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Ticken
Die Uhr war stehen geblieben. Ihr Ticken war verstummt. Kurt musste keinen Blick auf das schlichte Ziffernblatt der Uhr werfen, um sich dieser Tatsache zu vergewissern. Vierzig Jahre lang hatte ihr Ticken seinen Arbeitsalltag begleitet, seinen Rhythmus diktiert und seine guten wie schlechten Zeiten in der Firma akustisch untermalt.
Bereits vor Stunden hatte das wiederhallende Klacken der Zeiger an Fahrt verloren. Nicht dass es jemandem aufgefallen wäre; aber Kurt, dem dieses Geräusch in Fleisch und Blut übergegangen war, hatte das Stocken des Rhythmus sofort bemerkt.
Nun war es still in seinem Büro. Die Klänge, die für die innerbetriebliche Lebendigkeit einer jeden Firma standen, drangen an sein Ohr: Das röchelnde Aufschäumen der Kaffeemaschine, das abgehakte Surren des Druckers und das Ferne läuten zahlreicher Telefone. Das Leben erhielt Einzug in sein kleines Büro.
Wie aus einer Trance erwachend, blickte Kurt auf das Foto neben seinem Bildschirm. Darauf war eine Frau zu sehen, die in den Vierzigern zu seien schien. Sie posierte mit einer monströsen Wasserpistole auf einer von Menschenmassen überfluteten Marktstraße. Während sie in bester Bond-Girl-Manier versuchte, Verruchtheit und Sexappeal in ihren Ausdruck zu legen, machte die Tatsache, dass sie von Kopf bis Fuß durchnässt war, ihre Bemühungen zunichte. In ihren Augen glitzerte die Erkenntnis um die Hoffnungslosigkeit dieser Bemühung, was ihrer Ausstrahlung eine kluge und humorvolle Note verlieh.
Vor zehn Jahren war Kurt mit Rose in Thailand gewesen, wo sie an dem traditionellen Neujahrsfest teilgenommen hatten. Aus den vor Jahrhunderten durchgeführten, rituellen Waschungen war eine fröhliche Wasserschlacht hervorgegangen. Von kindlichem Elan getrieben waren Rose und Kurt durch die Straßen geflitzt, hatten mit ihren Wasserpistolen auf alles und jeden geschossen und hinter Häuserecken Deckung gesucht. Sie waren glücklich gewesen und verliebt wie am ersten Tag.
Als Rose vor wenigen Monaten überraschend an einem Hirntumor starb, geriet Kurts Welt nicht ins Wanken. Es war eher als beraubte man ihn der Vollständigkeit seines Daseins. An ein Leben ohne Rose konnte und wollte er sich nicht erinnern. In Anbetracht der umgangssprachlichen Umschreibung des Lebenspartners als Bessere Hälfte verlor er selbige an diesem Tag.
In ihren letzten Stunden hatten sie ganz offen über den Tod gesprochen. Rose hatte sich mit einem Lächeln entschuldigt, dass sie ihre letzte Reise allein antreten würde und Kurt bedauerte, sie dabei nicht begleiten zu können. Sie befanden die Kosten eines Lebens als ungewöhnlich hoch für einen Ausflug, dessen Ziel ihnen nicht bekannt war. Angesichts der Wahrheit ihres flachsigen Wortwechsels schwiegen sie anschließend eine Weile.
Rose‘ lebensfrohe Art war in dem Foto auf seinem Schreibtisch festgehalten. So wie er sie in Erinnerung behalten wollte. So wie sie war. Daneben lagen zwei Flugtickets nach Puerto Montt. Kurt hatte den Vorschlag seiner Familie, eines der Tickets zu stornieren, kopfschüttelnd abgelehnt. Ihm war bewusst, dass das Reisen allein nicht dasselbe war, wie mit einem Partner. Das Teilen der Begeisterung über neu entdeckte Länder, Städte und Sehenswürdigkeiten war es, das den Reiz für ihn ausmachte. Sein reger Austausch mit Rose, hatte ihre Erkundungen stets in eine Begeisterung getränkt, die einem kindlichen Freudenschauer sehr nahe kam.
Chile war ihr nächster Reisewunsch gewesen und Kurt war entschlossen dazu, diese Reise anzutreten. Er hatte es Rose versprechen müssen, die ihn auch darum bat, die Reiselust nicht zu verlieren. Kurt wusste zwar nicht, wie er dieses Hobby mit einem vergleichbaren Elan fortwährend pflegen sollte, doch er würde alles daran setzen, jener Bitte nachzukommen.
Das zweite Ticket beruhigte ihn. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein einzelnes Ticket in der Hand gehabt zu haben. Außerdem hoffte er, das Gefühl zu wahren, die Reise nicht allein anzutreten. Zu sagen, er trüge Rose stets in seinem Herzen, würde eher einer poetischen Übertreibung als dem tatsächlichen Empfinden Kurts nahekommen. Es war eher, als begleitete sie ihn im Geiste nach Chile. Er wusste genau um die Sehenswürdigkeiten die ihr gefallen, kulinarischen Besonderheiten, die ihr ein Stirnrunzeln auf die Stirn treiben und die kulturellen Besonderheiten, die ihr Interesse wecken würden. Es war, als sähe er die Welt nicht nur durch seine, sondern auch ihre Augen.
Kurt lächelte bei dem Gedanken. Er erhob sich, öffnete eine Schublade und entnahm zwei Batterien daraus. Dann ging er zu der verstummten Uhr und tauschte die leeren Stromsammler gegen die neuen. Augenblicklich ertönte das altvertraute Ticken.
Kurt setzte sich wieder und lauschte einige Sekunden dem rhythmischen Klacken der Zeiger. Sein erinnerndes Schwelgen wanderte in den Hintergrund und ihn überfiel die alltägliche Arbeitstrance, die ihn wie ein Schleier umfing. Die Frau auf dem Foto lächelte ihn an, wie sie es immer getan hatte.