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Tiefe
„Na komm schon, schieb mit an!“ Pedro versuchte Rafael nun wirklich zu ermutigen, ihr selbst gebautes Floß zusammen mit seinem Kumpel Enzo aufs Meer hinaus zu bringen. Warum hatte er dem Ganzen denn überhaupt zugesagt? Als Enzo vor seiner Haustür stand, hörte sich die Idee, ein eigenes Floß zu bauen irgendwie verlockend an, doch nun kam ihm das Grauen. Rafael blickte auf das weite, blaue Meer, das vor ihm lag und dessen Vollkommenheit nur durch ein paar Felsen gestört wurde, die aus dem Wasser ragten. Sie waren nun bestimmt zweihundert Meter von zu Hause weg und seine Mutter wollte mit Sicherheit, dass er zum Mittagessen kommt. Ein Grund mehr bei dieser Schnapsidee nicht mitzumachen.
Der eigentliche Grund bestand aus Angst, aus der Angst vor dem Ungewissen, vor dem tiefen Meeresgrund, der einen zu verschlingen versuchte, sollte man klein beigeben und ihm den Rücken kehren. Egal wie oft er die Tausenden von Geschichten über das Meer und seine Geheimnisse hörte, es lief ihm bei jeder Einzelnen kalt den Rücken runter, immer wieder. Was wenn sie von einer Strömung gepackt und ins Meer hinausgezerrt werden? Man konnte sich nicht gegen den Pazifik erheben, das wusste Rafael. Enzo wurde ungeduldig:“ Na, was ist jetzt? Kommst du jetzt mit oder hilfst du deinem Mütterchen beim Kartoffel schälen?“ Beide lachten sich schlapp, sodass sie sich den Bauch halten und auf ihre Oberschenkel klatschen mussten, um diesen unglaublich schlechten Witz lustig darzustellen. Der Junge mit der kurzen Jeanshose fand das jedoch gar nicht witzig und schaut verärgert auf den Boden. Der Sand zwischen seinen Zehen fühlte sich auf einmal unglaublich angenehm an und am liebsten wäre er noch Stunden so dagestanden, wären da nicht seine Freunde gewesen, die das Floß beinahe im Wasser hatten. Die beiden jubelten, als das Floß begann auf dem pazifischen Ozean zu treiben. Mit größtem Übermut schwangen sie sich auf die, mit Seilen zusammengebundenen Baumstämme. Die Konstruktion hielt, zu Rafaels Überraschen und er überlegte noch einmal, ob seine Angst wirklich berechtigt war. Er starrte wieder auf die glitzernde Wasseroberfläche und ging ein paar Schritte nach vorn, bis er die Nässe spürte und erstarrte. Er war nun mit dem ganzen Pazifik verbunden. Alle Korallen, alle Kreaturen des Meeres, der Tiefsee, er war nun in ihrem natürlichen Lebensraum. Enzo saß lässig am Rand des Floßes, beide Unterschenkel im Wasser und schaute rüber zu Rafael. „Was ist los, hast du dir in die Hose gemacht? Jetzt komm schon wir sind startklar!“ Dieser ging weitere vier Schritte, bis er zu den Knien im Wasser und von seinen Freunden gut vier Meter entfernt war. Er schluckte und ging noch ein kleines Stück sodass ihm Pedro, der mittlerweile neben Enzo stand, die Hand reichen konnte und ihn mit auf das Holzgestell zog.
Nun war es also soweit, er war auf dem Wasser und es gab kein Zurück mehr. Während Pedro, mit Hilfe eines speziell angefertigten Holzstockes, weiter aufs Meer hinauspaddelte, blickte Rafael hinab auf den Grund des Meeres, der sich im Moment noch durch Sand und ein paar Steinen erkenntlich machte, jedoch wurden diese immer kleiner und irgendwann konnte er den Boden nur noch sehr verschwommen erkennen. Er blickte weg in Richtung Enzo, der links neben ihm saß und ihn grinsend musterte. „Du hast immer noch Schiss vor der Dunkelheit da unten, oder? Der alles verschlingenden Finsternis am Grund des Meeres. Der Kreaturen, die…“ “Ach lass mich doch einfach“, entgegnete Rafael genervt, während sich dessen Hand zitternd an der hölzernen Kante festhielt und er ein bisschen nach hinten rutschte, um sich sicherer zu fühlen. Enzo plauderte in Gedanken versunken weiter: „Weißt du, mein Onkel war früher einmal Hobbyfischer, aber mit einem Speer. Er hat Stunden im Meer verbracht und ist immer wieder nach unten getaucht, um dort die besten Fische für sich und seine Frau zu ergattern. Er hatte auch keine Angst vor dem Abgrund. Im Gegenteil, er hat mir erzählt, dass er die Stille, die Ruhe da unten genoss und am liebsten nie mehr wieder aufgetaucht wäre, hätte er die Lunge eines Wals gehabt.“ „Na, das ist schön für deinen Onkel, aber nur, weil der das gemacht hat, heißt das nicht, dass ich es auch muss“, Rafael schaute zur Seite. „Mein Vater hat mir mein Leben lang von Geschichten erzählt, die er erlebt hat und von den Gefahren, die da draußen alle lauern. Hast du beispielsweise gewusst, dass ein einziger Stich eines Steinfisches dich umbringen kann, wenn du nicht sofort zum Arzt gehst? Ein kleiner, winziger, sich tarnender Fisch, der in jeder kleinen Bucht ab einer Höhe von einem halben Meter zu finden ist! Ich will gar nicht wissen, was da draußen alles in der Tiefe lauern könnte, wo ein Mensch doch noch nie zuvor gewesen ist.“ Enzo antwortete nicht. „Oder hast du gewusst, dass das Meer bisher nur zu 5 Prozent erforscht ist? Das bedeutet, dass 95 Prozent noch zu erkunden sind und das Meiste davon liegt in der Tiefsee. Man kann sich noch gar nicht vorstellen, was alles noch gefunden werden könnte.“ „Ja das ist ja alles schön und gut, aber wir sind hier bei einer Wasserhöhe von…“, Enzo blickte kurz zwischen seine Füße nach unten. „…sechs Metern. Und ich glaube mal, dass bereits bekannt ist, auf was man dort unten treffen könnte. Ein paar harmlose, kleine Fischchen und Rochen, die mehr Angst vor dir haben, als du vor ihnen. Ok gut vielleicht trifft man hin und wieder auf einen Bullenhai, aber dann muss man halt ruhig bleiben und wenn man sein Territorium, das meistens eher weiter unten liegt, nicht betritt, kümmert sich der einen Scheiß um dich.“ Klar, Enzo hatte im Endeffekt Recht, jedoch war das alles leichter gesagt als getan, denn wenn erst so ein Vieh vor dir her schwimmt, hast du mit Sicherheit nicht die Zeit so darüber zu denken. Pedro unterbrach das Gespräch: „Hey Leute, seht ihr die Bucht da drüben?“, er deutete mit dem Zeigefinger auf eine kleine Sandbank, die zwischen zwei Klippen hervorkam. „Da war ich noch nicht, lasst uns da anlegen!“. Enzo runzelte die Stirn „du weißt schon, dass da drüben lauter Felsen und Seeigel sind, oder? Wir sollten jetzt dann mal wieder zum Ufer zurückkehren.“ „Ach bitte, das sind nur ein paar kleine Steinchen im Wasser, du Feigling“ „Hast du mich etwa gerade Feigling genannt? Ich bin schon zehn Meter tief getaucht, da bist du noch mit Hello Kitty Schwimmflügeln im Pool getrieben und hast reingepinkelt!“ Pedro lehnte sich arrogant nach vorne, während sich auf seiner rechten Schläfe eine Ader zeigte und schubste Enzo nach hinten, welcher dabei einen Schritt zurücktaumelte und durch den Wellengang hinfiel. „Jetzt reichts“, schnaubte er wutentbrannt, stand wieder auf und wollte seine Hände an die Schultern seines Gegenüber drücken, um ihn ebenfalls zu schubsen, doch dieser machte das Gleiche und somit war ein Kräftemessen entstanden, das scheinbar ziemlich ausgeglichen war. Doch nach kurzer Zeit fielen beide in Rafaels Richtung, welcher aufstand und einen Schritt nach hinten machte, um ihnen auszuweichen. Komischerweise spürte er keinen Widerstand unter seinen Füßen, sondern nur die veränderte Temperatur, die fast schon angenehme Kühlung seiner Haut, die schon die ganze Zeit unter der prallen Sonne leiden musste. Er war nun im Pazifik, er war gefallen und nun hilflos der Tiefe ausgeliefert.
Wild zappelte der panische Rafael im Wasser und sein Blick wanderte in Richtung Meeresboden, wo er nicht das sah, was er erwartet hatte zu sehen. Er konnte zwar den Meeresboden nicht erkennen, jedoch war dieser hinter einem hellblauen Schleier versteckt, der daraus schließen ließ, dass der nicht allzu weit von der Oberfläche weg sein konnte. Kurz betrachtete er noch den Bereich unter sich und machte dann eine schnelle Bewegung, die ihn wieder zurück an die Oberfläche brachte. Die Anderen zogen ihn hinauf und entschuldigten sich dafür, dass sie die Kontrolle über sich verloren hatten. Sie schienen sich wieder zu vertragen. „Scheiße Mann, ist das nicht deins?“, Enzo stand vorgebeugt am Rand des Floßes und blickte auf die Stelle, wo er Rafael herausgezogen hatte. Dieser richtete sich mit schwerer Atmung auf und folgte Enzos Blick. Er sah noch wie ein kleines Funkeln in etwa zwei Metern Tiefe immer kleiner und vom Meer verschlungen wurde. Schnell fasste er sich an den Hals und erstarrte. Seine goldene Halskette, die er zu seinem 16. Geburtstag von seinem Vater bekommen hatte, war verschwunden und nun vermutlich am Grund des Meeres. Die Drei standen ratlos da, als würden sie alle auf einen Vorschlag warten, was sie nun tun sollten. Rafaels Hände zitterten, denn er wusste nur zu gut, was die einzige Möglichkeit war, die Kette zurückzubekommen. Vielleicht war dies ein guter Moment dazu, seine Angst endlich zu überwinden und der Fischerssohn zu werden, der er sein sollte. Mit einem Satz hechtete er sich in das tiefe Blau, das ihm sein ganzes Leben schon Albträume bereitete und hörte noch wie seine beiden Freunde ihm überrascht nachjubelten.
Er konnte nicht genau sagen, wie tief es hinunter ging, jedoch waren fünfzehn, zwanzig Meter nahe dran. Eigentlich war Rafael ja ein sehr guter Schwimmer und konnte auch tauchen, jedoch war ihm immer die Angst vor dem Ungewissen im Weg. Endlich erblickte er unten etwas, ein Korallenriff, das unerwartet schön aussah und je näher er kam, desto prächtiger wurden die Farben, die das wunderbare Ökosystem geschaffen hatte. Ein paar Fische schwammen umher und einige Meter neben sich, kam sogar ein Rochen vorbei, die genaue Gattung kannte er nicht. Doch er war hier, um sich seine Kette zurückzuholen und so hielt er nach dem goldenen Gegenstand Ausschau. Er durchsuchte zwei Felsen, ein kleines Holzfass und den sandigen Boden, der von ein paar Korallen umgeben war. Und da sah er sie, ein kleines, glitzerndes Ding, das neben einem kleinen Stein auf dem Sandboden lag. Der Druck war bei seiner jetzigen Tiefe schon sehr hoch, weswegen er ein paar Mal schlucken musste. Die Meisten mussten sich dafür die Nase zuhalten und dann selbst einen Druck erzeugen, um ohne Probleme weitertauchen zu können, doch er konnte das durch einfaches Schlucken regeln. Laut seiner Mutter hatten nicht viele so eine Fähigkeit und darauf war sein Vater auch sehr stolz.
Nun war er am Meeresgrund und griff sich seine Goldkette, die er sich schnell in die Hosentasche steckte, um sie nicht noch einmal zu verlieren. Die Luft wurde langsam knapp und er musste so schnell wie möglich zurück an die Oberfläche, also ging er auf zwei Steinen in die Knie. Doch irgendetwas stimmte nicht. Normalerweise konnte man selbst unter Wasser kleine Geräusche wahrnehmen, wie das Kieseln von Steinen oder das Kratzen von Fischen an Korallen, nur hier war es auf einmal totenstill. Rafael schaute sich um und konnte keinen einzigen Fisch mehr entdecken, sogar der Rochen war weg. Egal, es blieb ihm keine Zeit mehr und somit stieß er sich mit voller Kraft ab und schnellte nach oben, mit dem Blick nach unten gerichtet. Plötzlich erfasste ihn ein starker Schmerz im Rücken, gegen irgendetwas war er gestoßen. Könnte er vielleicht zu weit seitlich geschwommen und gegen eine Koralle gekracht sein? Nein, das war unmöglich, denn die Oberfläche, die er rammte, war glatt, glitschig und gab leicht nach. Er bekam einen Schock und drehte sich schnell um, während er wieder leicht nach unten sank, um zu erkennen, was ihm den Weg versperrt hatte. Nichts, da war nichts. Er starrte verwirrt in die schwachen Sonnenstrahlen, deren Licht durch die Wasseroberfläche gebrochen wurde und dachte schon, er wäre mittlerweile verrückt geworden. Nachdenken konnte er an der Oberfläche auch noch und so zappelte er nun fast schon panisch auf das Licht zu. Er hatte nun nur noch geschätzte acht Meter, bis er ein komisches Geräusch hinter sich vernahm. Rafael drehte sich um und erblickte einen gewaltigen Schatten in der Ferne, der immer größer und größer wurde. Er konnte nicht erkennen was es war, vielleicht ein Hai oder etwas Ähnliches, auf jeden Fall war es riesengroß und das raubte ihm den Atem, den er eigentlich gar nicht mehr hatte. Seine Lungen fühlten sich an, als würden sie sich zusammenziehen und abfallen, jetzt musste er unbedingt an die Oberfläche. Er durfte sich auf keinen Fall seiner Angst hingeben. Wieder richtete er sich gen Sonne und strampelte weiter nach oben, bis etwas sein Bein umwickelte und ihn ruckartig nach unten zog. Er schaute blitzschnell nach unten und erstarrte, bei dem Anblick seines grässlichen Angreifers. Voller Entsetzen schnappte er nach Luft, die es nicht gab und schmeckte die salzige Wasserladung, die sich den Weg durch seinen Körper bahnte.
Was hatte er getan? Was hatte er getan, dass er nun von diesem Ding bestraft wurde? Natürlich, er war in sein Territorium eingedrungen und die Natur verlangte nun Genugtuung, seinen Tod. Auch wenn er sich im Moment nicht sicher war, ob diese Kreatur, die ihn hinunterzog, nun wirklich zur Natur zählte. Die Wassermassen drückten auf seine Schläfen, seine Zähne, seine Augen und er konnte nicht mehr vernünftig sehen. Nur ein dunkler Schleier bildete sich vor seinen Augen und schließlich verlor er das Bewusstsein.
Jetzt war er allein, allein in unendlicher Finsternis. Er konnte sich nicht bewegen, nicht die Augen öffnen. Rafael konnte nur noch denken und atmen, was für ihn eine wunderbare Erleichterung war. Was war das für ein Ding, das er noch nie zuvor gesehen und ihn in den Abgrund gezogen hatte? Er wird es wohl nie herausfinden können, jedoch wusste er eins, es hatte das volle Recht ihn umzubringen.