Tick
Ein kleiner, feiner Lichtstrahl drang in die Dunkelheit vor und wanderte langsam nach oben, bis er genau auf das Ende des Gurtes traf, der ohne Unterlass im lauen Luftzug schaukelte.
Er war schwarz und fein verwebt, so dass seine Oberfläche einem eleganten Teppich glich. An seinem Ende hing eine Aluminiumschnalle, die in einem ständig gleichförmigen Takt gegen die braune Felswand schlug. TICK TICK TICK.
Ich weiß nicht, wie sie dahingekommen ist, aber das Licht spiegelte sich darin wieder und brach sich in viele kleine Strahlen, die mein Gefängnis ein wenig erhellten. Zu Beginn projizierte ich all meine Hoffnungen auf dieses Licht, auf diese Schnalle, aber nun hat sich darin die Ausweglosigkeit selbst manifestiert. TICK TICK.
Ich höre immer noch diesen fürchterlichen Knall, gefolgt von einer enormen Druckwelle, die meinen Körper auseinander zureißen drohte. Ich sehe immer noch die Flammen, wie sie aus den Felsspalten hinausschossen und mir durch ihre gleißende Helligkeit das Sehvermögen nahmen. Ich lief. Ohne Orientierung, aber ich lief; davon. Ich rannte um mein Leben. Ich wollte dem Tot entkommen, der mir bereits ins Gesicht lachte. Getrieben von Todesangst landete ich in dieser Höhle. Steine und Geröll fielen herab und verschlossen den Eingang; meinen Ausgang.
Und dann saß ich dort Tage, oder Wochen. Gefangen zwischen Fels und Finsternis. Ich begann meinen Verstand zu verlieren; sah und hörte Dinge, die nicht existierten; roch und fühlte Sachen, die nicht da waren. Getrieben von der Hoffnung ernährte ich mich von Moosen, die zahlreich an den Wänden wuchsen. Sie schmeckten nach Dreck und waren unerträglich bitter. Unzählige Male rebellierte mein Magen gegen diese Nahrung, doch schon bald begriff er, dass er nichts anderes bekommen würde und sein Widerstand brach. Ich trank von den kleinen Rinnsälen aus Wasser, die ebenfalls an den Wänden zu finden waren. Das feuchte Nass hatte den gleichen unangenehmen Geschmack nach Dreck und Fäule wie die Moose, aber ich musste trinken. All das geschah unter dem monotonen Klicken der Aluschnalle. Immer wieder schlug sie gegen die Wand. TICK TICK. Ohne Unterlas. TICK. Und wieder. TICK. Nach einiger Zeit machte nicht mehr die Schnalle dieses Geräusch, sondern mein eigener Kopf. Als würde ich ihre Sprache sprechen. TICK.
Der Lichtstrahl kam und ging. Ich blieb. Er wirkte in dieser Düsternis fremd und deplaziert, wie aus einem Gemälde, dessen Linien mit einem Lineal gezogen wurden. Stunden verstrichen. Tage verstrichen. Zeit verlor jegliche Bedeutung und mein Gefängnis roch immer mehr nach menschlichen Ausscheidungen. TICK TICK TICK.
„Ich sitze hier in einem Gefängnis. Ich wollte doch nur wandern und nun sitze ich hier fest.“
Ich begann mit mir selbst zu sprechen.
„Warum?“
„Wie ist es dazu gekommen?“
„Was war da eigentlich?“
„Ich fühlte mich bereits den ganzen Tag verfolgt. Und dann...“ TICK „...diese Explosion.“
„Was sollte denn hier explodieren? Es muss doch jemand gesehen haben.“
„Sie werden mich finden.“
Der Lichtstrahl verschwand wieder aus der Höhle, aber diesmal war etwas anders. Ich hörte ein prasselndes Geräusch und es wurde merklich kühler. Unangenehm kühl. Fast schon kalt. Draußen musste es regnen, denn unter das Klicken mischte sich nun das Geräusch von Tropfen, die auf den harten Felsboden schlugen. TICK TICK PLOP. Es war, als würde es nie mehr aufhören zu regnen, denn der Lichtstrahl schien nicht wiederzukehren. So saß ich da, in der Nässe und Kälte.
PLOP PLOP TICK. Die Kälte wurde unerträglich. Mit einem dünnen, spitzen Messer stach sie immer wieder auf mich ein. Doch dort wo sie mich traf, floss kein Blut, sonder mein Körper verlor das Gefühl. Als würden diese Stellen einfach abgetrennt. Ich war nicht mehr vollständig. TICK.
„Dieses Gefängnis!“ schrie ich. „Wer hat dieses Gefängnis gebaut!?“
TICK TICK PLOP.
Ich antwortete.
„Woher soll ich das wissen?“ Vorwurf lag in dieser Stimme.
„Ich frage dich doch gar nicht!“
„Doch. Das hast du gerade getan.“
„Sei still. Lass mich in Ruhe.“
„Aber ich will dir helfen. Denk doch mal nach. Dies hier ist ein Gefängnis.“
TICK
„Ja und?“
„Aus einem Gefängnis kann man ausbrechen.“
„Nein.“
„Doch!“ Die Stimme wurde rau und ungeduldig.
„Ja! Du hast recht. Ich muss nur graben. Genau. Licht und Wasser kommt ja auch hier herein. Also muss ich auch irgendwie hier herauskommen.“
Ich begann zu graben. Ich bohrte meine Finger tief in das Erdreich zwischen dem harten Stein. Fingernägel brachen. Schmerz durchflutete mich. Aber ich grub weiter. Schaufelte Erde und Steine einfach hinter mich, von dem Gedanken besessen bald Licht zu sehen.
TICK TICK PLOP PLOP TICK
„Was war das?“ Etwas war in der Höhle. Ich spürte es ganz genau. Es war genau das gleiche Gefühl, das ich hatte, als ich diesen Pass hinaufstieg.
„Es ist hier drin. Du bist an diesem Gefängnis hier schuld. Du hast mich hier hineingeworfen und mir den Ausweg genommen.“
Und dann tat sich wirklich etwas. Etwas, das meine eigene Fantasie niemals hätte erschaffen können. Zwei Augen leuchteten in der Dunkelheit auf. Sie brannten, so wie das Feuer der Explosion, aber diesmal verschloss ich meine Augen nicht. Ich blickte in diese Glut. Meine Augen tränten. Sie schmerzten, aber ich ergab mich nicht. Ich kämpfte. Trotz der Angst, denn dieses Wesen hatte schon einmal versucht mich zu töten. Aber ich war ihm entkommen und zur Strafe hatte es mich hier eingeschlossen. Und auch hier hielt ich durch. Mein Herz schlug immer noch und unaufhörlich floss das Blut durch meine Adern. Ich würde stehend sterben. Niemals würde ich kniend leben. Das hatte ich mir immer gesagt und so wollte ich das Ende; mein Ende, auch erfüllen.
Das Wesen begann vor Wut zu schnauben und stampfte wild auf, so dass große Mengen an Staub aufwirbelten, die mir in der Lunge brannten. Es musste meinen Widerstand spüren. Meine Dreistheit seiner Überlegenheit zu trotzen. Es wütete und ich rechnete jeden Augenblick damit, dass es mich aus der Dunkelheit heraus ansprang. Sein Fauchen wurde so laut, dass ich das Geräusch des tropfenden Regens nicht mehr wahrnahm und zur gleichen Zeit kam der Lichtstrahl wieder. Er schien direkt auf die Schnalle und er Raum wurde für meine Verhältnisse in ein strahlendes Weiß getaucht. Das Etwas, das Tier verschwand und ich war wieder allein und ich lebte.
TICK TICK TICK.
Ich lebte kaum noch, denn ich wurde immer schwächer. Selbst stehen konnte ich nicht mehr. Meine Muskeln waren wie verkümmert, nicht dazu bereit Befehle entgegenzunehmen. Ich fand kaum noch Moose, und jene, die ich fand waren klein und faul. Jedes Mal, wenn ich eins dieser haarigen Gewächse auf meine Zunge legte, verspürte ich eine starke Übelkeit. Ich zitterte und schrie unter den Krämpfen, die niemals verebbten. Mein Magen versuchte wieder und wieder etwas herauszuwürgen, doch nichts folgte seiner Aufforderung. Auch die Augen kamen immer wieder. Mit jedem Mal waren sie heller und bedrohlicher. Sie blickten mich über einen endlos erscheinenden Zeitraum an. Einfach so. Nur so.
Ich begehrte auf, doch ich rührte mich nicht.
Ich wollte fliehen, doch ich unternahm keine Versuche.
Alles in mir war tot. Nur mein Verstand arbeitete noch...
TICK TICK TICK TICK TICK
Die Augen. Diese Augen.
Es kam der Augenblick, an dem sie mich nicht mehr verließen und die Bedrohung ihren Höhepunkt erreichte. Das Tier kam so nah, dass das Feuer was in ihm loderte meine Haut verbrannte. Doch ich war zu schwach, um zu fliehen. Das Gefühl, das ich dabei spürte war das schlimmste, was ich je erlebt hatte. Diese Hilflosigkeit. Das Wissen ohne Widerstand ausgeliefert zu sein. Ohne Kampf unterzugehen und so seinem eigenen Willen, seinem eigenen Vorsätzen nicht mehr folgen zu können. Dieser Umstand biss sich in mir fest. Nicht nur in meinem Kopf, sondern auch in meinem Herzen, dass in meiner Brust, einem Hammer gleich, wild schlug. Tränen liefen wie Sturzbäche meine Wangen hinunter.
„Geh weg. Bitte. Geh!“ Ich kämpfte nicht. Ich bettelte.
Das Tier griff nach mir und ich spürte seine festen und kalten Pranken, die mich umarmten und zerdrückten. Mir die Luft nahmen und mir das Fleisch zerschnitten.
Als ich den Tot erneut vor Augen sah und er bereits zu seinem finalen Schlag ansetzte, begann das Tier zu reden. Es antworte.
„Ich werde nicht gehen. Ich bleibe genau hier. Bei dir.“
Es sprach in meiner Stimme. Durch meinen Mund.
„Spürst du mich. Weißt du wer ich bin?“
Meine Hände fest vor den Mund gedrückt, versuchte ich es zum Schweigen zu bringen.
„Ich werde nicht still sein. Ich habe dir etwas zu sagen.“
Das Tier begann zu erzählen und es war, als würden seine Augen in meinem Kopf brennen.
Licht. Überall Licht. TICK
Ich sprang und lief. Ich war frei. TICK
Wind wehte durch mein Haar. Gras wuchs zwischen meinen Zehen. TICK
Ich sah Weiden ohne Horizont. Saftiges Grün unter einem tiefblauem Himmel. TICK
Ich sah mich. Ich sah einen Vogel, der absolut frei dahinglitt. Ich sah..............Fels. TICK
Als würde meine letzte Kraft mir in den Hals fließen. Als würden meine Lungen das letzte bisschen Sauerstoff in sich hineinsaugen. Als würde alles davon abhängen. So sehr begann ich zu schreien. All das Leid. All die Qual wollte aus mir heraus. Ich erbebte. Die Wände schienen zu wackeln. Die Welt löste sich auf. Und die brennenden Augen sahen mir zu.
TICK
Ein kleiner, feiner Lichtstrahl drang in die Dunkelheit vor und wanderte langsam nach oben, bis er genau auf das Ende des Gurtes traf, der ohne Unterlass im lauen Luftzug schaukelte.
In meiner Hand lag ein Stein. Schwer und spitz.
„Hör auf! Um Gottes willen hör auf!“
TICK TICK
Er verhöhnte mich.
„Das war das letzte Mal,“ wollte ich ihn anschreien. Doch nur ein leises Flüstern entrang meiner Kehle.
Der Stein traf genau die Schnalle, die nun unkontrolliert hin und her pendelte. Doch der Lichtstahl ordnete sich dem Chaos unter. Er tauchte überall auf und es war das erste Mal, dass ich alle Teile der Höhle sah.
Es blitzte auf, als der Strahl reflektiert wurde. Dann war es wieder dunkel.
Ich blickte nach oben, an die Stelle, wo der Blitz seinen Ursprung hatte und sah im Zwielicht eine Linse. Sie drehte sich. Sie beobachtete mich. Ich kollabierte. TICK
-
Zwei Männer beobachteten über einen kleinen schwarz weißen Monitor den Patienten in seiner Zelle, wie er einem Kollege das erlebte in der Höhle schilderte. Er war verwirrt und wich oft von seiner Geschichte ab, so das man ihn immer wieder darauf ansprechen musste. Andauernd schlug er sein Handgelenk leicht gegen sein Bett, so das ein leises Tick zu hören war. Sobald man seine Hand nahm und dieses Geräusch verklang, fing der Patient an zu schreien. So als würde man ihm sein Leben nehmen.
„Erstaunlich. Nicht wahr?!“
„Was anderes kann man hier wohl kaum behaupten. Jeder scheint auf seine Weise anders zu regieren. Ich hoffe nur, dass unser Experiment bald Fortschritte macht.“
„Keine Frage. So lange wir diesen Weg weitergehen, kann nichts schief gehen.“
Die sehr helle Stimme strahle Autorität und Optimismus aus, so dass nie jemand an den Worten dieses Mannes zweifeln würde.
An der linken Seite der Wand hingen eine ganze Reihe von Monitoren. Jeder zeigte einen anderen Raum und einen anderen Patienten. Nach wenigen Sekunden änderte sich das Bild und zeigte ein anderes. Und mit jedem Wechsel hörte man ein leises...TICK.