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Serie Tikowa: Engel in Tikowa

Beitritt
19.06.2001
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Tikowa: Engel in Tikowa

ENGEL IN TIKOWA

Was Martha am meisten ärgerte, war nicht ihr Aussehen. Es war auch nicht ihr verkrüppelter Mann. Es war einfach nur die Tatsache, an einem Ort wie diesem zu sein. Tikowa. Willkommen im Niemandsland zwischen Wahnsinn und Wirklichkeit. Wer hierher kam, hatte verloren. Ganz egal, ob man ein Engel oder ein potentieller Mörder war. Sie hatte über vieles nachgedacht, in den letzten Wochen. Es war einiges passiert. Ein neuer Richter hatte den Posten des Anklägers und Vollstreckers angetreten. Drei Menschen hatten den Weg hierher gefunden und endeten wie die meisten auf dem Friedhof, welcher knapp einen Kilometer von Tikowa entfernt lag. Manchmal, an heißen und windigen Sommertagen konnte man den Geruch des Todes riechen. Martha sah zu Jimmy, der noch schlief. Ich liebe ihn. Sie setzte sich zu ihm auf das Bett, welches unter ihrem Gewicht zu zerbrechen drohte. Jimmy schnaufte unruhig, wachte aber nicht auf. „Ich liebe dich, Jimmy.“ flüsterte Martha ihm ins Ohr. Sie begann zu weinen. Dann holte sie das Schrotgewehr, lud es und schoß Jimmy in den Kopf. Martha holte tief Luft. Sie kniete sich auf den Boden, hielt sich das Schrotgewehr unters Kinn und plötzlich, seit einer kleinen Ewigkeit, hatte sie einen klaren Gedanken. Sie richtete ihren Blick nach oben. Mit fester Stimme sagte sie „Du bist schuld!“. Dann machte sie ihrem Leben als Engel ein Ende.

Der Richter betrat den Wohnwagen der Butts. Er hatte Mühe, sich seinen Ekel nicht anmerken zu lassen. Als ihn der Sheriff grinsend ansah, wußte er, daß es zwecklos war. Er hielt sich ein Taschentuch vor die Nase. „Selbstmord?“
Der Sheriff nickte und sagte: „Martha hat zuerst Jimmy und dann sich mit dem Schrotgewehr getötet. Mr. Luther?“
Der Richter sah ihn fragend an. „Ja?“
„Mr. Luther, seit dreihundert Jahren hat sich hier in Tikowa keiner mehr umgebracht. Naja, von den Engeln, meine ich.“
Luther nickte. „Schon merkwürdig, Mr. Parker.“ Er sah sich um. Luther konnte nicht begreifen, wie man sich hier wohlfühlen konnte! Er deutete dem Sheriff an, mit nach draußen zu kommen. Im Freien holte Luther tief Luft.
Der Sheriff schloß die Wohnwagentür. Parker holte einen Plastikbeutel aus seiner Tasche. „Das hat man gefunden.“
Luther nahm den Beutel. Im Inneren befand sich ein Fetzen Papier. „Was ist das?“ wollte er wissen.
Parker zuckte mit den Achseln. „Weiß nicht, vielleicht eine Art Abschiedsbrief. Auf dem Papier steht ‚Du bist schuld!‘, das ist alles.“
„Und an wen ist das gerichtet, Mr. Parker?“
Parker schluckte schwer. „Nun ja, der Fetzen lag bei einem Bild von IHM.“ Er blickte leicht nach oben.
„IHM?“
„Ja.“ Luther bekam Kopfschmerzen. „Dann hat Martha Butt IHN in Frage gestellt.“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist nicht gut, nicht gut.“
Der Sheriff nickte und sagte: „Ja Mr. Luther. Was machen wir jetzt?“
Luther sah nach oben. „Was wir jetzt machen, Mr. Parker? Ich werde Ihnen sagen, was wir jetzt machen. Sie und ich werden ergründen, warum ein Engel zu solch einer Tat fähig war. Kommen Sie, wir gehen in die Bibliothek!"

Auf dem Weg zur Bibliothek wurden sie von einem kleinen, sehr aufgeregten Jungen aufgehalten. „Sheriff, Mr. Luther! Wir haben einen Gräber!“
Luther haßte diesen Ausdruck. „Kleiner, wie heißt du?“ wollte er wissen.
„Ich? Rufus, Sir.“
Luther beugte sich zu ihm herunter. „Rufus? Versprich mir, daß Du nie wieder Gräber sagst, wenn Du einen Menschen meinst. Kannst Du das?“ Rufus nickte pflichtbewußt. Luther sah den Sheriff an. „Lassen Sie uns das schnell und sauber über die Bühne bringen, Parker!“ Dann begaben sie sich zur Grube.

Ein schmächtiger und verängstigter Mann stand in der Grube und schrie immer wieder „Was wollt Ihr von mir?“
Als Luther und Parker ankamen, hatten sie die Schreie schon von weitem gehört. Luther winkte den Doc zu sich heran. „Hat er keine Drogen bekommen, Mr. Jennings?“
„Tut mir leid, Mr. Luther, der Kerl war schon mit Drogen vollgepumpt, als er hier ankam. Ein Süchtiger!“
Luther sah zu dem Mann in der Grube. „Einer von der üblen Sorte. Was für ein Verbrechen wird er begehen? Weiß man das schon? Parker?“
Parker blätterte noch in seinem Notizblock. „Einen Moment bitte... Er ist einen Tag zu früh.“
„Zu früh?“
„Ja, Mr. Luther. Sein Name ist Sebastian, J.F. Sebastian. Drogenabhängig, neigt zu agressiven Gewaltausbrüchen, äußerst depressiv.“
Luther nickte. „Was wird er tun?“
„Banküberfall, Geiselnahme, vierzehn Tote.“ Sheriff Parker sah Luther an. „Und so weiter und so weiter...“
„Das ist typisch.“ sagte Luther, „die schweren Fälle werden an uns übergeben. Also dann.“ Der Richter holte noch einmal Luft und stieg dann in die Grube, begleitet vom ohrenbetäubenden Jubel der Menge.

Parker hatte den neuen Richter von Anfang an gemocht. Luther war nicht so ein selbstgerechtes Arschloch wie sein Vorgänger. Und vor allem, er ließ den Menschen, die in Tikowa ankamen, ihre Würde. Auch wenn Luther oft zynisch wirkte, Parker erkannte auch dessen Glauben an die Menschheit. Es war Luther gewesen, der die Grube mit Scheinwerfern statt mit Fackeln ausleuchten ließ. Luther bestand auch auf Hologramme, anstatt irgendeinen Engel die schwierige Prozedur der Verwandlung vollziehen zu lassen. Luther stand unten in der Grube und zog das Programm durch. Luther selbst hatte es so genannt: Das Programm. Parker sah ihm zu. Ja, Luther war ein guter Engel. In der Grube hatte sich J.F. Sebastian heulend an Luthers Schulter gelehnt, als er gesehen hatte, was er tun würde. Und im Gegensatz zu seinem Vorgänger gab Luther jedem Menschen die Chance, Buße zu tun, um „doch nicht ganz unten zu verschmoren“, wie Luther es formulierte.

Dann war es auch schon vorbei. Als nur noch Luther, Parker und der Doc bei der Grube waren, sagte Luther zu Jennings: „Sie werden ihn wie üblich reinigen lassen und anschließend vergraben.“ Der Doc nickte.
Parker sah Luther an. „Es ist noch nicht zu spät für die Bibliothek.“
„Ja, gehen wir.“
Beide verließen die Grube, während Doc Jennings die Leiche von J.F. Sebastian für den Abtransport vorbereitete.

„Glauben Sie, daß die Sache mit Newman Porter sie so sehr bewegt hatte, daß sie nicht mehr weiter wußte?“ fragte Parker den Richter in Bezug auf den Fall Martha Butt. Luther lächelte.
„Glauben? Mr. Parker, der Glauben wird uns hier nicht viel nützen... Glauben Sie mir.“ antwortete er auf Parkers Frage.
Parker lachte. Ja, er mochte den Richter. Inzwischen waren sie an der Bibliothek angelangt.

Es war ein uraltes Bauwerk, geprägt vom Stil des ausgehenden 15. Jahrhunderts. „Schauen Sie sich das an, Mr. Parker, wunderschön, nicht?“
Parker räusperte sich, ihn interessierten solche Sachen nicht. „Lassen Sie uns hineingehen.“ sagte er und ohne eine Antwort des Richters abzuwarten, öffnete er die Tür.
Luther sah sich noch einmal kurz die kunstvoll verzierten Säulen der Bibliothek an, bevor er dem Sheriff folgte. Sie standen in einer großen Halle. Eine gespenstische Stille umgab sie.
„Ganz anders als bei der Grube.“ flüsterte Parker. Luther nickte. „Kommen sie, dort drüben.“ Dann gingen sie zum Archiv. Parker suchte nach dem Lichtschalter und hatte ihn wenig später gefunden. Nach und nach gingen die riesigen Kronleuchter an und erhellten den Raum. Parker sah sich um und war sprachlos.
„Sehen Sie das?“ fragte Luther. Parker nickte, noch immer keines Wortes fähig. Die Wände waren mit Motiven aus der Schöpfung bemalt worden, unzählige Statuen schienen das Archiv zu bewachen. Luther war begeistert. „Als ob es direkt von IHM stammen würde.“ sagte er zu Parker. „Parker?“ Luther drehte sich um. Parker hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und rang um Luft. „Was ist mit Ihnen?“ wollte Luther wissen.
Parker winkte ab und brachte dann mühsam hervor: „Schon gut. Es ist nur... es ist überwältigend!“
„Ja, das ist es.“ sagte Luther. Sämtliche Religionen der Menschheit waren hier im Archiv an den Wänden bildlich dargestellt worden. Luther fing sich wieder. „Unglaublich, wer hat das gemacht?“ Parker konnte nur mit den Schultern zucken. „Tikowa scheint doch recht interessant zu sein.“ sagte Luther. „Aber diese Sache können wir auch noch später angehen. Wir sollten uns jetzt wieder um Martha Butt kümmern, Sheriff?“
Parker war froh, daß Luther wieder auf den Fall zurückkam. „Okay.“ sagte Parker. „Wonach suchen wir?“
Luther sagte: „Sie haben gesagt, etwas ähnliches habe sich vor gut dreihundert Jahren ereignet. Danach suchen wir.“ Beide begannen die scheinbar endlosen Gänge mit den riesigen Regalen zu durchsuchen.
Als der erste Sonnenstrahl Tikowa erleuchtete, hatte Parker es gefunden. „Ich hab es!“ schrie er.
Luther rannte zu ihm. Parker reichte ihm ein großes, dickes Buch. Sie gingen zurück in die große Halle zu einem der vielen verstaubten Tische. Luther legte das Buch auf den Tisch und wischte mit der Hand den Staub weg. Auf dem Umschlag stand in handgeschriebenen Buchstaben ‚Tikowa Chroniken‘. Luther sah Parker an. „Die Bibliothek wurde vor fünfzig Jahren geschlossen?“
Parker nickte. „Hm, kam von ganz oben.“
Luther nickte ebenfalls und sagte mit einem spöttischen Unterton: „Nun, da kann man nichts machen.“ Er öffnete das Buch. „Mal sehen. Wir suchen nach einem Selbstmord oder einem Mord an einem Engel.“ Er suchte weiter. „Hier!“ Er zeigte Parker einen kurzen Bericht. „1704 köpfte ein Engel namens Tim Woodrow seine Frau.“
Parker las den Artikel. „Hier steht nirgends, warum er es getan hat.“ „Ja. Er hat jede Aussage verweigert. Lesen Sie weiter, Mr. Parker!“
Parker las zuende. „Woodrow ist dann zurück geschickt worden. Das wars, mehr steht hier nicht.“
Luther schlug das Buch zu. „Der Mord wurde zwar in den Chroniken vermerkt, aber es scheint so, als ob man nie ernsthaft versucht hätte, die Hintergründe wirklich aufzudecken.“
Der Sheriff stand auf, ging zu einem der mächtigen Fenster und schaute hinaus. Er überlegte. Dann kam er zum Richter zurück. „Was jetzt?“
„Ich weiß es nicht.“
Parker dachte nach. „Wir sollten Hastings einen Besuch abstatten.“
Luther sah ihn fragend an. „Hastings?“
„Ja, soviel ich weiß, ist er der Verfasser der Chroniken.“
„Woher wissen Sie das?“ wollte Luther wissen.
„Mr. Luther, ich bin zwar erst seit dreißig Jahren hier in Tikowa, aber ich habe gelernt, den Leuten zuzuhören, wenn sie sich die Geschichten aus längst vergangenen Zeiten erzählen.“
Luther sah Parker an. „Gute Arbeit, Sheriff. Können wir?“ Sie verließen die Bibliothek. „Wie spät ist es?“
Parker sah auf seine Uhr. „Fast halb sechs. Es ist noch ziemlich früh. Kommen Sie, wir trinken bei mir im Büro erst einen Kaffee.“ Er rieb sich die Hände. „Außerdem ist es kalt geworden. Es ist viel zu kalt für diese Jahreszeit.“
Beide entfernten sich. So bemerkten weder Richter Luther noch Sheriff Parker, wie ein einzelnes Eichenblatt zu Boden fiel und sich in ein kleines Häufchen Asche verwandelte.

Es klopfte an der Tür. Hastings sah durch den Spion und erkannte Sheriff Parker. „Wer ist da?“ brummte er. Er sah, wie Parker das Gesicht verzog.
„Machen Sie auf Mr. Hastings!“
„Ja, ja, einen kleinen Moment noch...“ Hastings sah sich um. Hm, sieht ganz ordentlich aus. Er öffnete die Tür. „Ah, Sheriff.“ Dann sah er den Richter. „Oh, unser neuer starker Man, was? Richter Luther.“
Parker schob Hastings zur Seite und betrat die Wohnung. „Sie wissen, wer wir sind?“
„Oh ja, das weiß ich. Ich weiß so einiges.“
Luther drehte sich zu Hastings um. „Tim Woodrow?“
Hastings wurde kreidebleich. „Was haben Sie gesagt?“
Parker schloß die Wohnungstür. „Mr. Luther hat Tim Woodrow gesagt.“
Hastings schüttelte den Kopf. „Ich kenne keinen Woodrow. Wer soll das sein? Ein Gräber?“
„Es ist kein Mensch, Mr. Hastings.“, sagte Luther. „Er war ein Engel. Wie wir.“
„Nun, was wollen sie dann von ihm?“ fragte Hastings mit zittriger Stimme. „Woodrow hat 1704 seine Frau umgebracht, hier in Tikowa. Anschließend ist er zurückgeschickt worden.“
Hastings lächelte nervös. „Na also, vergessen, vorbei. Wen interessiert das noch?“
Luther packte Hastings am Kragen. „Mich interessiert es. Weil es wieder geschehen ist. Ein Mord unter Engeln. Und jetzt reden Sie, was wissen Sie über den Woodrow Mord?“
Hastings setzte sich auf einen alten Holzstuhl. Parker schloß trotz des fauligen Geruchs das Fenster. Luther setzte sich zu Hastings und gab Parker ein Zeichen. Der holte ein kleines Aufnahmegerät aus seiner Jacke und drückte auf Aufnahme...

„Was wissen Sie über den Woodrow Mord?“
„Was soll ich Ihnen da erzählen. Es liegt so lange zurück.“
„Sie haben die Tikowa Chroniken verfaßt?“
„Ja.“
„Der Sheriff und ich waren in der Bibliothek.“
„Die ist seit fünfzig Jahren zu.“
„Richtig, wir waren trotzdem drin und haben die Chroniken gefunden. Sie haben gute Arbeit geleistet. Ausführlich jede noch so unbedeutende Begebenheit geschildert. Nur beim Woodrow Mord sind Sie von Ihrer üblichen Linie abgekommen. Warum?“
„Sie wollen es unbedingt wissen, was?“
„Ja. Das will ich.“
„Egal, was das für Konsequenzen nach sich ziehen wird?“
„Ja.“
„Woodrow hat seine Frau geköpft. Ich war einer der ersten am Tatort. Es war furchtbar. Er hatte ihr die Kleidung entfernt. Sie lag auf dem schmutzigen Boden, nackt. Überall waren Ratten. Und Woodrow saß vor einem Bildnis von IHM und stammelte immer wieder ‚Du bist schuld! Du bist schuld!‘“
„Das hat er gesagt?“
„Das hat er, ich habe es selbst gehört. Der damalige Richter ließ Woodrow in die Klinik bringen. Keiner wußte, was passieren würde. Das hatte es noch nie gegeben, daß ein Engel einen anderen ermordet.“
„Was ist dann passiert?“
„Ich habe mich noch ein wenig umgesehen. Außer einem kleinen Fetzen Papier bei dem Bild von IHM gab es aber nichts weiter.“
„Ein Stück Papier? Stand vielleicht etwas darauf?“
„Es stand drauf, was Woodrow gesagt hatte, als man ihn fand. ‚Du bist schuld!‘“
„Erzählen Sie weiter.“
„Ein paar Tage später holte man Woodrow ab. Es war noch sehr früh am Morgen. Auf einmal waren sie da.“
„Wer war plötzlich da?“
„Man sagt, es würde sie nicht geben.“
„Wen?“
„Haben Sie schon mal was von SEINER Leibgarde gehört?“
„Nein Hastings, hören Sie auf. ER hat keine Leibgarde nötig. Es gibt keine Leibgarde!
„Nun, das mögen Sie denken. Jedenfalls haben sie Woodrow abgeholt. Und dann war er weg. Mir hat man gestattet, in den Chroniken einen kleinen Artikel über diesen Vorfall zu schreiben. Mehr auch nicht. Und das ist alles, was ich dazu sagen kann.“
„Sonst nichts mehr?“
„Nein. Nur noch eines...“
„Ja?“
„Tim war ein guter Engel. Er hat immer an die Menschen geglaubt. Immer. Vielleicht hat ihn der Vorfall mit dem einen Gräber zu sehr mitgenommen.“
„Welcher Vorfall?“
„Sie haben nicht alles aus den Chroniken gelesen.“
„Ich muß zugeben, daß dem Sheriff und mir...“
„Entschuldigen brauchen Sie sich nicht.“
„Hastings! Welcher Vorfall?
„Ein paar Wochen vor dem Mord gelangte wieder einmal ein Gräber nach Tikowa, um bestraft zu werden. Nur leider konnte der Gräber entkommen. Hat dann, als er wieder in seiner Welt war, ein kleines Mädchen umgebracht. Tim nahm die Sache ziemlich mit. Vielleicht ist er deswegen ausgerastet.“

Hastings begann zu weinen. Luther legte seinen Arm um ihm und sah Parker an. „Haben Sie es?“ Parker nickte. Dann stand Luther auf und ging zum Fenster. „Wissen Sie, wer gestern ums Leben gekommen ist?“ Hastings konnte nur mit dem Kopf schütteln. „Martha Butt.“
„Martha? Hat Jimmy...“
„Nein, Mr. Hastings. Jimmy hat es nicht getan. Es war Martha. Hat zuerst ihn und dann sich selbst umgebracht. Mord und Selbstmord. Und erst vor wenigen Wochen ist dieser eine Mensch... Porter, ja, vor wenigen Wochen ist Porter uns entkommen und hat wie der Mensch damals vor dreihundert Jahren ein kleines Mädchen umgebracht.“
Hastings hielt sich die Ohren zu und schrie: „Nein! Hören Sie auf!“
Luther zwang Hastings, ihn anzusehen. „Das selbe Schema, ein Mensch entkommt und kurze Zeit später stirbt ein Engel auf unnatürliche Weise.“
Parker zerrte Luther weg und herrschte ihn an: „Hören Sie auf, Luther! Sie machen ihm Angst!“
Luther beruhigte sich. „Schon gut.“ Dann wandte er sich wieder Hastings zu und sagte zu ihm: „Es tut mir leid, Mr. Hastings. Es tut mir leid, ich habe die Beherrschung verloren.“
Hastings sah den Richter nicht an. Er weinte noch immer und sagte dann mit leiser Stimme: „Gehen Sie. Gehen Sie weg!“ Wortlos verließen der Sheriff und der Richter die Wohnung. Als sie wegwaren, öffnete Hastings das Fenster, um frische Luft in seine kleine Wohnung zu lassen. Plötzlich flog ein Eichenblatt durch das Zimmer. Dann noch eins, und noch eins. Der ganze Raum war mit Eichenblättern gefüllt, die wild um Hastings herumtanzten, wie von unsichtbarer Hand geführt. Und dann hörte er die Worte. Bildete er sich das ein? Er schrie stumm, als sich aus den unzähligen Blättern ein Gesicht formte und ihm zuflüsterte: „Verräter!“
Luther und Parker waren ungefähr zweihundert Meter von Hastings Wohnung entfernt, als diese plötzlich mit einem gewaltigen Knall explodierte.

„Alles in Ordnung?“ fragte Parker besorgt. Sie waren von der Druckwelle in die Luft geschleudert worden. Parker hatte sich abfangen können, doch der Richter stieß unsanft auf den Boden.
„Ja, danke, alles okay.“ brachte Luther mühsam hervor.
„Bleiben Sie liegen!“ sagte Parker.
Luther nickte und verlor dann das Bewußtsein. Zuvor hatte er diesen einen Gedanken: Das kann kein Zufall gewesen sein!

Als Luther wieder zu sich kam, befand er sich in der Klinik. Doc Jennings beugte sich über ihn. „Das wird schon wieder. Ein paar blaue Flecken, mehr nicht. Ach, Sie haben Besuch.“ Luther hob den Kopf und sah Parker. Der bedankte sich bei Jennings. Der Doc verließ das Zimmer.
Parker nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu Luther ans Bett. „Geht es Ihnen gut, Mr. Luther?“
„Nennen Sie mich John!“
Parker lächelte erfreut. „Okay John, ich bin Cole.“
Luther gab Parker die Hand. „Cole, das war kein Zufall. Da steckt mehr dahinter. Wir müssen noch einmal in die Bibliothek!“
Cole nickte. „Ich habe das Haus mit Hastings Wohnung absichern lassen. Da wird erst einmal keiner ohne meine Genehmigung reinkönnen. Und du ruhst Dich aus. Ich werde in die Bibliothek gehen. Schätze, ich soll die Chroniken besorgen, oder?“
John nickte. „Ja, danke!“ Dann lachte er laut.
Cole sah ihn erstaunt an. „Was?“
„Was glaubst du, was die Leute denken werden? Wir duzen uns, verstehen uns gut.“
„John! Wenn das hier alles vorbei ist, werden wir uns besinnungslos besaufen und jeden hübschen weiblichen Engel hier in Tikowa anmachen. Was meinst Du? Ist das noch innerhalb des Gesetzes?“
„Du bist hier der Sheriff!“
„Eben!“ Cole stand auf und wollte das Zimmer verlassen.
„Cole!“
„Ja?“
„Sei vorsichtig, das Ganze scheint größer zu sein, als ich dachte.“
Cole nickte noch einmal und verließ den Raum.

Vor der Klinik blieb Cole stehen. Ein Eichenblatt fiel vor ihm zu Boden. Verwundert hob Cole das Blatt auf. Eiche? In Tikowa gibt es keine Eichen. Er sah sich um. Ihm war kalt. Er sah die anderen Engel. Bemerkten Sie das nicht? Er vergrub seine Hände in die Taschen und ging zur Bibliothek.

Als er vor dem Eingang stand, betrachtete er die Säulen. Er mußte zugeben, daß sie wunderschön aussahen, mit all den Reliefs und Fresken. Ihn hatte so etwas vorher noch nie interessiert. Cole betrat die Bibliothek. Sie hatten das Buch auf dem Tisch zurückgelassen. Cole nahm das Buch und wollte die Bibliothek verlassen, als er plötzlich ein Geräusch hörte. „Hallo?“ sagte er mit lauter Stimme. Er ging zum Lichtschalter und betätigte ihn. Nichts geschah. Verdammte Elektrizität, dachte Cole. Noch einmal rief er in die große dunkle Halle. „Hallo?“ Er runzelte die Stirn. Einbildung! Ja, es mußte wohl Einbildung sein. Oder hatte er Angst? Konnten Engel Angst bekommen? Schnell wischte er diesen Gedanken aus seinem Gedächnis. Er ging zur Tür. Plötzlich blieb er stehen. Vor ihm lag ein Eichenblatt. Was soll das? Und dann fielen tausende Eichenblätter von der Kuppel der Halle hinunter. Sie begannen sich um Cole zu bewegen. Und dann sah Cole es. Die Blätter bildeten ein Gesicht. Nein, das kann nicht sein, dachte Cole. Er nahm all seinen Mut zusammen und sprang durch den Blätterwirbel, der sich um ihn herum gebildet hatte. Vor sich sah er den Ausgang. Nur noch wenige Meter, komm schon! Als er die Tür öffnete, glaubte er eine Stimme zu hören, die ihm zuflüsterte: „Du wirst sterben!“. Cole drehte sich um. Stille umgab ihn. Keine Eichenblätter, keine Stimme, keine merkwürdigen Geräusche. Hastig verließ er die Bibliothek. Als er draußen war, stellte er fest, daß es noch kälter geworden war. Die Sonne ging unter. Als er unterwegs zur Klinik war, bemerkte er, daß ihn die anderen Engel mit ihren Blicken verfolgten. John!

Eine Schwester weckte John unsanft aus seinem Schlaf. „Ein neuer Gräber ist angekommen, Richter!“ sagte sie mit freundlicher Stimme.
John war noch etwas benommen. „Kann das nicht noch zwei Tage warten? Benutzt die Drogen!“ sagte er zu der Schwester.
Diese lächelte ihn an. „Nein, das kann es nicht!“ Dann schob sie John aus dem Zimmer.
John begann sich zu ärgern. „Was soll das? He?“ Er bekam keine Antwort. Er versuchte, sich aufzusetzen. Es gelang nicht. Er war an Händen und Füßen an das Bett gefesselt worden. „Was haben Sie mit mir vor?“ Statt einer Antwort bekam er von der Schwester einen Schlag ins Gesicht. Was geschieht hier mit mir? Und dann sah er es. Sie war kein Engel. Sie hatte sich mit ihrem Schlag in sein Gesicht verraten. Für einen winzigen Moment konnte er ihr wahres Gesicht erkennen. „Sie sind kein Engel!“
Die Schwester sah ihn an. „Ja Mr. Luther. In der Tat, das bin ich nicht.“
„Was haben Sie mit mir vor?“
„Ich werde Sie nach unten bringen. Ganz weit nach unten!“ Sie schob ihn in einen Fahrstuhl. Dann verzerrte sich ihr Gesicht und zum Vorschein kam eine Fratze, direkt aus der Hölle.
John geriet in Panik. „Hilfe!“ schrie er, unfähig, sich zu bewegen. Sie fuhren langsam nach unten. Plötzlich stoppte der Fahrstuhl. Die Tür öffnete sich und ein Schuß fiel. John hatte die Augen geschlossen. Dann hörte er eine bekannte Stimme. „Alles in Ordnung, John! Ich bin es, Cole.“ Er öffnete seine Augen. Von der höllischen Kreatur war außer einem kleinen Häufchen Asche nichts mehr übrig. Cole befreite John von den Fesseln. „Cole?“
„Ruhig John! Erst einmal schaffen wir dich hier raus!“ Cole nahm John unter die Arme und schleppte ihn zu seiner Wohnung.

Cole Parker war seit dreißig Jahren Sheriff in Tikowa, irgendwo zwischen Wahnsinn und Wirklichkeit. Nicht, daß es diesen Ort richtig beschreiben würde, aber für einen Menschen war es einfach die beste Erklärung, die ein Engel ihm bieten konnte. Er hatte nicht die Wohnung oberhalb des Büros des Sheriffs genommen. Einige Jahre hatte er im Hotel gelebt und jede Minute seiner freien Zeit für den Bau seines kleinen Hauses geopfert. Manchmal hatte sich Parker gefragt, ob es die Sache wert sei. Zu oft hatte er die sogenannten Grubennächte mitgemacht. Hatte mit angesehen, wie über die Menschen, die hier herkamen, gerichtet wurde. Ihm war aufgefallen, daß vielen Engeln in Tikowa die Belange der Menschen gleichgültig waren. Dabei war es doch ihre Aufgabe, die Menschen vor der Gleichgültigkeit zu bewahren...

Cole legte John auf sein Bett. „Okay, du bist jetzt bei mir.“ Er legte die Chroniken auf einen kleinen Tisch. Dann sah er aus dem Fenster. Es begann zu schneien. Cole wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Können Engel weinen? Zwischen die dicken Schneeflocken mischten sich vereinzelt Eichenblätter, die sich in ihrer Dunkelheit brutal von dem Weiß der Flocken unterschieden. Er schloß seine Augen. Was, wenn es hier enden würde? In Tikowa? Alles? Er sah zu John, der wieder eingeschlafen war. Seltsam, dachte Cole, offenbar ist es nicht einmal ihm aufgefallen, wie kalt es geworden ist... Cole begann, die Chroniken zu lesen. Was hatte Hastings gesagt? Ein Grä... ein Mensch war zuvor entkommen, und das hatte Woodrow so zugesetzt. Er blätterte in dem dicken Buch. Dann hatte er den Eintrag von Hastings gefunden.

Routine. Ich betrachte es nur noch als Routine. Zwischen der Trostlosigkeit hier in Tikowa schiebt sich in unregelmäßigen Abständen ein Mensch, ein Gräber, den es zu verurteilen gilt. Es war der
17. März 1704. Ein Neuankömmling kam nach Tikowa, ohne zu wissen wie und warum. Wie immer sollte es in der Grube enden. Doch Richter Anksmith war aufgrund seiner langen Tätigkeit offenbar unachtsam geworden. Anstatt den Gräber sofort zu töten, ließ sich Anksmith von der jubelnden Menge feiern. Diesen Moment, als Anksmith für einen winzigen Augenblick von dem Gräber abließ, diesen kurzen Moment nutzte der Gräber, um zu fliehen. Eine Tragödie. Der Gräber entkam. Man konnte nicht verhindern, daß der Gräber dieses unschuldige Mädchen grausam ermordete. Einige hier in Tikowa waren für die Ablösung des Richters. Besonders Tim Woodrow setzte sich dafür ein. Ich verstehe ihn. Tim ist ein guter Engel. Als Newman Porter entkam, brach für Tim eine Welt zusammen...

Cole warf das Buch weg. Nein! Das konnte nicht sein! Er weckte John. Dieser war leicht verärgert, daß man ihm aus seinen Schlaf riß. „John?“
„Was?“
„John, Porter war schon einmal hier!“
„Porter?“
„Ja! Und so wie vor einigen Wochen ist er auch damals entkommen und hat gemordet!“
John stieg aus dem Bett und ging zum Fenster. „Newman Porter.“ sagte er und sah nach draußen. „Cole? Ist dir schon aufgefallen, daß es schneit? Im August?“
Cole stellte sich neben John ans Fenster. „Ja. Aber es ist nicht der Schnee, nicht die Kälte, die mir Angst macht. Es sind die Blätter.“ Er deutete auf ein Eichenblatt, welches vor ihnen zu Boden schwebte.
„Soviel ich weiß, gibt es hier keine Eichen.“ sagte John.
„Da hast du Recht. Es gibt hier in Tikowa keine Eichen.“ Er sah John an. „Wie auch immer die Sache enden wird, wir werden verlieren!“
„Das denkst du?“
„Ja, seit Martha ihrem Jimmy den Kopf weggeschossen hat.“ Cole hatte erwartet, daß der Richter etwas sagen würde.
Ohne irgendeinen zynischen Spruch voller Sarkasmus von sich zu geben, sah John nur aus dem Fenster. Er sah den Eichenblättern zu, wie sie zu Boden fielen und sich in Asche verwandelten. „Newman Porter war also schon einmal hier.“ flüsterte er. Dann sagten sie nichts mehr, sahen aus dem Fenster, wo immer mehr Eichenblätter den Himmel verdunkelten.

Am nächsten Morgen waren sie auf dem Weg zum Haus, in dem die Explosion stattfand. Auf ihrem Weg dorthin unterhielten sie sich. „Die Frage ist doch, warum Anksmith nicht schon damals abgelöst wurde?“ fragte Luther den Sheriff.
„Ich halte das im Moment nicht für so wichtig. Vielmehr beschäftigt mich dieser Newman Porter. War es wirklich derselbe Mann?“
„Ich denke schon. Gleicher Name, die gleiche Tat. Aber um sicherzugehen, werde ich ein paar Akten anfordern. Bis die hier sind, kann es allerdings einige Zeit... Was ist denn hier los?“
Sie waren am Haus angekommen. Die Leute von Sheriff Parker standen hilflos herum. Parker schnappte sich einen seiner Leute. „Williams, können Sie mir vielleicht mal erklären, was passiert ist?“
Der junge Polizist zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid Sheriff, sie waren plötzlich da und haben den Fall übernommen.“ Parker sah sich um. Überall waren Männer in langen schwarzen Mänteln, die das Haus und die Überreste von Hastings Wohnung untersuchten.
Einer der Männer kam auf Luther und Parker zu. Er war gut einen Kopf größer als die beiden und man konnte anhand seines Gesichtsausdruckes erkennen, was er davon hielt, in Tikowa zu sein. „Richter Luther? Sheriff Parker?“ Die beiden nickten. „Ich bin Special Agent Will Hunter. Ich leite die Untersuchung. Ich schlage vor, daß wir zu Ihnen ins Büro fahren, Mr. Parker. Es ist verdammt kalt. Irgendwelche Einwände? Nein? Also gut, fahren wir.“ Während die drei das Gelände verließen, suchten die anderen weiter.
Während Hunter mit ihnen sprach, hatte Parker die Situation beobachtet. Die wußten ganz genau, wonach sie suchen mußten.

Sie saßen im Büro. Luther hatte sich auf einen Stuhl gesetzt. Parker blieb stehen. Hunter wollte gerade etwas sagen, als das Telefon klingelte. Parker nahm den Hörer ab. „Parker? Ja, ist er...“ Er sah zu Hunter. „Für Sie.“
Hunter nahm den Hörer. „Special Agent Hunter. Einen Moment.“ Er wandte sich an Luther und Parker. „Würden Sie bitte draußen warten!“ Sie verließen den Raum.

„Ein Arschloch!“ sagte Parker.
Luther pflichtete ihm bei. „Ja. Und wer verdammt sind die? Kommt dir das nicht merkwürdig vor?“
„Und ob.“
„Cole, das stinkt!“
„Sehr gewaltig sogar!“ sagte Parker. „Wir müssen vorsichtig sein, ich traue denen kein bißchen.“ Hunter telefonierte noch. „Glaubst du, daß die direkt von IHM kommen?“
„Du meinst die alberne Sache mit der Leibgarde? Komm schon, Cole. Die gibt es nicht!“ Es klopfte an der Scheibe. Hunter winkte die beiden zu sich herein.

„Setzen Sie sich bitte, Mr. Parker!“ sagte Hunter zu dem Sheriff. „Danke.“
Luther räusperte sich. „Jetzt sagen Sie uns endlich, was Sie hier wollen, Mr. Hunter!“
Hunter lächelte und sagte dann zu Luther: „Ich stelle die Fragen, Mr. Luther!“ Er zog seinen Mantel aus. „Wir sind direkt von IHM beauftragt worden, die momentanen Zustände in Tikowa zu untersuchen. Es geschieht nicht oft, daß binnen weniger Tage drei Engel unter äußerst merkwürdigen Umständen ihr Leben verlieren. Der Chef mag solche Vorfälle nicht. Er meint, es könnte das Gleichgewicht stören.“
Cole unterbrach Hunter. „Sind Sie von SEINER Leibgarde?“
„Nein, Mr. Parker, es gibt keine Leibgarde. Seit fünfzig Jahren nicht mehr. Auch wir da oben gehen mit der Zeit. Aber wenn Sie wollen, kann man unsere Einheit durchaus als eine Art ‚Leibgarde‘ betrachten.“ Er sah Cole an. „Kann ich jetzt weitermachen?“ Cole nickte. „Vielen Dank! Ich muß zugeben, daß ich Sie beide unterschätzt habe. Vielmehr hat ER Sie unterschätzt. Wir hatten nicht geglaubt, daß Sie tatsächlich den Fall Butt aufklären wollten.“
John sagte: „Es war ein Mord. Sie hat Jimmy Butt erschossen... Und anschließend sich selbst. Natürlich sind wir interessiert, die Umstände aufzudecken.“
Hunter strich sich durch sein langes Haar. „Wissen Sie, pro Jahr sterben etwa acht bis zehn Engel! Auf der anderen Seite liegt die Rate nur unwesentlich höher. Daher fällt es schon auf, wenn innerhalb kürzester Zeit drei Engel sterben. Ich werde Ihnen jetzt sagen, was wir bisher wissen. Wir wissen vom Tod Martha und Jimmy Butt, wissen vom Tod Hastings. Wir wissen auch von dem Mordanschlag in der Klinik auf Sie, Mr. Luther. Was wir nicht wissen, ist, was genau sich in der Klinik abgespielt hat. Mr. Luther?“
„Ich glaube, daß sich einer von der anderen Seite als Krankenschwester ausgegeben hatte, um mich zu beseitigen. Zum Glück konnte John... Sheriff Parker das verhindern.“
„Und Sie finden das nicht seltsam? Hm?“
„Doch, ich denke schon.“
„Mr. Luther, ist Ihnen kalt?“
„Was?“
„Ist Ihnen nicht aufgefallen, wie kalt es hier in Tikowa ist, um diese Jahreszeit?“ Hunter hatte sich zu Luther herabgebeugt. „Ist Ihnen kalt, Mr. Luther?“ Luther sah zu Cole. „Mr. Parker wird Ihnen nicht helfen können. Nicht dieses Mal!“ Hunter sprang zu Parker und versetzte ihm einen Schlag ins Gesicht. Luther versuchte aufzustehen, aber es gelang ihm nicht. Parker fiel vom Stuhl und blieb regungslos liegen.
Luther sah zu Hunter. „Sie kommen nicht von IHM, oder?“
Hunter lachte laut. „Da haben Sie recht, Mr. Luther. Nicht von IHM. Ich komme von ganz unten.“ Er zog eine Pistole und befestigte einen Schalldämpfer an daran. „Das Dumme an Euch Engeln ist, daß Ihr so schwer zu töten seid. Das einzige, was Euch umbringt, ist ein gezielter Kopfschuß.“
„Was ist mit Hastings?“
„Die Explosion? Das war Show!“ Er richtete die Waffe auf Luther. „Dich Engel muß es doch ankotzen, oder? Warum erwischt es Dich, und nicht diesen Menschen?“
„Sie meinen Newman Porter?“
„Ja genau, Newman Porter. Und jetzt verabschiede Dich von Tikowa!“ Er hielt Luther die Waffe an den Kopf.
Luther schloß seine Augen. Dann fiel ein Schuß. Seltsam. Ich habe gar nichts gefühlt. Luther hatte seine Augen noch immer geschlossen. Eine Stimme sprach zu ihm. „John? Jetzt hab ich Dir schon zum zweiten Mal das Leben gerettet.“

„Er hätte mich besser umbringen sollen, anstatt mir ins Gesicht zu schlagen.“ Cole sah zu dem Haufen Asche, der vor wenigen Minuten noch Special Agent Hunter gewesen war.
John umarmte Cole. „Danke!“
Cole lächelte. „Schon gut, John. Immerhin bin ich der Sheriff hier, oder?“
„Ja.“
„John, ich muß dich trotzdem etwas fragen.“
„Nur zu.“
„Ist es Dir nicht aufgefallen? Die plötzliche Kälte?“
Luther stand auf. „Doch, das ist es.“ Er sah Cole an. „Es ist eine beschissene Kälte. Ich friere! Nur habe ich es mir nicht anmerken lassen. Cole, Du kannst beruhigt sein, ich bin ein Engel! Wie Du!“
Cole nickte. Sie standen im Büro. Cole sagte zu John: „Es ist Zeit, sich diesen Newman Porter mal anzuschauen!“
John nickte. „Ja, das machst Du! Ich werde inzwischen versuchen, mehr über meinen Vorgänger herauszufinden. Anksmith.“

Sie verließen das Gebäude. Fast die ganze Straße war von Eichenblättern übersät. „Ist Dir aufgefallen, daß es außer uns beiden keinen interessiert, daß hier Blätter von Bäumen liegen, die es hier nicht gibt?“ fragte John.
„Wir dürfen keinem mehr trauen. Bevor ich mich um Porter kümmere, gehe ich noch einmal zu Hastings Haus. Vielleicht sind die Typen immer noch da!“
„Sei vorsichtig!“
„Du auch!“
Mittlerweile war es kurz vor Mitternacht. In weiter Ferne kündigte sich ein Gewitter an. Cole blieb stehen und drehte sich zu John um, der zielstrebig zur Bibliothek ging. Er dachte nach. John will zu Bibliothek. Was, wenn ihn dort Gleiches wie mir erwarten würde? Er entschloss sich, dem Richter zu folgen.

In der Dunkelheit sah die Bibliothek noch unheimlicher aus, als sie es trotz ihres wunderschönen Baustils ohnehin schon war. John wollte gerade die Tür öffnen, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Blitzschnell drehte er sich um, bereit den anderen zu Boden zu reißen.
„Ruhig John, ich bin es nur.“
„Cole? Wolltest Du nicht zum Haus?“
„Hm, ich denke, wir sollten uns zum gegenwärtigen Zeitpunkt den Rücken decken. Hier, nimm die!“ Er gab John eine Waffe.
„Nein, ich...“
„Du nimmst sie. Anordnung des Sheriffs. Und jetzt laß uns in die Bibliothek gehen!“ Cole öffnete die Tür.
John folgte ihm. Er kämpfte noch immer mit dem unbehaglichen Gefühl, eine Waffe in der Hand zu haben, als er bemerkte, daß Cole plötzlich stehengeblieben war und mit versteinertem Gesicht in die große Halle sah. „Was ist denn los?“ Dann sah auch John es. Vor ihnen hatte sich eine scheinbar lebendige Wand aus Eichenblättern aufgebaut.
Auf der Wand, so glaubte es Cole zumindest, waren Gesichter abgebildet, die sie klagend ansahen. Ihre Münder öffneten sich, aber kein Schrei war zu hören, stattdessen nur ein unheimliche Stöhnen. „Das sind die Gesichter von Martha, von Jimmy und von Hastings.“ schrie Cole zu John.
Der brüllte zurück: „Ja, und das von Tim Woodrow! Wir müssen da durch! Zum Archiv!“
„Die Arme schützend vor das Gesicht, klar!“ schrie Cole zurück. Dann nahmen beide einen gewaltigen Anlauf und sprangen durch die Blätterwand. Sie landeten unsanft auf dem harten Marmorboden. Die Wand war weg, nur noch ihr keuchender Atem war zu hören.
„Das war keine Illusion! Ich habe die Blätter gespürt!“ sagte John.
„Ja, jemand versucht uns mit allen Mitteln aufzuhalten.“
John blickte grimmig zum Archiv. „Noch bin ich nicht bereit, mich von irgendjemandem oder irgendetwas aufhalten zu lassen!“ Sie gingen zum Archiv. „Wir fangen mit den Personenregistern an.“ sagte John. Sie suchten das entsprechende Regal. Als sie es gefunden hatten, holte Cole eine staubige Kiste vom Regal hinunter und stellte sie auf den Boden. John kniete sich hin und öffnete die Kiste. Sie fanden ein kleines Buch.
„Nicht gerade viel.“ sagte Cole etwas enttäuscht.
„Abwarten.“ John blätterte in dem Buch. „Hör Dir das an!“ Dann las er laut vor.

Gandalf Anksmith trat seinen Posten als Richter in Tikowa am 3. Oktober 1687 an. Insgesamt vollstreckte er 527 Angeklagte bei 528 Anschuldigungen. Anksmith genoß hohe Anerkennung unter der Bevölkerung von Tikowa. Wenige stellten ihn in Frage. Richter Anksmith war und ist ein guter Richter. Alle hoffen, daß er noch lange in Tikowa bleiben wird. 23. Juni 1954. H.

„H? Hastings?“
John nickte. „Ja, denke schon. Nach dem Datum der Niederschrift kann es nur von Hastings stammen. 1954. In diesem Jahr wurde die Bibliothek geschlossen.“
„Er hat geschrieben, Anksmith wurde nur von wenigen nicht anerkannt.“
„Woodrow war einer von denen. Und ich denke, Hastings hat auch gezweifelt. Und Martha... und Jimmy.“
„Mußten sie dafür sterben? Weil sie gezweifelt haben?“
„Ich glaube, daß Richter Anksmith Teil eines Puzzles ist, das noch zu lösen ist.“ John stand auf.
„Was jetzt?“ fragte Cole.
John schüttelte mit dem Kopf. „Uns fehlt ein wichtiges Detail. Wir wissen immer noch nicht, an wen genau die Worte ‚Du bist schuld‘ gerichtet waren. Es kann nicht das sein, wonach es aussieht.“
„Ob Sie Anksmith gemeint haben?“
„Martha hat sich und Jimmy umgebracht, als Anksmith längst weg und ich schon da war. Da muß mehr dahinterstecken. Irgendeine Idee?“
Cole wußte auch nicht mehr weiter, sagte dann aber: „Vielleicht wäre es an der Zeit, sich Hastings Wohnung genauer anzuschauen, zumindest das, was noch von ihr übrig ist.“ Sie verließen das Archiv. Eigentlich hatten sie erwartet, in der großen Halle mit einer neuen unangenehmen Überraschung konfrontiert zu werden. Nur ein einziges Eichenblatt landete vor ihren Füßen. Aber dieses Blatt unterschied sich von den anderen. Es war nicht so dunkel, auch nicht so welk. Luther hob es auf. Er schrie auf und ließ das Blatt fallen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ging er auf die Knie. Cole hielt ihn fest. „Was ist passiert?“
„Ich habe es gesehen, Cole!“
„Was hast Du gesehen? Eine Vision?“
„Es war so real, als ob ich dort gewesen wäre.“
„Wo?“
„Bei den Menschen, Cole. Bei den Menschen.“

Als er das Blatt aufhob, umgab ihn plötzlich eine gewaltige Leere. Er hörte Millionen von Stimmen in seinem Kopf. Und nach und nach begann sich die Leere mit unzähligen Bildern zu füllen. Langsam begriff John, was mit ihm geschah. Er war in den Menschen. An tausenden von Orten gleichzeitig. Er sah durch ihre Augen, was sich jenseits von Tikowa und den anderen Städten der Engel tat. Er sah, wie sich die Menschen gegenseitig töteten, wie Länder sich bekriegten, das ganze Leid der Menschenwelt wurde ihm in wenigen Augenblicken bewußt. Er begann zu schreien. Dann war es vorbei.

Cole half John aufzustehen. „Wahnsinn!“ Das war alles, was Cole zu sagen vermochte.
John war noch etwas benommen. „Alles hat 1704 angefangen, Cole. Der Tag, als Newman Porter das erste Mal entkam. Da wir ihn nicht aufhalten konnten, hat Porter die Welt mit dem Virus der Zerstörung infiziert.“
„Aber sie haben sich schon vor 1704 bekämpft. Andere unterjocht, ermordet.“
„Ja, das stimmt. Nur haben wir sie bis zu diesem Zeitpunkt gelenkt. ER lenkte alles. Doch als Porter entkam, begannen die Menschen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Das muß es sein! Das haben Woodrow, Martha und Hastings erkannt. Und dafür gaben sie IHM die Schuld. Cole, auf einmal wird mir alles klar!“
Cole faßte sich an den Kopf. Er wollte nicht so recht daran glauben, daß ER da oben irgendwie an der ganzen Scheiße schuld sein sollte. „Aber was ist mit der Krankenschwester, mit Hunter?“
„Sie waren von der anderen Seite. Glaub mir, die wollten nicht, daß wir das jemals herausfinden.“
„Aber warum?“
„Denk doch mal nach, Cole. Was passiert denn, wenn ER die Fäden wieder in die Hand nimmt? Die würden alles tun, um das zu verhindern.“
Cole hatte sich auf einen Stuhl gesetzt. „Und warum hat ER nichts unternommen?“
„Das weiß ich nicht, niemand weiß das. Vielleicht sind IHM die Menschen gleichgültig geworden und ER hat sie gewähren lassen.“
„Man, ich hab ein Scheißgefühl bei der Sache, John. Du sagst, alles hätte mit Porter angefangen. 1704. Ich verstehe immer noch nicht so ganz, was Anksmith dann damit zu tun hatte, außer, daß er Porter zweimal entkommen ließ.“
„Genau das ist es. Er hat Porter zweimal entkommen lassen. Das macht ihn mitschuldig. Nun...“ John holte tief Luft. „Letzten Endes hat Anksmith für sein Versagen bezahlen müssen, mit dem Tod.“ Beide schwiegen.
„Was ist mit den Blättern?“
„Ich vermute, daß sie irgendetwas symbolisieren, das Böse vielleicht. Ich weiß es nicht.“
„John, da sind so viele Fragen offen!“
„Ja, in der Tat.“ Die beiden verließen mit einem unangenehmen Gefühl die Bibliothek.

Draußen war es schon wieder hell geworden. Cole gähnte. „Ich hab seit Stunden nicht mehr geschlafen. Ich kann nicht mehr.“
„Geh nach Hause, Cole. Ich denke nicht, daß jetzt noch was geschehen wird. Wir wissen, was passiert ist. Aufhalten können wir es nicht mehr.“
Cole nickte. Ja, es war wohl zu spät, seit dreihundert Jahren. „Und Du?“
„Ich geh zu Hastings Wohnung. Neugier.“
„Hm, sieh zu, daß Du bald ins Bett kommst, Du siehst Scheiße aus!“
„Du mich auch!“ Sie gaben sich die Hand. Cole ging nach Hause.
John blickte sich um, nirgends waren Engel zu sehen. Dann ging auch er.

Als John an dem Haus angekommen war, in dem Hastings Wohnung explodiert war, war weit und breit nichts von Hunters Männern zu sehen. Wahrscheinlich waren sie verschwunden, als Hunter starb. Überall lagen noch Trümmerteile herum. John stocherte in den Teilen herum. Vermutlich hatten die längst gefunden, wonach er... und dann sah er es. Ein kleines Stück Papier. Er hob es auf und er konnte die Handschrift Hastings erkennen. ‚Du bist schuld‘ stand auf dem Papier. Wie ich es mir gedacht hatte. Auch Hastings hatte verstanden, und dafür war er gestorben.
„Richter?“ sagte eine Stimme hinter ihm.
John drehte sich um und sah den kleinen Jungen. „Rufus?“
„Ja Sir, Richter.“
„Was machst Du hier?“
„Glauben Sie wirklich, daß es vorbei ist?“
„Was sagst Du da?“
„Glauben Sie wirklich, daß man das nicht verhindern könnte?“ John packte den Jungen am Arm. „Rufus! Was nicht verhindern?“
„Na, irgendwie alles. Die Flucht von Porter damals, 1704. Wenn man ihn damals aufgehalten hätte, dann wäre das alles nicht passiert. Waren Sie schon mal außerhalb von Tikowa?“
„Rufus!“ Doch Rufus war weg. John kniete vor einem leeren Mülleimer. „Rufus?“ Keine Antwort. „Rufus!?“ Es war sinnlos. John begann nachzudenken. Wenn es noch nicht vorbei war. Wenn man es verhindern könnte. Waren Sie schon mal außerhalb von Tikowa. Ist es das? Kann es das sein?

John hämmerte an die Tür von Parkers Wohnung. „Cole!“ Er erhielt keine Antwort. „Cole! Mach die Tür auf!“ Nichts. John nahm Anlauf und krachte mit einem lauten Knall durch die Tür. Er sah eine dunkle Gestalt auf dem Sheriff sitzen. „Cole!“ schrie John und riß die Gestalt von ihm herunter. Es war kein Engel. Das konnte John in den Augen erkennen, die voller Haß waren. Die Gestalt drohte die Oberhand zu gewinnen und begann John zu würgen. Mit letzter Kraft zog John die Waffe, die er von Cole bekommen hatte und schoß der Gestalt in den Kopf. Dann war es vorbei. Vor John lag ein Haufen Asche. Es ist noch nicht vorbei, dachte John. Cole! Er schüttelte den Sheriff. „Cole! Cole, Du kannst nicht tot sein! Du kannst es nicht! Engel können nur sterben, wenn man ihnen...“ Er schrie auf. Er sah das Blut an Coles Schläfe. Er drehte den Kopf zur Seite, sah das Einschußloch. Er war zu spät gekommen. Verzweifelt hielt John Cole in seinen Armen und begann zu weinen. Das kann es doch nicht sein! Er sah nach oben. Es mußte aus ihm heraus. „Du bist schuld, Du elender Bastard!“ Waren Sie schon mal außerhalb von Tikowa? John legte seinen toten Freund auf das Bett. „Ich werde es versuchen, Cole. Wenn es gelingen sollte, werden wir uns nie begegnen, nichts von dem, was in den letzten Tagen passiert ist, wird geschehen. Ich werde es versuchen.“ Dann stand er auf und verließ Coles Wohnung. Es war noch kälter geworden. Plötzlich sah John die anderen Engel, die sich in den vergangenen Tagen so rar gemacht hatten. Er sah die Unmengen von Eichenblättern. „Seht Ihr denn nicht? Könnt Ihr es denn nicht sehen?“ schrie er ihnen zu. Die Engel sahen sich verunsichert an. Hatte der Richter den Verstand verloren? John ging Richtung Friedhof. Noch einmal drehte er sich um. „Wollt Ihr denn nicht sehen?“

Er war am Friedhof angelangt. Hunderte von Grabsteinen standen hier. Auf jedem Grabstein stand ein Name und das Jahr, in dem der Mensch getötet worden war. John begann fieberhaft zu suchen. 1704. Es muß irgendwo sein! Es begann zu schneien. „Nein!“ schrie John. „Nicht jetzt!“ Um den Friedhof herum hatte sich eine Wand aus Eichenblättern gebildet. Es begann zu donnern. Und dann sah John sie auf sich zukommen. Aus der Wand traten Gestalten in dunklen Mänteln. Die wissen, was ich vorhabe, dachte John. Die können mich nicht mehr aufhalten! Dann hatte er es endlich gefunden. Er stand vor einem alten Grabstein. Auf diesem stand: Willbur Luttie, 1704. John sah noch einmal zu denen, die von der anderen Seite kamen, um ihn aufzuhalten. Triumphierend brüllte er ihnen zu: „Ihr kommt zu spät, Ihr Mistkerle!“ Dann schloß er seine Augen und nahm all seine Kraft zusammen. Er berührte den Grabstein, und dann war John Luther verschwunden. Die Wand aus Eichenblättern brach in sich zusammen, Sonnenstrahlen erhellten Tikowa und für einen winzigen Moment bedauerte ER, was geschehen würde. Wie gesagt, nur für einen winzigen Moment. ER hatte Wichtigeres zu tun, hatte sich um SEINE Schöpfung zu kümmern. In Tikowa, irgendwo zwischen Wahnsinn und Wirklichkeit, gab Martha Butt ihrem Jimmy einen Kuß.

Er wachte auf und mußte sich übergeben. Wo war er? Dann fiel es ihm wieder ein. Er war mit diesem furchtbaren Kerl zusammengewesen. Gott, wie hieß er noch? Ja, Porter. Newman Porter. Willbur stand auf. Hatte er tatsächlich hier auf der Straße geschlafen? Er konnte sich schon vorstellen, was wohl Aretha zu ihm sagen würde. Luttie hörte plötzlich den Schrei. Es war der Schrei eines kleinen Mädchens. Was zur Hölle? Willbur ging die Straße entlang. Dann sah er ein Mädchen, das verzweifelt um Hilfe schrie. Porter? Es war Porter. Er war kurz davor, das Mädchen zu vergewaltigen. Das konnte Willbur nicht zulassen. Er ging dazwischen. Als er er geschafft hatte, das Mädchen vor unvorstellbarer Gewalt zu bewahren, indem er sie selbst angewendet hatte, rannte das Mädchen davon. Kurze Zeit später hörte er auch schon, wie die Polizisten sich ihm näherten. Vor ihm lag Porter. Und Willburs Hände waren voller Blut. Großer Gott, sie werden dich hängen, dachte er. Mit diesem Gedanken wurde er ohnmächtig.

Als er wieder zu sich kam, befand er sich in einer Grube, welche von Fackeln erleuchtet wurde. Wo war er? Ein Mann mit langen dunklen Gewand kam auf ihn zu. „Wer sind Sie?“ fragte Willbur den Mann. Anksmith lächelte Willbur an und tat seine Pflicht. In Tikowa schrieb man das Jahr 1704.

Dreihundert Jahre später überwachten Doc Jennings und Sheriff Parker die Beerdigung eines der sogenannten Gräber. Als es vorbei war, gingen sie. Parker blieb plötzlich an einem der Grabsteine stehen. Ein Eichenblatt lag auf dem Grabstein. Der Sheriff sah sich den Grabstein genauer an. Willbur Luttie stand darauf. 1704. Cole sah noch einmal zu dem Eichenblatt, aber es war weg. Hm, es gibt hier keine Eichen, dachte Parker. Er stand auf. Aus irgendeinem, ihm schwer verständlichen Grund, fing Sheriff Parker an zu weinen. Er hatte das Gefühl, Willbur Luttie etwas schuldig zu sein. „Ich weiß nicht warum... Aber ich danke dir.“ Cole drehte sich um und ging zu Doc Jennings, der am Ausgang des Friedhofes auf ihn wartete.

ENDE

copyright by Poncher (SV)

29.10.2000

[Beitrag editiert von: Poncher am 31.03.2002 um 18:57]

 

Ach so... noch etwas: Das ist sozusagen der Mittelteil der "Tikowa-Trilogie" ;)

Alles in sich abgeschlossene Geschichten mit ein paar Andeutungen.

Falls Interesse besteht:

Tikowa (Seltsam)
Engel in Tikowa
Sturm über Tikowa, 3474 A.D. (Fantasy)

Gruß,

Poncher

 

Ich kann mich da Morphins Worten nur anschließen. Hat mir gut gefallen.

 

Welcher Teufel hat dich nur geritten, die Geschichte zu posten, ohne sie vorher mit mir gründlich durchzugehen?? :D
Tja, nun bekommst du, was Du verdient hast: Eine meiner äußerst beliebten 150%igen Kritiken, 10 Seiten lang...
Aber keine Angst: Die schick ich per Email, will Dich ja nicht bloßstellen, hehehe... So ist es auch für mich weniger anstrengend, als die Geschichte mit Dir zusammen durchzugehen, weil ich mir Dein Gequengel nicht ständig anhören muß... :lol:

Ne, Spaß beiseite:
Die Geschichte ist spannend, typischer Poncher-Stil. Hat mich gefreut, den guten alten Cole Parker mal wieder zu treffen. Schön, daß er auch nach seinem Tode nicht nutzlos rumgammelt, sondern nochmal eine Aufgabe gefunden hat.
Die Dialoge sind größtenteils gut und größere Logikfehler konnte ich auch nicht sichten. Muß es mir aber nochmal durchlesen, da ich jetzt hauptsächlich auf Rechtschreibfehler - bis auf kleinere Tippfehler kaum was gefunden, Kompliment - Grammatik-, Zeichensetzungsfehler, Logikbrüche im Kleinen, also innerhalb eines Satzes oder Abschnittes, Wiederholungen usw. geachtet habe.
Danach werd ich mir mal den dritten Teil zu Gemüte führen, natürlich erst, wenn wir mit "Fleisch" durch sind...

Es liegt bestimmt an mir, aber den Schluß hab ich nicht kapiert. Woher weiß Luther auf einmal, was er zu tun hat? Intuition? Eingebung? Und wer zum Teufel ist Willbur Luttie? Und was genau macht Luther jetzt da, auf der anderen Seite? Ich raffs nicht, wie gesagt liegt es wahrscheinlich an mir und ich muß es mir einfach mal von Dir erklären lassen.

Haste fein gemacht. ;)

Sav

 

Hi Ponch!
hab doch gesagt: wenn ich was verspreche, dann halte ich es auch. Aber Dein Versprechen hast Du ja auch gehalten: es ist wirklich spannend.

Ich muß sagen: WOW! Du hast mich damit überzeugt, öfter mal einen Blick in Fantasy zu werfen. Erstmal werde ich allerdings die beiden anderen Tikowa-Teile verschlingen!! ich bin begeistert über so viel zusammenhängende Spannung und dichte Erzählung. Eine sehr gute Idee, klasse umgesetzt.
Ich konnte es ja nicht lassen, mit dem Bleistift zu lesen...
Ein paar Fehlerchen habe ich gefunden.
Du schreibst Deine "Du/Dein/Ihr/Sie.." nicht knosequent groß, vor bzw. nach Anreden in der wörtlichen Rede fehlen immer wieder die Kommata,... sowas.
Noch ein paar andere Dinge. Die gehe ich dann bald mal durch ( muß erstmal für meine Klausur morgen pauken :( ).
Z.B.in der 1. Szene: "und plötzlich, seit einer kleinen Ewigkeit" ... das muß doch heißen, zum 1. Mal seit, oder?
Logische Probleme habe ich (liegt evtl ja an mir ) damit, daß es gegen Ende mal heißt, der alte Richter sei tot, ich aber nicht weiß woher das stammt ( hab ich's übersehen? oder stammt das aus Teil 1 ?)
etwas verwirrend fand ich die Einführung er Vornamen. Ich würde es dem Leser leichter machen und die Namen vorher immer mal wieder komplett nennen. Damit man sich daran gewöhnt, welcher Mann welcher ist...
ach ja: und in der Chronik steht: der alte Richter ( interessanter Aspekt jemanden mit seinen Aufgaben einen Richter zu nennen !!! ), habe 527 Angeklagte bei 528 Anschuldigungen vollsteckt.
Muß das nicht heißen, er vollstreckte Anklagen? eine Person kann man nicht volstrecken - das heißt vielmehr die Durchsetzung einer Entscheidung oder eines Vorgangs.

und zum Ende: ich denke, für den Leser ist Luthers Entscheidung verständlicher, wenn Du tatsächlich erklärst, woher er die Idee hatte. Er könnte doch etwas in der Chronik gelesen haben, oder so? darüber, daß Willbur in der Nähe von Newman Porter gewesen war? oder sowas ? so war es ein wenig schwer nachvollziehbar..

so far, mail kommt dann, sobald mein Streß es zuläßt...

Lieben Gruß und sehr großes Lob,
Frauke

[Beitrag editiert von: arc en ciel am 01.04.2002 um 14:07]

 

Jep, ich schließe mich den anderen an, die Geschichte ist echt prima geworden. Die Story ist super ausgearbeitet, die Geschichte ist auch in sich abgeschlossen und nicht wie andere teilweise erst der Anfang... top!
Zu bemängeln hab ich nichts (wie denn auch...), aber ich wollte noch wissen woher du solche Komplexen Ideen bekommst...
Daniel

 

Ach ja, das viel mir noch auf:

Es liegt bestimmt an mir, aber den Schluß hab ich nicht kapiert. Woher weiß Luther auf einmal, was er zu tun hat? Intuition? Eingebung? Und wer zum Teufel ist Willbur Luttie? Und was genau macht Luther jetzt da, auf der anderen Seite? Ich raffs nicht, wie gesagt liegt es wahrscheinlich an mir und ich muß es mir einfach mal von Dir erklären lassen.
Also, Raven, ich bin zwar nicht Poncher, aber ich glaube ich kann die Frage trotzdem beantworten.

Luther reist zurück und verändert die Vergangenheit. Er nimmt die Identität dieses Willbur Luttie an, der zu diesem Zeitpunkt lebte, wird sozusagen zu ihm. Dann hindert er den Menschen, Newman Porter, daran, das Mädchen tatsächlich zu töten, und verhindert so die Ereignisse, die geschehen werden. Danach wird er dann von dem damaligen Richter umgebracht.

Kann das stimmen?

Daniel

 

Sauber erklärt! :thumbsup:

Zu bemängeln hab ich nichts (wie denn auch...), aber ich wollte noch wissen woher du solche Komplexen Ideen bekommst...
Ich hab ein Vierjahres-Abo von "Wirre Gedanken", läuft Ende Mai ab... Ne, Scherz! :sleep:

Naja, die Ideen sind manchmal plötzlich da und müssen verarbeitet werden, ob nun gut oder schlecht, das ist eine andere Frage. Daß es nun so lang und "komplex" geworden ist, liegt einfach daran, daß es mir sehr viel Spaß gemacht hat, meine Tikowa-Trilogie zu schreiben und ich offenbar zuviel Zeit hatte. :D

Gruß,

Poncher

 

@Wanderer
Jo, das hat mir Poncher auch schon erklärt. Zu den anderen Fragen meinte er, ich hätte zu wenig Fantasie :lol:
Gerade das Ende ist doch etwas wirr und einige Dinge sind für mich auch nach mehrmaligem Durchlesen nicht nachzuvollziehen.

Daß es nun so lang und "komplex" geworden ist, liegt einfach daran, daß [...] ich offenbar zuviel Zeit hatte.
Ja, da kanntest Du mich noch nicht! :D

:kuss:

 

Hallo Poncher,

wow, das nenne ich mal eine gelungene Geschichte. Dein Stil gefällt mir und die Idee ist super umgesetzt. Einziger Kritikpunkt von meiner Seite.

Eine Schwester weckte John unsanft aus seinem Schlaf. „Ein neuer Gräber ist angekommen, Richter!“ sagte sie mit freundlicher Stimme.
John war noch etwas benommen. „Kann das nicht noch zwei Tage warten? Benutzt die Drogen!“ sagte er zu der Schwester.
Diese lächelte ihn an. „Nein, das kann es nicht!“ Dann schob sie John aus dem Zimmer.
John begann sich zu ärgern. „Was soll das? He?“ Er bekam keine Antwort. Er versuchte, sich aufzusetzen. Es gelang nicht. Er war an Händen und Füßen an das Bett gefesselt worden. „Was haben Sie mit mir vor?“ Statt einer Antwort bekam er von der Schwester einen Schlag ins Gesicht. Was geschieht hier mit mir? Und dann sah er es. Sie war kein Engel. Sie hatte sich mit ihrem Schlag in sein Gesicht verraten. Für einen winzigen Moment konnte er ihr wahres Gesicht erkennen. „Sie sind kein Engel!“
Die Schwester sah ihn an. „Ja Mr. Luther. In der Tat, das bin ich nicht.“
„Was haben Sie mit mir vor?“
„Ich werde Sie nach unten bringen. Ganz weit nach unten!“ Sie schob ihn in einen Fahrstuhl. Dann verzerrte sich ihr Gesicht und zum Vorschein kam eine Fratze, direkt aus der Hölle.
John geriet in Panik. „Hilfe!“ schrie er, unfähig, sich zu bewegen. Sie fuhren langsam nach unten. Plötzlich stoppte der Fahrstuhl. Die Tür öffnete sich und ein Schuß fiel. John hatte die Augen geschlossen. Dann hörte er eine bekannte Stimme. „Alles in Ordnung, John! Ich bin es, Cole.“ Er öffnete seine Augen. Von der höllischen Kreatur war außer einem kleinen Häufchen Asche nichts mehr übrig. Cole befreite John von den Fesseln. „Cole?“
„Ruhig John! Erst einmal schaffen wir dich hier raus!“ Cole nahm John unter die Arme und schleppte ihn zu seiner Wohnung.

Hier geht mir das alles ein bisschen zu schnell, aber der Rest der Geschichte macht dieses Mankerl eigentlich wieder wett...

So, jetzt muss ich mir mal die anderen beiden Tikowa-Teile anschauen.

Danke für diese großartige Geschichte...

Grüße,
Heiko

 

Hallo Poncher/Sebastian,

Ich habe diesen Teil der Serie jetzt zuerst gelesen, weil der Erste nicht oben verlinkt war, aber macht ja nichts, hat trotzdem Spaß gemacht. Schön spannend, schön atmosphärisch, schön anders. Bitte mehr davon! :thumbsup:

Ich habe allerdings auch nicht verstanden, woher Luther jetzt wusste, warum ausgerechnet Willbur Luttie in der Nähe des Verbrechens war, das Porter begangen hat. Oder kommen nach Tikowa nur die Menschen/Verbrecher aus einer bestimmten Gegend der USA?

Ein bisschen platt fand ich manchmal die markigen Sprüche und die klischeehafte Männerfreundschaft zwischen dem Richter und dem Sherriff. In einem längeren Buch würde mich das vermutlich irgendwann nerven. Aber hier war einfach die Idee insgesamt sehr cool, also was soll's. ;)

Übrigens:
Als ich gerade die Kritiken gelesen habe und auf die PC-Uhr sah, war es genau 17:04. Hoffen wir, dass das nur Zufall war. :baddevil:

So, die anderen Geschichten lese ich dann als Nächstes, bin mal gespannt, wie die Vorgeschichte war!

Gruß,
Megries

 

Hallo Poncher,
Habe die Geschichte gerade gelesen (kurz vor Feierabend, wo die so schön ausgegraben wird) und muss sagen, dass ich sie ziemlich fragmentarisch finde. Die einzelnen Szenen erinnern mich an einzelne Fetzen, die nur von der Rahmenhandlung zusammengehalten werden. Ich bin irgendwann nicht mehr mitgekommen, habe die grobe Handlung aber noch mitbekommen :D
Vielleicht überarbeitest du den Text ja noch mal (sehe, dass der nicht ganz so frisch ist ;)) und glättest die Szenenübergänge ein bisschen. So musste ich mich nämlich zu Beginn fast jedes Absatzes neu orientieren, und das ist ein bisschen hinderlich beim Lesen.
Die Idee finde ich aber wirklich schön, wenn Megries die anderen Teile der Serie ausgräbt, werd ich die auch lesen. Anders weiß ich nicht genau, ob sie dann noch in meiner beschränkten weiblichen Aufmerksamkeitsspanne liegen. ;)

gruß
vita
:bounce:

 

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