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Thomas und Susanne
Sie kam die Treppe herunter, blieb stehen und schaute auf die Häuserzeile, hinter der eben die Sonne untergegangen war. Ihre Hand hielt sie schützend vor die Augen, obwohl sie schon im Schatten stand. Ich kam die Straße entlang und sie fiel mir auf, wie sie dastand und schaute, und ich blickte auch in die Richtung, aber da war nichts Besonderes. Gewöhnliche Stadthäuser in Grau, in hellem Braun, in Gelb und über den Dächern ein noch erleuchteter Himmel, dessen Lichtquelle man nicht mehr sehen konnte. Wahrscheinlich war sie gerade aus der Kirche gekommen, zu der die Treppe hinaufführte. Täglich ging ich auf dem Weg zur Uni daran vorbei, hatte sie aber noch nie betreten. Die schmalen, langgestreckten Fenster ließen erahnen, dass der Innenraum nur halbdunkel war. Sicher, jetzt war die Frau geblendet vom Abendlicht, dachte ich. Deshalb schützte sie mit der Hand die Augen. Ich kam aus meiner letzten Klausur in Bauphysik und dachte nur in Zahlen: Man könnte doch die Lichtstärke des Kirchenraums messen, die Differenz zum Tagesschein errechnen und das in Beziehung setzen zur Wahrnehmung des Auges. Einen Blendfaktor würde das ergeben, den man genau definieren könnte. Während ich noch über eine Einheit für den Blendfaktor nachdachte und meinen eigenen Namen dafür in Betracht zog, kam sie die Treppe herunter und ging auf ihr Fahrrad zu, das an der Kirchenmauer lehnte. Sie schüttelte den Kopf und ihr Pferdeschwanz wippte hin und her. „Ach nein“, sagte sie leise und drückte auf den platten Vorderreifen.
„Kann ich helfen?“, fragte ich.
„Nein, geht schon“, meinte sie, blickte auf den Reifen und dann auf mich. „Ich hab es nicht weit nach Hause. Ich kann es schieben. Danke.“
„Ich hab gerade einen Haufen Schreibkram hinter mir. Ein wenig Handwerk würde mir jetzt gut gefallen. Wenn ich darf?“, sagte ich.
„Bitte, wenn du meinst."
Ich stellte das Rad auf den Lenker, montierte den Reifen ab und hebelte Mantel und Schlauch von der Felge. Die lederne Satteltasche war mit Ringschlüssel und Flickzeug ausgestattet.
„Vorbildlich, und so schön antik.“
„Ja, ein altes Rad. Aber ich hänge dran.“
„Schön nostalgisch. Und alles da, was man braucht.“
Während ich den Schlauch untersuchte, erzählte ich, dass mein Vater mich als Kind genau eingewiesen hatte in die Kunst des Reifenflickens. „Das muss ein Mann einfach können“, war sein Spruch. Ganz alte Schule. Ich pumpte den Schlauch ein wenig auf, fuhr mit der Lippe darüber und spuckte auf die Stelle, wo ich einen Luftzug spürte. Die Spucke warf eine Blase. Sie schaute mir über die Schulter. „Da“, sagte ich und zeigte auf die Stelle. Ich wischte sie mit dem Ärmel ab, gab ihr den Schlauch in die Hand, schleifte den Gummi und trug den Kleber auf. Wir standen uns nah gegenüber und ich nahm sie jetzt erst genauer wahr. Ihre Haut war blass, ihre Augen schmal und weit auseinander liegend. Die Nasenlinie, die sich zu den Flügeln hin nur wenig weitete, war durch einen leichten Knick unterbrochen. Ihren Mund hielt sie halb geöffnet und die Ohren, die fast durchsichtig erschienen, durchzogen feine Linien. Als wir uns kurz in die Augen sahen, lächelte sie und ich dachte, ich könnte Weihrauch riechen, der sich mit der abendlichen Frühlingsluft und dem Dampf des Gummiklebers vermischte.
„Jetzt der Trockentest. Du musst den Kleber mit dem Handrücken kurz berühren. Wenn er nicht mehr klebt, kommt der Flicken drauf.“
Mit dem Knöchel tupfte sie kurz auf die Stelle und hob die Augenbrauen. „Es geht.“
„Der Rest ist Routine.“ Ich setzte den Flicken auf den Schlauch, dann Schlauch und Mantel auf die Felge, montierte den Reifen und pumpte ihn auf.
„Voilà, fertig.“
„Das war sehr schön“, meinte sie und umfasste kurz meinen Unterarm. „Ich gehe Richtung U-Bahn. Da lang.“
„Da muss ich auch hin“, sagte ich.
Wir gingen nebeneinander die Straße hinunter zur nächsten Station. In den Cafés saßen Leute im Freien, obwohl es abends noch kühl war. Ich wollte schon die Rolltreppe hinabfahren, da ging ich einen Schritt zurück und fragte: „Darf ich dich anrufen?“ Ich zog das Handy aus der Hosentasche, um ihre Nummer zu speichern.
„Nein, ich melde mich bei dir“, sagte sie. „Gib mir deine. Aber ich hab mein Handy nicht dabei.“
Neben der Rolltreppe stand eine Litfaßsäule. Ich sagte: „Dann machen wir das eben analog“, riss die Ecke eines Plakats ab und schrieb meine Nummer darauf.
„Meine Adresse gebe ich dir auch.“
„Auf die Johannespassion“, entgegnete sie kopfschüttelnd. Ich verstand nicht, was sie meinte. Sie sagte: „Nicht schlimm, gib her. Ich bin am Wochenende in der Stadt. Ich rufe dich an.“
Während ich die Treppe hinunterfuhr, drehte ich mich um. Sie stand oben, als Silhouette sichtbar und winkte mir zu. „Ich heiße übrigens Susanne“, rief sie.
„Und ich Thomas.“
Die Seele führt nicht den Schmerz selbst herbei, den sie über ihr Fernsein vom Herrn empfindet, sondern es wird ihr zuweilen ein Pfeil in das Innerste des Herzens und ihre Eingeweide gestoßen, sodass sie nicht weiß, wie ihr ist und was sie will. Sie weiß nicht, wie ihr geschieht, doch ist die Pein so süß, dass es in diesem Leben kein wonnevolleres Vergnügen gibt.
Ich sitze in der halbdunkeln Kirche, draußen rauscht der römische Verkehr vorbei und neben mir liegst du, in geschliffenem Marmor, den Mund halb geöffnet, als wärst du vom Stuhl gerutscht in einem plötzlichen Anfall von Ohnmacht und über dir der Engel, der den Pfeil in der Hand hält, den er dir gleich in den Brustkorb stoßen wird, Teresa, Teresa von Ávila. Seit Stunden sitze ich vor dir, habe nicht geschlafen, habe nichts gegessen, seit ich gestern in den Nachtzug nach Rom gestiegen bin, um dich zu sehen, um dich hier liegen zu sehen und dich zu fragen, was es ist, was du empfindest, wenn du dem Herrn fern bist und ich schlage mit der Faust gegen die Stirn, ich beiße in meine Finger, damit ein Schmerz größer ist, als der, den ich empfinde, weil sie dir folgt und nicht mir.
Als sie mich am folgenden Wochenende anrief, war ich nicht überrascht. Wir verabredeten uns in der Stadt vor einem kleinen Café. Die Straßen waren belebt und es wimmelte vor Leuten, die mit Einkaufstüten von Geschäft zu Geschäft zogen. Mittendrin stand sie mit ihrem altmodischen Fahrrad und stellte sich auf die Zehenspitzen, als sie mich kommen sah.
„Hallo, schön, dass du dich gemeldet hast“, begrüßte ich sie.
„Das war doch abgemacht.“
„Ja, schon. Klar. Gehen wir rein?“
Wir betraten das Café, in dem die Tische eng nebeneinander standen und suchten einen Platz in der Ecke. Aus dem Lautsprecher dröhnte Musik und alle sprachen mit gehobener Stimme. Sie gab leise ihre Bestellung beim Kellner auf: „Einen Tee und einen Zitronenkuchen, bitte.“ Von den Nebentischen her drangen einzelne Wortfetzen zu uns herüber. Einmal hörte man deutlich „vögeln.“ Drei Mädchen hatten neben uns Platz genommen und besprachen lautstark ihre Beziehungen. Susanne schaute mich von unten an. Wir sahen zur Seite und lachten.
„Kennst du Susannes Geschichte?“, fragte sie. Ich musste mich über den kleinen Tisch lehnen, um sie zu verstehen.
„Du meinst, deine Geschichte?“
„Nein, die meiner Namensgeberin. Die biblische Susanne.“
„Ich bin nicht so gläubig. Die Bibel, Jesus, Maria?“
„Das ist Neues Testament“, erklärte sie. „Susanne ist aus dem Alten. Stell dir eine schöne Frau vor. Sie ist nackt und nimmt ein Bad in einem orientalischen Garten.“
„Die Geschichte gefällt mir“, sagte ich.
Sie lächelte und erzählte weiter, wie Susanne von zwei alten Männern beobachtet wurde. Ihr Begehren wurde geweckt, so drückte sie es aus, und sie versuchten Susanne zu vergewaltigen.
„Als sich Susanne wehrte und ihren Mann rief, drehten die Alten den Spieß herum: Susanne habe die Ehe gebrochen mit einem jungen Mann, der angeblich im Garten zu ihr kam, behaupteten die Männer. Vor Gericht sollte Susanne wegen Ehebruchs zum Tode verurteilt werden. Aber der Prophet Daniel, zu dem der Heilige Geist gesprochen hatte, kam dazu und befragte beide Männer getrennt voneinander, unter welchem Baum Susanne mit dem Mann denn gesessen hätte. Der eine sagte: Unter der Zeder saß sie. Der andere behauptete: unter der Eiche. So überführte Daniel sie der Lüge und sie wurden beide getötet.“
Während sie die Geschichte erzählte, hörte ich den Lärm ringsherum nicht. Ich sah nur auf ihre Lippen, um die Worte ablesen zu können, die sie in einem Singsang von sich gab, der mich an orientalische Märchenerzähler erinnerte. Mit geschmeidigen Gesten malte sie mit der Hand den Fluss ihrer Sätze nach, ließ sich die Worte einmal sanft auf der Zunge zergehen, um andere energisch herauszuschleudern, als wollte sie ein Ausrufezeichen setzen.
„Und was soll uns die Geschichte sagen?“ Ich wartete ein wenig mit meiner Frage.
„Dass unser Leib heilig ist und dass er rein bleiben kann, weil er beschützt wird“, antwortete sie leise.
„Das verstehe ich nicht“, sagte ich. Sie erklärte weiter und ich legte meine Hand auf ihre. Sie zog sie zurück, erhob sich unvermittelt und verließ das Lokal. Eilig zahlte ich und rannte ihr nach. Sie stand mit ihrem Fahrrad an der Ecke und wartete auf mich. Ich berührte leicht ihre Schulter und wollte sie fragen, was los ist. Sie drehte sich weg und sagte: „Nichts soll dich ängstigen, nichts dich erschrecken. Alles vergeht.“ Dann ließ sie mich stehen. „Alles vergeht“, wiederholte ich und sah, wie sie am Stadtbrunnen die Hände ins Wasser tauchte und in der Menschenmenge verschwand.
In der folgenden Woche bekam ich das Bild der Susanne im Bad nicht aus dem Kopf. Susanne ebenso wenig. Ich dachte an sie, wie sie erzählte, an ihre Lippen, an das „Vögeln“ vom Nebentisch. An ihre Hand im Brunnen. „Nichts soll dich ängstigen“ war ein Zitat von Teresa von Ávila, ergab meine Google-Recherche. Den Namen hatte ich nie gehört. Bilder zeigten eine Marmorstatue in einer römischen Kirche. Mit Freunden verabredete ich mich zum Billardspielen. An dem Abend gelang nichts. Ich verschlug Kugeln, spielte falsch über die Bande und versenkte die Schwarze immer zu früh. „Wo ist dein Kopf, Alter. Ist was am Laufen?“, scherzten sie. Am Mittwoch kam ein Brief mit den Prüfungsergebnissen. Ich war nicht überrascht. Fast ließ es mich gleichgültig. Die Berechnung der Brückenstatik war gelungen. Einen Bogen über den Fluss spannen, das konnte ich. Wohin Susannes Brücke führte, wusste ich nicht, und ebenso wenig, ob ich sie begehen könnte. Ich beschloss, sie anzurufen. Sie hatte ihre Nummer nicht unterdrückt. Ich speicherte sie auf dem Handy unter „Susanne im Bad“.
Es kam mir vor, als durchbohrte er mit dem Pfeil mein Herz bis aufs Innerste, und wenn er ihn wieder herauszog, war es mir, als zöge er diesen innersten Herzensteil mit heraus. Die Wonne, die dieser ungemeine Schmerz verursachte, war so überschwänglich, dass ich unmöglich von ihm frei zu werden verlangen, noch mit etwas Geringerem mich begnügen konnte als mit Gott.
Ich sitze in der römischen Kirche und schaue nach oben. Ich sehe mich an die Decke gemalt als nackten Mann, der kopfüber aus der Wand fällt mit einer Schlange in der Hand, die ihn angreift und darüber sitzt Susanne im strahlenden Licht. Engel tragen sie dem Himmel entgegen, während ich tief hinabstürze und auf den harten Kirchenboden falle.
Als ich sie am Ende der Woche anrief, willigte sie ein, sich mit mir zu treffen. Über ihr plötzliches Verschwinden verlor sie kein Wort. Ich schlug eine Radtour am Fluss entlang stadtauswärts vor, ohne festes Ziel. Die Wettervorhersage war gut. Sie meinte, zehn Kilometer außerhalb der Stadt läge ein Kloster mit einer sehenswerten Kirche. Wir fuhren hin, aßen in der Klosterwirtschaft und redeten, als ob nichts gewesen wäre. Ich vermied den Körperkontakt, machte einen Bogen um religiöse Themen und hörte ihr aufmerksam zu, als sie in der Kirche christliche Symbole und Figuren erklärte. Beim Abschied fragte ich: „Hast du Lust, nächste Woche auf einen Berg zu gehen? Die niedrigen Gipfel sind schon schneefrei.“ Sie war einverstanden.
Am darauffolgenden Samstag trafen wir uns am Bahnhof, stiegen in den Zug ins Oberland und brachen auf zu einer Tour. Bis dahin hatte ich sie als schmal und fast zerbrechlich wahrgenommen. Auf den steilen Bergpfaden ging sie sicher und gewandt, setzte mit Bedacht, aber ohne Zögern Fuß vor Fuß, balancierte auf spitzen Steinkanten und hatte die Wegmarkierungen, die als rote Punkte auf die Felsen gemalt waren, immer im Blick.
„Du bist nicht zum ersten Mal in den Bergen“, sagte ich.
„Ich mag das Oben, das Gefühl, über der Welt zu sein. Deshalb bin ich oft gewandert.“
„Wir sind als Kinder jeden Sommer über die Alpen gefahren, über den Brenner nach Italien“, erzählte ich und berichtete, wie ich als Kind davon träumte, Autobahnen über die Berge zu bauen. Ich konstruierte damals zu Hause waghalsige Straßen aus Legoplatten, die über hohe Stelzen vom Wohnzimmer in die Küche führten. Unter der Last der Spielzeugautos brach die Konstruktion jedes Mal zusammen. Ich legte mich dann in den Haufen aus Legosteinen und stellte mir vor, ein Unfallopfer zu sein, das im Wagen, der in die Tiefe gestürzt war, verblutete.
„Das ist eine schreckliche Vorstellung“, sagte sie und stieg die letzten Steinstufen auf den Gipfel hinauf.
„Wahrscheinlich werde ich deswegen Bauingenieur, um das zu vermeiden.“
„Du wirst sicher ein guter Statiker“, sagte sie. Am Gipfelkreuz standen wir zu beiden Seiten und schauten in die Ebene hinaus, die sich am Horizont im dunstigen Licht verlor. Wir hielten uns am Balken fest, so dass sich unsere Hände berührten. Sie hob einen Arm, legte ihn auf das Kreuz, senkte dann ihren Kopf und berührte das Holz mit der Stirn. Ihre Haare, die sie offen trug, fielen an den Wangen herab, dass man ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sie lehnte lange am Kreuz und ich stand neben ihr, ohne mich zu bewegen und ohne sie weiter zu berühren. Das wäre der Moment, sich näherzukommen, dachte ich und fragte mich, was mich daran hinderte, ihr übers Haar zu streichen oder sie zu umarmen. Bei jeder anderen Frau hätte ich es so gemacht. Aber Susanne war anders. Wie sie da am Kreuz stand, schien sie unberührbar und fern, wie das Bild einer Trauernden, die in sich versunken die Welt um sich herum vergessen hatte. Nach einer langen Weile hob sie den Kopf. Sie hatte eine Träne im Auge.
„Ist es wegen ihm?“, fragte ich und deutete auf das Kreuz.
„Wer glaubt, versteht es“, sagte sie.
„Du weißt, dass ich …“
Sie fiel mir ins Wort: „Ich weiß, das ist nicht deine Welt.“
Wir gingen schweigend den Weg zurück, der unten durch den Wald und dann in weiten Schwüngen über die Forststraße zum Bahnhof führte. Als wir in den Zug stiegen, sahen wir einen alten Mann, der versuchte, seinen Koffer zu verstauen. Sie ging auf den Mann zu, packte den Koffer, streckte sich und hievte ihn mit einer behänden Bewegung nach oben in das Gepäckgitter. Wieder fiel mir auf, wie anmutig und elegant sie sich bewegte mit der schweren Last über dem Kopf. Ihre Zerbrechlichkeit wich einer Kraft, die man bei ihr auf den ersten Blick nicht vermutete.
„Ich mache sozialen Dienst während der Woche. In einer kirchlichen Einrichtung“, erklärte sie. „Ich pflege dort alte Menschen. Deshalb der Blick dafür.“ Sie deutete auf den Mann.
„Ich bin beeindruckt“, sagte ich. Die ganze Fahrt erzählte sie von der Erfüllung, die sie empfinde, wenn sie Menschen helfen könne. „Im Grunde ist es ein Werk der höheren Liebe“, sagte sie als wir in den Stadtbahnhof einfuhren. Wir stiegen aus und sie küsste mich zum Abschied flüchtig auf die Wange. Am nächsten Wochenende wollten wir uns im Stadtpark treffen.
Es ist dies kein körperlicher, sondern ein geistiger Schmerz, wiewohl auch der Leib, und zwar nicht im geringen Maße, an ihm teilnimmt. Der Liebesverkehr, der nunmehr zwischen der Seele und Gott stattfindet, ist so süß, dass ich zur Güte des Herrn flehe, er wolle ihn dem zu kosten geben, der etwa meint, ich lüge hierin.
Vor dem Park überquerte ich eine Straße und bemerkte eine alte Frau, die zögerlich einen Fuß über die Bordsteinkante setzte. Ich fragte, ob ich ihr helfen könnte. Sie sagte nichts, nickte nur und ich führte sie über den Zebrastreifen. Die Frau sah mich von unten an und strich mir über die Wange.
„Du bist ja doch gläubig.“
Susanne hatte mich beobachtet und kam von hinten auf mich zu.
„Das ist nur ein Sozialreflex. Ich habe ein freiwilliges Jahr im Altenheim gemacht. Seitdem leide ich auch am Helfersyndrom.“
„Indem du so bist, glaubst du, aber du weißt es nur nicht“, sagte sie.
„Dann kann ich jede Religion haben. Dann kann ich Moslem sein, Jude, Buddhist. Haben nicht alle Religionen eine barmherzige Seite? Und haben nicht alle eine unbarmherzige Seite?“
„Was du tust, ist wichtig“, sagte sie. „Erzähl mir von deiner Woche.“ Sie stieß mich mit dem Ellenbogen in die Seite. Die Frühlingssonne lockte die Stadtbewohner in den Park. Bunte Decken wurden ausgebreitet und die ersten Sonnenanbeter legten sich leicht bekleidet auf den Rasen. Wir gingen über die Wiese in Richtung Säulenhalle, die über dem Park auf einer Anhöhe stand. Ein kleiner Junge umkreiste die Säulen des runden Gebäudes. Susanne ging ihm hinterher. Ich folgte ihr. Der Junge machte ein Spiel daraus und lief voraus und wir ihm nach. Wir umkreisten die Halle mehrere Male mit immer schnelleren Schritten. Auf dem Rasen daneben lagen seine Eltern und riefen ihm zu: „Johannes, langsam“. In dem Moment fiel er über die eigenen Füße und schlug mit dem Kopf gegen eine Treppenkante. Wir beugten uns zu ihm hinunter. Seine Augen waren geschlossen und er gab keinen Laut von sich. Wir streichelten seinen Kopf. Die Eltern liefen herbei und schrien: “Johannes!“ Er lag wie tot auf der Treppe und rührte sich nicht. Seine Mutter drückte ihm auf den Brustkorb. Sie rief immer wieder seine Namen. Er machte einen tiefen Atemzug, öffnete die Augen und fing an zu schreien. Der Vater hob ihn hoch und sie liefen mit ihm den Hügel hinunter. Man hörte, wie sein Schreien in ein stoßweises Seufzen überging, das nach und nach abnahm. Wir knieten immer noch auf dem Boden und sahen ihnen nach.
Ich roch Weihrauch und Frühlingsluft. Wir schauten uns lange in die Augen, kamen uns näher und küssten uns. Sie löste ihre Lippen von den meinen, rannte davon, die Wiese hinab, schlug Haken, um nicht auf die ausgebreiteten Decken zu treten, stolperte fast und verschwand hinter den Büschen auf dem Weg, der zur U-Bahn führte. Ich blieb allein auf der Anhöhe und hob ihre Tasche auf. Ein Buch steckte darin. „Visionen der Teresa von Ávila“.
Am Abend klingelte es an meiner Tür. Ich öffnete und sie kam herein. Ich schloss die Tür und wir blieben im Gang stehen. Wir sprachen kein Wort. Sie legte die flache Hand auf meine und führte sie durch die Luft. Dasselbe machte sie mit der anderen Hand. Ich folgte ihren Bewegungen. Ein Schritt vor, ein Schritt zurück, zur Seite, die Hand nach oben, nach unten. Wir sahen uns in die Augen, unentwegt. Sie strich mit ihrer Hand über meine Lippen und über den Hals, über meine Brust und legte sie auf den Bauch und ich machte es ebenso bei ihr. Wir führten unsere Hände an die Ohren und wiegten die Köpfe hin und her. Langsam knöpfte sie mein Hemd auf in ruhigen Bewegungen und ich das ihre. Unsere Blicke waren aufeinander gerichtet und wir zögerten das Blinzeln so lange hinaus, bis die Augen brannten. Sie streifte ihre Bluse ab und ich mein Hemd. Dann öffneten wir unsere Hosenknöpfe und die Reißverschlüsse und zogen uns aus. Alles langsam und ohne uns aus den Augen zu verlieren, bis wir nackt waren. Wir standen lange einfach nur da und kamen dann langsam aufeinander zu. Sie führte ihre Arme mit mir nach oben, bis wir sie waagrecht hielten. Wir verschränkten unsere Finger ineinander. Dann atmete sie leise aus und hielt ihre Augen offen. Ich bewegte mich nicht. Sie schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Durch ihre Lider konnte ich das Weiße in den Augen sehen. Ich hob meine Hüfte leicht, sie atmete tief ein und hielt dann die Luft lange an. Dann hauchten wir uns beide an mit geschlossenen Augen.
Durch die geöffnete Balkontür hörte man den Straßenverkehr. Ich ging hinaus und sah am Stadtrand das beleuchtete Riesenrad auf dem Gelände, wo das Frühlingsfest stattfand. Sie kam aus dem Bad mit nassen Haaren und stellte sich barfuß neben mich. Wir schwiegen lange. „Ich gehe in ein Kloster“, sagte sie. „Ich werde Karmelitin.“
„Du gehst auf den heiligen Berg. Zu Teresa. Unbeschuhte Karmelitin, passt ja“, sagte ich und zeigte auf ihre Füße.
„Woher weißt du das?“
„Ich kann eins und eins zusammenzählen, das kann ich wirklich“, sagte ich. „Ich kann googeln. Du warst im Kloster während der Woche, oder?“
„Ja“, antwortete sie.
Ich sagte: „Ich kann nicht gut über diese Dinge reden. Aber was ich für dich empfinde …“
Sie nahm meine Hand und legte sie auf ihre Brust. „Ich empfinde es da“, sagte sie. „Ich habe den Herrn befragt, wochenlang. Er soll mir ein Zeichen geben, zu mir sprechen, was mein Weg ist. Ich spüre es da.“ Sie drückte meine Hand noch fester.
„Und was ist dein verdammter Weg?“ Ich schrie sie an und zog meine Hand weg. Sie wich einen Schritt zurück.
„Mein Postulat beginnt am Sonntag“, sagte sie leise und schaute auf die Straße hinunter. „Nächste Woche. Es würde mir viel bedeuten, wenn du kommst.“
„Weißt du, was ihr da verlangt, du und dein Herr?“, sagte ich und wendete mich von ihr ab. Sie ging in das Zimmer zurück, zog ihre Schuhe an, nahm ihre Tasche und ging lautlos.
Die Seele ist hier der Welt ganz abgestorben, um desto mehr mit Gott zu leben. Aber es ist ein wonnevoller Tod, weil die Seele, obwohl in Wirklichkeit noch im Leibe, sich von ihm loszulösen scheint, um desto inniger mit Gott vereinigt zu werden.
Auf dem Altar steht ein kleines Kreuz aus Gold. Teresa, hast du ihn wirklich gesehen, hast du ihn wirklich gefühlt? Ich möchte wissen, woher dein Schmerz und deine Lust daran kommen? Aus einer übermächtigen Vorstellungskraft vielleicht, aber doch nicht aus einer wirklichen Begegnung. Begegnungen kannst du anfassen, kannst du messen. Du konntest nichts messen, du konntest nichts anfassen, nur vorstellen konntest du und damit hast du gewuchert, mit dem Zins der Vorstellung, den du ins Hundertfache aufgebauscht hast in deiner kranken Fantasie und an dich habe ich sie verloren, kleiner, goldener Mann, kleiner erbärmlicher goldener Mann.
Im Innenhof des Klosters plätscherte ein Brunnen. Die Gebäudeflügel, die den Hof an drei Seiten umschlossen, waren strahlend weiß gestrichen. Nach den warmen Frühlingstagen grünte der Rasen auf den weiten Flächen zwischen den Kieselwegen, die zur Kirche führten. Eine Säulenhalle war ihr vorgelagert. Die Halle war mit Fresken bemalt. Auf dem Bild neben dem Portal kniete eine Frau mit gesenktem Kopf. Über ihr schwebte ein Engel mit einem Spruchband. „Ave Maria“ stand darauf. Zwischen ihnen blühte eine Lilie in einer Vase. Ich betrat die Kirche. Sie war fast leer. Hinter dem Altar saßen Nonnen in einer Reihe. In der ersten Bank davor saß Susanne. Der Gottesdienst war fast zu Ende. Die Nonnen sangen mit dünnen Stimmen ein Lied, das die Orgel begleitete. Ein Priester stand am Altar und meinte, bevor er zum Schluss komme, wünsche er der Postulantin, dass sie den Weg Jesu erkennen möge in der Gemeinschaft des Konvents der Heiligen Teresa. Die Orgel setzte wieder ein, die Nonnen standen auf und gingen in einer Prozession um den Altar herum. Nach einer Kniebeuge wendeten sie sich nach links, wo sich eine Tür öffnete. Susanne folgte ihnen und eine Gruppe Kirchenbesucher, die in einer hinteren Bank saß. Wahrscheinlich war es ihre Familie. Ich rannte nach vorne. Meine Schritte hallten im hohen Gewölbe. Vorne schien die Sonne durch die Fenster auf der rechten Seite. Sie warf ihr Licht auf die Weihrauchschwaden, die noch in der Luft lagen. Scharf geschnittene Strahlen kreuzten den Kirchenraum. Ich schrie „Susanne!“. Sie drehte sich um und blieb stehen. Die Prozession hielt an. Eine Nonne mit einem goldenen Kreuz auf der Brust kam auf uns zu.
„Ist es das, was du suchst?“, rief ich und deutete auf die beleuchteten Rauchschwaden. „Schall und Rauch?“
Sie schwieg und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Dann sagte sie: „Es war nur ein Tropfen von dem gewaltigen Strom, der uns im Himmel erwartet.“
Die Schwester mit dem Kreuz fasste sie am Arm und sagte: „Susanne, es ist Ihre freie Entscheidung.“ Da drehte sie sich langsam um und ging auf die Tür zu. Die Nonnen folgten ihr schweigend. Ich ging ihnen nach und sah hinter der Tür einen langen weißen Gang. Dann fiel die Tür ins Schloss.
Ich verließ die Kirche und hob vom Weg eine Hand voll Steine auf. Dann ging ich zurück zu dem Gemälde mit der Frau und dem Engel und hob den Arm, um sie gegen das Gemälde zu werfen. Ich stand eine Weile da, senkte den Arm und ließ die Steine auf den Boden fallen. Zurück in der Stadt löste ich eine Fahrkarte für den Nachtzug nach Rom. Im Waggon fand ich einen Fensterplatz. Der Zug fuhr aus der Stadt hinaus und bald sah man die Alpen, deren hohe Gipfel noch mit Schnee bedeckt waren.