Ti-An und der schwarze Regen
Während Ti-Ans Mutter das Feld mit der Spitzhacke bearbeitete, saß Ti-An am Rande des Feldes und beobachtete ihre Mutter. Die Saatzeit hatte im Dorf bereits begonnen, und Ti-An hatte sich angewöhnt jede einzelne Geste, welche ihre Mutter im Verlaufe der Feldarbeit ausführte, genau einzustudieren und dann spielerisch nachzuahmen. Worte kontrolliert zu imitieren war sie noch nicht imstande, weil sie gerade erst angefangen hatte die Sprache als Kommunikationsform zu entdecken. Jedoch prägte sie sich einen besonderen Wortlaut ein, und glaubte dessen Bedeutung genau zu kennen. Ihre Mutter wiederholte ihn sehr häufig, sie blickte sehnsuchtsvoll zum Himmel in Richtung einer dunklen Wolkenformation - weit über die Dorfgrenze hinaus - und sprach: „Es hat wieder begonnen, wann wird es wieder beginnen?“* Ti-An glaubte in der Prozedur eine Form zu erahnen - die Götter um Regen anzuflehen, da die Dürrezeit schon lange anhielt, und daraufhin die Erde mit Händen zu befühlten, um deren Feuchtigkeitsgrad zu bestimmen.
So verbrachten sie die Tage, die Nächte verlebten sie allein in ihrer kleinen Bambushütte bei Reis und Bambussprossen. Der Vater war bereits kurz vor Ti-Ans Geburt in die Stadt gegangen, um Arbeit zu suchen, und bisher nicht zurückgekehrt. Eines frühen Morgens erschien der Dorfvorsteher und klopfte an die Tür, sprach einige wenige Worte mit der Mutter und verschwand wieder. Daraufhin fing die Mutter panikartig an, das wenige Hab und Gut zu packen und ein Proviantpaket für Ti-An vorzubereiten. Fünfzehn Minuten später standen sie mit der nahezu gesamten restlichen Dorfbevölkerung auf dem Dorfplatze versammelt dar. Die Kinder wurden auf der einen Seite zusammengetrieben, während die Erwachsenen sich auf der gegenüberliegenden Seite zusammenhäuften. Es wurde* viel gemurmelt und geschrien auf Seiten der Eltern, bis schließlich Stille einkehrte, und der Dorfvorsteher und einer der Dorfältesten mit einem Seil sämtliche anwesenden Kinder an der Taille verband. In der Folge wurde eine Vielzahl an Instruktionen an die älteren Kinder gegeben, zu denen auch Ti-An gehörte. Sie lauteten wie folgt: „Bleibt in der Schlucht bis alles vorbei ist. Bleibt, bis wir jemanden entsenden euch zu holen. Teilt euch eure Proviantrationen möglichst ein. Gott möge euch schützen.“ Beim Abschied wurden viele Tränen und Umarmungen zwischen den Erzeugten und ihren Angehörigen ausgetauscht, was einen ungewissen Ausgang der Trennung andeutete. Als ein junger Mann auf Anweisung des Dorfvorstehers das Seil ergriff und begann, die Kinder hinfort zu führen, erreichte das Wehklagen seinen Höhepunkt.
Die Reise war weder lang noch beschwerlich und für viele Kinder durchaus ein anregendes Erlebnis - teils aus Freude der neuen Umgebung wegen, teils, weil sie die unmittelbare Ernsthaftigkeit der Lage nicht voll erfassten. Die Kinder erreichten die Schlucht, welche als ihr Versteck dienen sollte, kurz vor Sonnenuntergang in einem Gefühl aus Vorfreude und Unbehagen. Bevor der junge Mann sie verließ, sprach er zu ihnen: „Ihr seid die einzigen, die in der großen Volkszählung noch nicht erfasst sind. Ich aber muss zurück, denn man wird mich vermissen.“* Ti-An führte sich unter den Kindern sogleich als eine Art Anführerin ein, da sie eine der Ältesten und vereinzelt Laute zu sprechen imstande gewesen war. Die Schlucht war allseitig von einer steilen Hügelkette umschlossen, deren einzige schmale Unterbrechung als schwer zugänglicher Eingang fungierte. Viele der Kinder hatten das ganze Unterfangen als eine Art spielerische Prüfung betrachtet, doch als sie sich in der anbrechenden Dunkelheit ihres Alleinseins bewusst wurden, kehrte der Schrecken in ihre Gesichter ein. Unterminierte Klänge der Trauer, der Angst und des Trostes wurden untereinander ausgetauscht, während man die Nacht aneinander gekauert am Boden verbrachte um sich gegen die einkehrende Kälte zu schützen.
Sobald die Sonne erwachte, machte man sich hemmungslos und mit neuem Mute über die Proviantrationen her, welche zugleich die Lebens- und Aufenthaltsdauer in der fremden, feindlichen Umgebung bestimmten. Da es sehr heiß war, und die Kinder in ihrem regulären Alltagsleben nur äußerst kärglichen Zugang zu Nahrung erhielten, konnte man die Gier nach Wasser und Reisbällchen verstehen, was die Hauptbestandteile ihrer Rationen darstellten. In diesem unkontrolliertem Konsum würden die Vorräte sehr bald zu Ende gehen. Einige Kinder fingen an in der Erde zu graben, teils um Nährreiches zu Tage zu fördern, zum Teil imitierten sie das beobachtete Verhalten ihrer Eltern. Die dunkle Wolke, welche zuvor beobachtet ward, rückte langsam dem Dorf entgegen. Ti-An grub weiter in der Erde und wies andere Kinder an, das selbige zu tun. Es wurden ausschließlich Insekten, Regenwürmer und Wurzeln geerntet und dem Speiseplan hinzugefügt, vor allem wegen der in ihnen enthaltenen Flüssigkeit, da das Wasser aus den Vorräten bereits zur Neige ging. Nach Wasser wurde ebenfalls gegraben - unter der sengenden Hitze der Sonne, beeinträchtigt von Hunger, Durst und tagelanger Verwahrlosung. Deutlich erkennen konnte man nun, dass die rauchgenährte dunkle Wolke das Dorf schließlich erreicht hatte. Unter ihr begrub ein Flammenmeer die darunter liegenden Ortschaften und umliegenden Felder. Das Dunkel des Himmels bewegte sich jetzt ungewöhnlich geschwind in Richtung der Schlucht der Kinder. Ti-An blickte empor als sie gerade mit einem Holzstock ein Loch grub und sprach ihre ersten und letzten Worte: „Es hat wieder begonnen.“ Ihre eigentliche Absicht war es, Regen vom Himmel zu erflehen, aber nicht den schwarzen Regen, welcher sie erwarten sollte.