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Tiefschlaf
„So Frau Georgs, dann schauen Sie mich einmal bitte an und zählen von zehn rückwärts“, sagte die Gestalt neben mir.
„Zehn.“
„Neun.“
„Acht.“
„Sieben.“
Meine Gedanken wurden schwerer.
„Sechs“, brachte ich noch nach einer unnatürlich langen Pause heraus.
„Fün…“
Dämmerung.
Dunkelheit.
Ein Gefühl der Leichtigkeit.
Frieden.
Null
„Ok, sie ist weg. Wir können intubieren.“
„Ich bin weg?", war mein letzter, friedlicher Gedanke, bevor etwas Kaltes in meinen Mund eindrang und sich gewaltsam an meinem Hals festbiss. Doch dieses etwas war nur die Vorhut. Gemächlich, aber mit unaufhaltsamer Bestimmung, machte sich nun eine Schlange auf den Weg, meine Kehle hinabzukriechen.
„Tubus sitzt. Schließt Sie an die Maschine an.“
Das kalte Etwas ging. Seine Aufgabe schien erfüllt, wie ich fast schon unbeteiligt feststellte. Keine Schmerzen. Nur ein ungutes Gefühl. War das normal, dass ich alles mitbekam?
„Maschine läuft, gebt ihr das Rucoronium. Und reich mir mal ein paar Streifen rüber, damit ich die Augen zukleben kann, bitte.“
Was passiert hie…
Dunkelheit.
Ein Gefühl der Leichtigkeit.
Frieden.
Götterdämmerung.
„Messer, bitte.“
Ein heiß aufflammender Schmerz durchzuckte mich. Mein ganzer Körper signalisierte mir plötzlich, dass etwas nicht stimmte. Gefahr. Verletzung.
Ich wollte vor Schreck einatmen, aber ich hatte keine Lungen mehr. Eine unendliche Sekunde lang hatte ich Angst zu ersticken. Plötzlich pumpte etwas von außen Luft in mich hinein und zog sie danach wieder heraus. Ich bekam endgültig Panik.
Ich versuchte mich zu bewegen. Ich konnte es nicht. Ich versuchte zu schreien, es ging nicht. Ich versuchte mich umzusehen, doch alles blieb schwarz. Ich war nicht mehr Herr meines Körpers.
„Ok, stellt das Gas an.“
Nein, bitte nicht. Bitte, schaut her. Schaut mich doch an. Ich bin nicht weg. Ich bin noch hier. Bitte, hört mich!, brüllte und schlug ich gegen die unsichtbare Wand, die mich davon abhielt meinen Körper zu kontrollieren. Aber es half nichts. Niemand konnte mich hören. Der Schmerz ebbte ab, dafür spürte ich, wie sich mein Bauch plötzlich dehnte und wuchs. Immer mehr, immer weiter.
„Ok, das reicht. Stellt das Gas ab.“
Gott sei Dank!
„Ich setze jetzt die letzen drei Schnitte und dann führe ich das Endoskop ein. Messer, bitte.“
Bitte, Gnade.
Meine Welt explodierte dreimal dunkelrot vor Schmerz, dann war die Schlange wieder da. Nein, nicht eine. Mehrere. Aber diesmal wählten sie einen anderen Weg. Sie krochen durch meine Wunden am Bauch in mich hinein und erkundeten mich. Sie wühlten durch meine inneren Organe, schoben dies und das zur Seite, knabberten versuchsweise an meinem Fleisch. Die Schmerzen waren nicht einmal das Schlimmste. Die Angst vor dem, was noch kommen mochte, war schlimmer.
Womit hab ich das verdient. Was hab ich getan?
„Was sagt der Puls und die Atmung?“
Ich hörte deutlich, wie sich jemand in meine Richtung drehte.
Meine Chance. Ich muss nur einen Finger bewegen. Mit den Augen blinzeln. Irgendetwas, damit sie merken, dass ich nicht weg bin.Ich nahm meine ganze Kraft zusammen. Es half nichts. Ich schlug und tritt mit jedem Funken Energie, den ich aufbringen konnte, gegen die Mauern in meinem Geist.
Plötzlich, ein Lichtblick.
Meinen Zeigefinger. Ich habe meinen Zeigefinger bewegt! Das müssen sie doch gesehen haben. Ich komme hier raus! Schau her, schau auf meine Hand!
„Alles im grünen Bereich, mach weiter.“
Ich hörte, wie sich die Person wieder von mir wegdrehte. Bitte, lass ihn etwas gemerkt haben. Lass ihn sich nochmal umdrehen!
Ein Moment der Stille.
„Warte mal, da, hast du das gesehen?“, sagte die eine Stimme. „Ja, habe ich“, sagte eine Andere.
Dem Himmel sei Dank. Er hat es gesehen. Es hat ein Ende.
„Da ist der Ösophagus. Und da die Manschette. Du bist richtig“, sagte die erste Stimme. „Ach was?“, erwiderte die zweite Stimme höhnisch. „Gut, dass du dabei bist.“
Bleierne Schwere legte sich über mich. Sie hatten es nicht gesehen. Sie hatten nur ihr Ziel gefunden, das war alles. Alles umsonst. Ich war kraftlos, aufgebraucht. Hätte mein Körper mir gehorcht, ich hätte geweint.
Die Schlangen bewegten sich wieder in meinem Körper. Sie drangen weiter nach oben, unaufhaltsam, rastlos, ohne Gnade. Sie wollten zu meiner Kehle. Es war mir egal.
„Das sieht hier ein bisschen verwachsener aus. Könnte kompliziert werden, um die Manschette da was herumzuwickeln. Was macht die Anästhesie?“
Am Rande meines Bewusstseins bemerkte ich gleichgültig, dass sich wieder jemand zu mir umdrehte. Der pochende Schmerz. Mein zur Ruhe gebetteter Körper. Diese Dinger in mir. Lasst mich bitte einfach sterben. Ich möchte nicht mehr.
„Sieht alles ok aus.“
„Erhöh‘ mal die Dosis ein bisschen, das könnte sich ziehen. Ich habe keine Lust, dass sie mir mittendrin hier aufwacht“, scherzte die erste Stimme.
Etwas piepte.
Die Finsternis griff nach mir. Ich leistete keinen Widerstand.
Schrecken.
Ein Gefühl der Schwere.
Licht.
Ich merkte blass, dass ich meine Augen wieder öffnen konnte. Meine Hände schienen schwerer als sonst, aber sie gehorchten mir wieder. Ich durfte wieder atmen.
„Hallo, Frau Georgs. Wie geht es Ihnen? Alles in Ordnung?“
Meine Welt endete mit einem Schrei aus Tränen.