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Tier
Er stieg aus dem Bus aus und sog die Luft des frühen Abends durch die Lippen. Tief in seiner Lunge pulsierte die dreckige,vergaste Luft des vorstädtischen Arbeiterviertels. Sauerstoff. Nahrung für das Feuer, das in ihm wütete. Es fraß sich durch seine Eingeweide. Zersetzte jeden Widerstand.
Er drehte sich einmal um sich selbst und betrachtet das Viertel. Zuhause. Er war angekommen.
Zügigen Schrittes durchquerte er die golden schimmernden Kopfsteinpflasterstraßen, die bald in völliger Dunkelheit vor ihm liegen würden. Er kannte sein Ziel.
Eine rotgestrichene Holztür zog ihn förmlich magisch an.
Er erkannte sie wieder.
Seine Stiefel klangen schwer auf der morschen hölzernen Veranda.
Er atmete aus. Einmal. Zweimal.
Plötzlich war er wieder Kind. Es erquickte ihn der Anblick einer rostigen Schaukel in dem Vorgarten und er wollte den Tauben hinterherrennen, die, als hätten sie seinen Gedanken ersonnen, in wilder Hast gen Himmel stoben.
Dennoch verharrte er in seiner Pose vor der verschrammten Tür.
Seine Finger fuhren zu dem Blumentopf auf dem halbverfallenen Fensterbrett. Er tastete nach dem kleinen Schlüsselchen am Boden des Übertopfes.
Ein Gurren.
Er sah hoch.
Eine Taube schaute ihn an und legte den Kopf dabei schief, als frage sie, was er vorhabe.
Der Mann und der Vogel starrten sich eine Weile direkt in die Augen..
Zwei Lebewesen. Keines von beiden zeigte ein Anzeichen von Annspannung. Sie standen beide einfach nur da.
Dann, als hätte er ihr ein geheimes Zeichen gegeben, breitete die Taube die Flügel aus und flatterte davon.
Er hatte mit dem Vogel eine Abmachung getroffen.
Er hatte nicht mit der Taube gesprochen, nein, wie man weiß sind derlei Unterhaltungen reine Hirngespinste. Und er war nicht verrückt.
Nein, der Mann hatte einfach nur eine Abmachung getroffen, eine derer, die selbst in unserer Zeit noch zwischen Mensch und Tier möglich sind.
Und als der Vogel davongeflogen war, war es, als hätte er alle Tauben der Stadt mitgerissen um sie an einen lichteren Ort zu führen. Ganz wie es abgemacht war.
Das Schlüsselchen klickte leise im Schloss. Der Mann drehte und die Tür ging auf.
Ohne ein Geräusch. Der Flur war mit einem Teppichboden ausgekleidet und ein Kleiderständer rechts der Tür lud den Eintretenden ein, Mantel und Hut abzulegen.
Er zog sich die Mütze vom Kopf. Die Jacke zog er sorgfältig aus, um sie nicht zu zerknittern und hängte sie und die Mütze auf einen Hacken des Kleiderständers.
Seine schweren Stiefel, die er an der Eingangstüre vom gröbsten Dreck gereinigt hatte zog er ebenso bedächtig aus und stellte sie parallel zueinander zu den anderen Schuhen.
Erst jetzt schloss er die Tür wieder.
Ein leises Lachen hallte durch das Innere des Hauses.
„Tom?“ Eine helle Frauenstimme drang durch das Haus.
„Ich dachte du kommst erst morgen wieder.“, Schritte auf dem dunklen Holzboden.
„Schön, dass du wieder da bist“, diese letzten Worte sprach sie mit solcher Liebe und Aufrichtigkeit, dass es dem Mann warm ums Herz wurde.
Ein breites Lächeln zog sich über ihr porzellanweißes Gesicht, eingerahmt in ebenholzfarbenes Haar, das ihre zarten Schultern umschmeichelte.
Ihre kleine Stupsnase zitterte und ihre Lippen bebten.
Das Lächeln und jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, als sie ihn erblickte.
Sie zitterte am ganzen Körper. „Wer sind Sie?“
Die Wärme im Herzen des Mannes war wieder dem Feuer gewichen. Es loderte auf. Und gleichzeitig war es, als spiele sich plötzlich alles mit Verzögerung ab.
Er nahm nun selbst Zehntelsekunden wahr, zumindest schien es ihm so. Und dann erkannte er das Beben und Zucken der Muskeln in dem vollkommen verstörten Gesicht der jungen Frau. Ihre Augen weiteten sich noch ein Stück weiter. Er wusste, dass er nicht mehr warten durfte.
Sie auch.
Mit einem Aufschrei des Entsetzens wirbelte die Frau herum und versuchte die Küche zu erreichen.
Er ließ sie gewähren.
Sie kreischte, stolperte und schlug hart am Boden auf.
Ohne Hast ging er ihr nach. Sie rutschte in der Küche über den Boden und zog sich an der Theke wieder hoch.
Er hatte sich bereits zwischen sie und die Küchentür geschoben. Seine Hände wanderten zu ihrem Hals.
Sie stieß ihn weg.
Er holte aus und ließ seine Hand auf ihr Gesicht treffen.
Sie schrie auf und ging erneut zu Boden. Er holte wieder aus. Diesmal mit der Faust.
Plötzlich bekam sie eine Pfanne oder einen Topf zu fassen. Es gab einen dumpfen Laut, als das Metall auf seinen Schädel traf.
Endlich.
Ein Knurren, aus dem tiefsten Inneren seines Körpers rollte durch seine Kehle. Das Knurren verwandelte sich in ein Schreien.
Es war nicht der Schrei eines Leidenden. Es war der Schrei des Triumphierenden. Und er schrie ihn, bis ihm die Stimme versagte.
Entsetzt starrte ihn die Frau an. So wie man ein Raubtier anstarrt, dessen nächsten Schritt man nicht vorhersehen kann.
Sie war wieder auf die Beine gelangt und lief zum Telefon an der Wand.
Mit zwei Schritten hatte er sie überholt und und schloss eine seiner Pranken um das Telefon. Mit ungeheurer Wucht riss er das Gerät aus der Wand, sodass Wandstückchen und Putz durch die ganze Küche rieselten.
Er drehte sich um und donnerte der Frau den Hörer ins Gesicht. Er hörte das Brechen ihres Wangenknochen und es gefiel ihm. Er genoss das Knacken ihres Gesichtes.
Süß schmeckte ihm die Brutalität mit der er ihr das Gesicht zertrümmerte.
Ein stumpfer Ausdruck lag dabei in seinen Zügen.
Ein Schluchzen. Sie weinte vor Schmerz.
Und ihre Tränen färbten sich rot, als sie über die blutige Masse liefen, die einmal ein so hübsches Gesicht gewesen war.
Langsam versagte ihm der Arm mit dem er immer noch auf sie einhieb.
Sie wimmerte.
Er schwitzte.
Der beißende Geruch des Animalischen vermischte sich mit der kupferartigen Note des Blutes, das in winzige Tropfen zerstoben die Luft erfüllte.
Einen Menschen zu Tode zu ringen ist eine sehr schwere Arbeit. So schwer, dass sie von keinem Menschen begangen werden kann. Nur von Tieren.
Der Mensch selbst hat sich dahingehend entwickelt, nicht mehr dazu in der Lage zu sein, er ist zu schwach für derlei Arbeiten.
Tiere streben danach den Lauf der Natur zu komplettieren. Sie fressen, schlafen, sterben, töten, pflanzen sich fort. Alles um einen großen Plan zu verwirklichen. Das Tier hinterfragt seine Handlungen nicht. Das unterscheidet es vom Menschen; es lebt. Natürlich.
Der Mensch ersetzt die Triebe. Und denkt er kann sie kontrollieren. Narr! Er kann nicht einmal sich selbst kontrollieren. Gefangener. Schmied des Schlosses, dass ihn kerkert.
Er versucht sich durch seine Werkzeuge zu retten. Technik macht nicht frei. Sie verglast das Gefängnis und macht es gleichzeitig dunkler. Und tiefer. Blick nach draußen, Mensch und sag mir ob du die Gitterstäbe noch erkennen kannst!
Nein, du hast dich eingekerkert und abgelenkt. Du erkennst dein Übel nicht. Niemals. Befreie dich selbst. Streif die Fesseln ab.
Er sehnt sich. Er will seine Flügel ausbreiten. Über Steppen brüllen. Den Mond anheulen.
Leben!
Denn letztlich ist der Mensch nur ein Tier. Ein Tier. Nur ein Tier.
Sie fanden ihn bald. Es war nicht schwer, er hatte sich immerhin nicht versteckt.
Sie legten ihm Handschellen an, doch er fühlte sich nicht mehr gefesselt. Sie steckten ihn in ein Gefängnis, doch er fühlte sich frei.
Jemand sagte ihm, er hole in raus. Er hatte nicht darum gebeten.
Nach Wochen führten sie ihn in einen Gerichtssaal, indem ein Mann neben ihm stand und allen Anwesenden von seinen Eltern erzählte. Wie schlecht es ihm ergangen war. Er wollte sich aber nicht erinnern. Der Mann erzählte allen von einer Krankheit, die er hatte. Dass er nicht Schuld war.
Und sie glaubte ihm.
Und sie steckten ihn wieder in ein Gefängnis. Diesmal fühlte er sich eingesperrt. Das Feuer kehrte zurück.
Der Mann aus dem Gerichtssaal kam ihn oft besuchen und erklärte ihm Dinge durch die Gitterstäbe. Er hörte nicht zu.
Sie schickten ihn in Räume mit anderen Menschen in denen er über sich redete. Sie gaben ihm Tabletten die er schluckte.
Dann durfte er das Gefängnis verlassen. Erst manchmal, dann immer öfters. Er ging viel spazieren und redete mit niemandem.
Irgendwann gaben sie ihm ein Papier und klopften ihm auf die Schulter. Und lobten sich selbst. Auf dem Papier stand „resozialisiert“.
Die Tür ging auf und sie sagten ihm er wäre frei. Die, die keine Ahnung von Freiheit hatten.
Er kaufte sich eine Fahrkarte und stieg ein. Er fuhr mit dem Bus weit weg. In eine andere Stadt. Weg von alledem.
Schlussendlich stieg er ihm Vorort einer fremden Stadt wieder aus. Die Schornsteinschlote spuckten ihre schwarze Last in den Himmel. Eine Weile betrachtete er die Häuser vor ihm.
Tief sog er die verdreckte Luft ein. Zuhause.
Er nahm seine Tasche und ging auf ein Haus zu. Auf seine rote Tür.