl ihm eine tiefe Stimme.
„Was?“
„Aufstehen!“ Leicht benommen stand Bob auf. Zwei Gestalten kamen auf ihn zu und stülpten ihm eine Maske über den Kopf. Dann wurde er... abgeführt, es war das erste Wort, was ihm einfiel. Bob konnte nichts sehen, aber er hörte unzählige Stimmen, die ihn furchtbar beschimpften. Woher kamen die alle? War er an einem anderen Ort? Nach einer kleinen Ewigkeit schienen sie endlich angelangt. Ihm wurde die Maske entfernt, dann ließ man ihn unsanft zu Boden fallen. Er wurde wieder ohnmächtig.
Bob hob seinen Kopf. Er befand sich in einer Grube, die mit brennenden Fackeln erhellt wurde. Er stand auf und sah sich um. Im Hintergrund sah er die Skyline von New York. Das ist es. Ich bin in New York. Wahrscheinlich war ich besoffen und bin bei irgendeiner Baustelle in so ein verdammtes Loch gefallen. Seit wann benutzen die Fackeln? Scheiß drauf! Ja, da sind auch schon die Bauarbeiter und lachen mich sicherlich aus.
Einer der Bauarbeiter kam auf ihn zu und leuchtete ihm mit einer kleinen Lampe in die Augen. Der Bauarbeiter drehte sich um sagte: „Verdammt, ich hab doch gesagt, daß ihr mit dem Zeug vorsichtig umgehen solltet. Der Scheißkerl denkt immer noch, alles wäre ein Traum!“
Bob lächelte den Bauarbeiter an. Ein Traum? Was für ein Traum?
Und dann verformte sich das Gesicht des Bauarbeiters in die Fratze eines bärtigen und dreckigen Mannes, der Bob ansah und zu ihm sagte: „Mein Junge, langsam wird es wieder, was?“
Jetzt fiel es Bob wieder ein. Die fette Frau, Jimmy Butt, der Schlag auf den Kopf. Nach und nach konnte er alles erkennen. Anscheinend war er mit Drogen vollgepumpt worden. Und als er all diese kaputten Typen sah, die sich um die Grube herum versammelt hatten, begann Bob ernsthaft daran zu denken, daß er aus dieser Situation lebend nicht wieder herauskommen würde. Ein großer Mann mit schwarzem Gewand stieg zu Bob in die Grube hinunter. Die Menge begann zu raunen, doch als der Mann den Arm hob, war es still, unheimlich still. Bob sah den Mann an. Dieser kam auf Bob zu. Langsam wurde es wieder unruhig. Der Mann stand nun unmittelbar vor Bob. „Man nennt mich hier den Richter.“ sagte er mit einer hohen Stimme. Bob konnte die Verachtung, die der Richter ihm gegenüber empfand hören. Der Richter erhob wieder seine Stimme: „Weißt du, warum du hier bei uns bist? Bob?“
„Nein, weiß ich nicht.“
„Armer, armer dummer Bob. Du kannst es nicht wissen. Doch ich schon.“ Der Richter sah sich um. Und dann begann die Menge zu toben. Bob hörte nicht jeden der Schreie, aber ihm war klar, daß jeder Ruf etwas mit ihm zu tun hatte. Und alle wollten offenbar nur eines, seinen Tod. Der Richter hatte wieder seine Hand erhoben, um den Mob etwas zu beruhigen. „Tja, Bob. Es sieht nicht gut für dich aus. Mir bleibt nichts anderes übrig, als dich schuldig zu sprechen.“
Bob sah den Richter an. „Weswegen?“
„Für deine grauenhafte Tat, Bob. Du hast ein Verbrechen begangen!“ Der Richter sah Bobs fragenden Blick. „Natürlich bist du dir keiner Schuld bewußt. Doch du weißt nicht, wo du bist. Du bist hier bei uns. In Tikowa. Im Niemandsland zwischen Wahnsinn und Wirklichkeit. Ich weiß, wie du denkst. Der alte Jimmy Butt hat dich Bob genannt, weil du deinen Namen nicht mehr wußtest. Und du weißt auch nicht, warum du hier bist. Nur in einem warst du dir in den letzten Tagen sicher. Das ist der Ort, von dem du in deinen Nächten geträumt hast.“
Bob brachte kein Wort hervor. Der Richter ließ sich feiern. Schließlich konnte Bob dem Richter doch noch eine Frage stellen. „Und was habe ich verbrochen?“
Wieder wurde es leise. Der Richter packte Bob an der Schulter. „Du wagst es, mir Fragen zu stellen?“ Seine Augen waren voller Haß für Bob. „Du wagst es? Nun, du kleines Arschloch, ich werde es dir sagen! Du bist des Mordes überführt, angeklagt und für schuldig befunden worden.“
„Mord?“
„Ja!“
„Aber ich habe keinen ermordet.“ Bob fiel auf die Knie. Ihn verließen die Kräfte. Waren es die Nachwirkungen der Drogen?
Der Richter zerrte ihn wieder auf die Beine. „Sieh hin!“ schrie er und zwang Bob, zu einem kleinen Mädchen zu sehen, welches Bob unschuldig anlächelte. „Sieh sie dir an! Sie ist dein Opfer!“ Der Richter ließ los und Bob fiel wieder zu Boden.
Bob holte nach Luft. Das Mädchen soll mein Opfer sein? Sie lebt. Was geschieht hier mit mir?
„Ja, du Mistkerl!“ schrie ihn der Richter an. „Da fehlen dir die Worte. Sie ist dein Opfer. Sieh hin! Sie ist noch ein Kind, voller Unschuld. Du bist schuldig! Du hast sie vergewaltigt, verstümmelt, ermordet! Bob, das hast du!“
Bob begann zu schreien. „Nein! Nie würde ich so etwas tun!“
Der Richter drückte Bob an sich. Bob weinte hemmungslos. „Ich weiß Bob, nie würdest du so eine abscheuliche Tat begehen. Nie.“ Die Fackeln erloschen langsam. „Und damit es nicht soweit kommt, müssen wir dich töten!“ Dann holte der Richter ein langes Messer aus seinem Gewand. Für einen kurzen Moment ließ er Bob aus den Augen.
Und so sehr Bob auch mit sich selbst zweifelte, so sehr Bob mit der ganzen beschissenen Lage haderte, nutze er die Unachtsamkeit des Richters. Er riß sich los, stieß den Richter zu Boden. Vielleicht war es der Schock der Meute, vielleicht auch nur ein dummer Zufall. Aber Bob befand sich außerhalb der Grube und rannte um sein Leben. Bob drehte sich nicht um, selbst dann nicht, als er das Brüllen von Jimmy Butt hörte: „Du hast keine Chance!“
Er rannte weiter. Tiefer in den Wald, den er erreicht hatte. Die Rufe der Verfolger verstummten. Bob blieb stehen. Er sah sich um. Ein Versteck. Ich brauche ein Versteck, ich muß die Nacht abwarten. Er kauerte sich in ein dichtes Gebüsch und schob welkes Laub und Geäst über seinen Körper. Eine kurze Zeit später konnte er sie schon hören.
Sie hatten eine lange Kette gebildet. An vorderster Front schritt der Richter und schrie immer wieder zu sich, zu den anderen, vor allem zu Bob: „Es gibt kein Entkommen! Es ist dein Schicksal. Bob! Newman! Er gibt kein Entkommen! Wir wollen doch nur helfen!“ Sie suchten weiter nach ihm.
Bob lag in seinem Versteck. Er hörte die Schreie des Richters. Wer zum Teufel ist Newman? Er war ausgelaugt und wurde müde. Schließlich schlief er ein.
Die Suche blieb erfolglos. Enttäuschung lag in der Luft. „Wir haben ihn nicht aufhalten können.“ sagte der Richter. „Wir können nicht jeden retten.“
Jimmy Butt rollte auf den Richter zu. „Vielleicht ist es an der Zeit, einen neuen Richter zu ernennen.“ In seinen Händen hielt Jimmy sein Schrotgewehr. Seine Frau Martha stand hinter ihm und fing wieder an zu weinen. „Was ist, Martha?“ wollte Jimmy wissen.
„Newman, ich meine... Bob. Vielleicht wird ja doch alles gut.“
Jimmy sah den Richter an und sagte: „Nein Martha, nichts wird gut.“
Der Richter sah zu Jimmy. „Ich gebe zu, versagt zu haben. Dir bleibt nichts anderes übrig, Jimmy Butt.“ Jimmy nickte.
Kurz darauf durchbrach ein Schuß aus einem Schrotgewehr die unheimliche Stille von Tikowa, jenem Ort zwischen Wahnsinn und Wirklichkeit.
Yeahhhhhh! Good Morning New York! Es ist Zeit zum Aufstehen. Die Sonne steht schon über...
Mit einem lauten Schrei wachte Newman Porter auf. Er hatte einen schrecklichen Traum gehabt. Verdammter Shit. Er würde zukünftig aufpassen, von wem er sich Stoff besorgen würde. Newman stand unter der Dusche. Alles war so echt gewesen. Der Richter, dieses fette Monster von einer Frau. Verdammt. Vergiß es einfach. Es war ein böser Traum. Vergiß es!
Einige Tage später saß Newman in der U-Bahn. Ihm gegenüber saß ein kleines Mädchen. Er hatte plötzlich diesen Gedanken: Du kennst das Mädchen! Er schüttelte den Kopf. Schwachsinn. Das Mädchen lächelte ihn an. Er lächelte zurück. Newman sah sie an und dachte: Dir wird das Lächeln schon vergehen! Tief in seinem Inneren begann sich eine kranke Lust auszubreiten, die schnell von ihm Besitz ergriff. Newman sah wieder zu dem kleinen und hübschen Mädchen. Ja, dir wird das Lachen schon vergehen. Er setzte sich neben sie...
„Hör auf zu weinen!“ sagte Jimmy zu Martha. „Du weißt doch ganz genau, wer hier lebend rauskommt, hat schon verloren.“ In den Nachrichten hatten sie von dem grausamen Mord an einem jungen Mädchen in New York erfahren. „Keiner hat damit gerechnet, Martha. Keiner!“
Martha weinte noch immer. Schließlich konnte sie trotz ihrer Tränen doch noch etwas sagen. „Er hat so einen netten Eindruck gemacht.“
Jimmy senkte den Kopf. „Ja. Das hat er. Nur verstanden hat er nicht. Wir haben es versucht. Armes Mädchen.“
Martha öffnete die Tür des alten Wohnwagens. „Tikowa. Ein seltsamer Ort, um Engel unterzubringen. Jimmy?“
„Ja?“
„Wird der nächste besser sein?“
„Er wird, glaub mir! Einer wie der da oben“, er deutete mit dem Finger Richtung Himmel, „Einer wie der da oben kann sich nicht viele Fehler leisten.“ Jimmy spuckte auf den Boden.
Martha setzte sich zu ihm und strich ihm über das Gesicht. „Jimmy?“ Er sah sie an. „Jimmy, glaubst du, daß wir jemals aus Tikowa rauskommen? Wirklich raus, zurück in die Heimat?“
Jimmy blickte nach unten. „Sieh mich doch an.“
Vor dem Wohnwagen von Jimmy und Martha Butt spielten Katzen mit dem Kopf des Richters. Und langsam breitete sich die Nacht über Tikowa aus. Bald würde ein neuer Richter erscheinen. Und außer den Engeln und denen, die zwangsläufig in Tikowa strandeten, würde keiner je etwas davon erfahren.
ENDE
copyright by Poncher (SV)
Oktober 2000