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Thomas und Susanne

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05.10.2016
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Thomas und Susanne

Sie kam die Treppe herunter, blieb stehen und schaute auf die Häuserzeile, hinter der eben die Sonne untergegangen war. Ihre Hand hielt sie schützend vor die Augen, obwohl sie schon im Schatten stand. Ich kam die Straße entlang und sie fiel mir auf, wie sie dastand und schaute, und ich blickte auch in die Richtung, aber da war nichts Besonderes. Gewöhnliche Stadthäuser in Grau, in hellem Braun, in Gelb und über den Dächern ein noch erleuchteter Himmel, dessen Lichtquelle man nicht mehr sehen konnte. Wahrscheinlich war sie gerade aus der Kirche gekommen, zu der die Treppe hinaufführte. Täglich ging ich auf dem Weg zur Uni daran vorbei, hatte sie aber noch nie betreten. Die schmalen, langgestreckten Fenster ließen erahnen, dass der Innenraum nur halbdunkel war. Sicher, jetzt war die Frau geblendet vom Abendlicht, dachte ich. Deshalb schützte sie mit der Hand die Augen. Ich kam aus meiner letzten Klausur in Bauphysik und dachte nur in Zahlen: Man könnte doch die Lichtstärke des Kirchenraums messen, die Differenz zum Tagesschein errechnen und das in Beziehung setzen zur Wahrnehmung des Auges. Einen Blendfaktor würde das ergeben, den man genau definieren könnte. Während ich noch über eine Einheit für den Blendfaktor nachdachte und meinen eigenen Namen dafür in Betracht zog, kam sie die Treppe herunter und ging auf ihr Fahrrad zu, das an der Kirchenmauer lehnte. Sie schüttelte den Kopf und ihr Pferdeschwanz wippte hin und her. „Ach nein“, sagte sie leise und drückte auf den platten Vorderreifen.
„Kann ich helfen?“, fragte ich.
„Nein, geht schon“, meinte sie, blickte auf den Reifen und dann auf mich. „Ich hab es nicht weit nach Hause. Ich kann es schieben. Danke.“
„Ich hab gerade einen Haufen Schreibkram hinter mir. Ein wenig Handwerk würde mir jetzt gut gefallen. Wenn ich darf?“, sagte ich.
„Bitte, wenn du meinst."
Ich stellte das Rad auf den Lenker, montierte den Reifen ab und hebelte Mantel und Schlauch von der Felge. Die lederne Satteltasche war mit Ringschlüssel und Flickzeug ausgestattet.
„Vorbildlich, und so schön antik.“
„Ja, ein altes Rad. Aber ich hänge dran.“
„Schön nostalgisch. Und alles da, was man braucht.“
Während ich den Schlauch untersuchte, erzählte ich, dass mein Vater mich als Kind genau eingewiesen hatte in die Kunst des Reifenflickens. „Das muss ein Mann einfach können“, war sein Spruch. Ganz alte Schule. Ich pumpte den Schlauch ein wenig auf, fuhr mit der Lippe darüber und spuckte auf die Stelle, wo ich einen Luftzug spürte. Die Spucke warf eine Blase. Sie schaute mir über die Schulter. „Da“, sagte ich und zeigte auf die Stelle. Ich wischte sie mit dem Ärmel ab, gab ihr den Schlauch in die Hand, schleifte den Gummi und trug den Kleber auf. Wir standen uns nah gegenüber und ich nahm sie jetzt erst genauer wahr. Ihre Haut war blass, ihre Augen schmal und weit auseinander liegend. Die Nasenlinie, die sich zu den Flügeln hin nur wenig weitete, war durch einen leichten Knick unterbrochen. Ihren Mund hielt sie halb geöffnet und die Ohren, die fast durchsichtig erschienen, durchzogen feine Linien. Als wir uns kurz in die Augen sahen, lächelte sie und ich dachte, ich könnte Weihrauch riechen, der sich mit der abendlichen Frühlingsluft und dem Dampf des Gummiklebers vermischte.
„Jetzt der Trockentest. Du musst den Kleber mit dem Handrücken kurz berühren. Wenn er nicht mehr klebt, kommt der Flicken drauf.“
Mit dem Knöchel tupfte sie kurz auf die Stelle und hob die Augenbrauen. „Es geht.“
„Der Rest ist Routine.“ Ich setzte den Flicken auf den Schlauch, dann Schlauch und Mantel auf die Felge, montierte den Reifen und pumpte ihn auf.
„Voilà, fertig.“
„Das war sehr schön“, meinte sie und umfasste kurz meinen Unterarm. „Ich gehe Richtung U-Bahn. Da lang.“
„Da muss ich auch hin“, sagte ich.
Wir gingen nebeneinander die Straße hinunter zur nächsten Station. In den Cafés saßen Leute im Freien, obwohl es abends noch kühl war. Ich wollte schon die Rolltreppe hinabfahren, da ging ich einen Schritt zurück und fragte: „Darf ich dich anrufen?“ Ich zog das Handy aus der Hosentasche, um ihre Nummer zu speichern.
„Nein, ich melde mich bei dir“, sagte sie. „Gib mir deine. Aber ich hab mein Handy nicht dabei.“
Neben der Rolltreppe stand eine Litfaßsäule. Ich sagte: „Dann machen wir das eben analog“, riss die Ecke eines Plakats ab und schrieb meine Nummer darauf.
„Meine Adresse gebe ich dir auch.“
„Auf die Johannespassion“, entgegnete sie kopfschüttelnd. Ich verstand nicht, was sie meinte. Sie sagte: „Nicht schlimm, gib her. Ich bin am Wochenende in der Stadt. Ich rufe dich an.“
Während ich die Treppe hinunterfuhr, drehte ich mich um. Sie stand oben, als Silhouette sichtbar und winkte mir zu. „Ich heiße übrigens Susanne“, rief sie.
„Und ich Thomas.“

Die Seele führt nicht den Schmerz selbst herbei, den sie über ihr Fernsein vom Herrn empfindet, sondern es wird ihr zuweilen ein Pfeil in das Innerste des Herzens und ihre Eingeweide gestoßen, sodass sie nicht weiß, wie ihr ist und was sie will. Sie weiß nicht, wie ihr geschieht, doch ist die Pein so süß, dass es in diesem Leben kein wonnevolleres Vergnügen gibt.
Ich sitze in der halbdunkeln Kirche, draußen rauscht der römische Verkehr vorbei und neben mir liegst du, in geschliffenem Marmor, den Mund halb geöffnet, als wärst du vom Stuhl gerutscht in einem plötzlichen Anfall von Ohnmacht und über dir der Engel, der den Pfeil in der Hand hält, den er dir gleich in den Brustkorb stoßen wird, Teresa, Teresa von Ávila. Seit Stunden sitze ich vor dir, habe nicht geschlafen, habe nichts gegessen, seit ich gestern in den Nachtzug nach Rom gestiegen bin, um dich zu sehen, um dich hier liegen zu sehen und dich zu fragen, was es ist, was du empfindest, wenn du dem Herrn fern bist und ich schlage mit der Faust gegen die Stirn, ich beiße in meine Finger, damit ein Schmerz größer ist, als der, den ich empfinde, weil sie dir folgt und nicht mir.

Als sie mich am folgenden Wochenende anrief, war ich nicht überrascht. Wir verabredeten uns in der Stadt vor einem kleinen Café. Die Straßen waren belebt und es wimmelte vor Leuten, die mit Einkaufstüten von Geschäft zu Geschäft zogen. Mittendrin stand sie mit ihrem altmodischen Fahrrad und stellte sich auf die Zehenspitzen, als sie mich kommen sah.
„Hallo, schön, dass du dich gemeldet hast“, begrüßte ich sie.
„Das war doch abgemacht.“
„Ja, schon. Klar. Gehen wir rein?“
Wir betraten das Café, in dem die Tische eng nebeneinander standen und suchten einen Platz in der Ecke. Aus dem Lautsprecher dröhnte Musik und alle sprachen mit gehobener Stimme. Sie gab leise ihre Bestellung beim Kellner auf: „Einen Tee und einen Zitronenkuchen, bitte.“ Von den Nebentischen her drangen einzelne Wortfetzen zu uns herüber. Einmal hörte man deutlich „vögeln.“ Drei Mädchen hatten neben uns Platz genommen und besprachen lautstark ihre Beziehungen. Susanne schaute mich von unten an. Wir sahen zur Seite und lachten.
„Kennst du Susannes Geschichte?“, fragte sie. Ich musste mich über den kleinen Tisch lehnen, um sie zu verstehen.
„Du meinst, deine Geschichte?“
„Nein, die meiner Namensgeberin. Die biblische Susanne.“
„Ich bin nicht so gläubig. Die Bibel, Jesus, Maria?“
„Das ist Neues Testament“, erklärte sie. „Susanne ist aus dem Alten. Stell dir eine schöne Frau vor. Sie ist nackt und nimmt ein Bad in einem orientalischen Garten.“
„Die Geschichte gefällt mir“, sagte ich.
Sie lächelte und erzählte weiter, wie Susanne von zwei alten Männern beobachtet wurde. Ihr Begehren wurde geweckt, so drückte sie es aus, und sie versuchten Susanne zu vergewaltigen.
„Als sich Susanne wehrte und ihren Mann rief, drehten die Alten den Spieß herum: Susanne habe die Ehe gebrochen mit einem jungen Mann, der angeblich im Garten zu ihr kam, behaupteten die Männer. Vor Gericht sollte Susanne wegen Ehebruchs zum Tode verurteilt werden. Aber der Prophet Daniel, zu dem der Heilige Geist gesprochen hatte, kam dazu und befragte beide Männer getrennt voneinander, unter welchem Baum Susanne mit dem Mann denn gesessen hätte. Der eine sagte: Unter der Zeder saß sie. Der andere behauptete: unter der Eiche. So überführte Daniel sie der Lüge und sie wurden beide getötet.“
Während sie die Geschichte erzählte, hörte ich den Lärm ringsherum nicht. Ich sah nur auf ihre Lippen, um die Worte ablesen zu können, die sie in einem Singsang von sich gab, der mich an orientalische Märchenerzähler erinnerte. Mit geschmeidigen Gesten malte sie mit der Hand den Fluss ihrer Sätze nach, ließ sich die Worte einmal sanft auf der Zunge zergehen, um andere energisch herauszuschleudern, als wollte sie ein Ausrufezeichen setzen.
„Und was soll uns die Geschichte sagen?“ Ich wartete ein wenig mit meiner Frage.
„Dass unser Leib heilig ist und dass er rein bleiben kann, weil er beschützt wird“, antwortete sie leise.
„Das verstehe ich nicht“, sagte ich. Sie erklärte weiter und ich legte meine Hand auf ihre. Sie zog sie zurück, erhob sich unvermittelt und verließ das Lokal. Eilig zahlte ich und rannte ihr nach. Sie stand mit ihrem Fahrrad an der Ecke und wartete auf mich. Ich berührte leicht ihre Schulter und wollte sie fragen, was los ist. Sie drehte sich weg und sagte: „Nichts soll dich ängstigen, nichts dich erschrecken. Alles vergeht.“ Dann ließ sie mich stehen. „Alles vergeht“, wiederholte ich und sah, wie sie am Stadtbrunnen die Hände ins Wasser tauchte und in der Menschenmenge verschwand.
In der folgenden Woche bekam ich das Bild der Susanne im Bad nicht aus dem Kopf. Susanne ebenso wenig. Ich dachte an sie, wie sie erzählte, an ihre Lippen, an das „Vögeln“ vom Nebentisch. An ihre Hand im Brunnen. „Nichts soll dich ängstigen“ war ein Zitat von Teresa von Ávila, ergab meine Google-Recherche. Den Namen hatte ich nie gehört. Bilder zeigten eine Marmorstatue in einer römischen Kirche. Mit Freunden verabredete ich mich zum Billardspielen. An dem Abend gelang nichts. Ich verschlug Kugeln, spielte falsch über die Bande und versenkte die Schwarze immer zu früh. „Wo ist dein Kopf, Alter. Ist was am Laufen?“, scherzten sie. Am Mittwoch kam ein Brief mit den Prüfungsergebnissen. Ich war nicht überrascht. Fast ließ es mich gleichgültig. Die Berechnung der Brückenstatik war gelungen. Einen Bogen über den Fluss spannen, das konnte ich. Wohin Susannes Brücke führte, wusste ich nicht, und ebenso wenig, ob ich sie begehen könnte. Ich beschloss, sie anzurufen. Sie hatte ihre Nummer nicht unterdrückt. Ich speicherte sie auf dem Handy unter „Susanne im Bad“.

Es kam mir vor, als durchbohrte er mit dem Pfeil mein Herz bis aufs Innerste, und wenn er ihn wieder herauszog, war es mir, als zöge er diesen innersten Herzensteil mit heraus. Die Wonne, die dieser ungemeine Schmerz verursachte, war so überschwänglich, dass ich unmöglich von ihm frei zu werden verlangen, noch mit etwas Geringerem mich begnügen konnte als mit Gott.
Ich sitze in der römischen Kirche und schaue nach oben. Ich sehe mich an die Decke gemalt als nackten Mann, der kopfüber aus der Wand fällt mit einer Schlange in der Hand, die ihn angreift und darüber sitzt Susanne im strahlenden Licht. Engel tragen sie dem Himmel entgegen, während ich tief hinabstürze und auf den harten Kirchenboden falle.

Als ich sie am Ende der Woche anrief, willigte sie ein, sich mit mir zu treffen. Über ihr plötzliches Verschwinden verlor sie kein Wort. Ich schlug eine Radtour am Fluss entlang stadtauswärts vor, ohne festes Ziel. Die Wettervorhersage war gut. Sie meinte, zehn Kilometer außerhalb der Stadt läge ein Kloster mit einer sehenswerten Kirche. Wir fuhren hin, aßen in der Klosterwirtschaft und redeten, als ob nichts gewesen wäre. Ich vermied den Körperkontakt, machte einen Bogen um religiöse Themen und hörte ihr aufmerksam zu, als sie in der Kirche christliche Symbole und Figuren erklärte. Beim Abschied fragte ich: „Hast du Lust, nächste Woche auf einen Berg zu gehen? Die niedrigen Gipfel sind schon schneefrei.“ Sie war einverstanden.
Am darauffolgenden Samstag trafen wir uns am Bahnhof, stiegen in den Zug ins Oberland und brachen auf zu einer Tour. Bis dahin hatte ich sie als schmal und fast zerbrechlich wahrgenommen. Auf den steilen Bergpfaden ging sie sicher und gewandt, setzte mit Bedacht, aber ohne Zögern Fuß vor Fuß, balancierte auf spitzen Steinkanten und hatte die Wegmarkierungen, die als rote Punkte auf die Felsen gemalt waren, immer im Blick.
„Du bist nicht zum ersten Mal in den Bergen“, sagte ich.
„Ich mag das Oben, das Gefühl, über der Welt zu sein. Deshalb bin ich oft gewandert.“
„Wir sind als Kinder jeden Sommer über die Alpen gefahren, über den Brenner nach Italien“, erzählte ich und berichtete, wie ich als Kind davon träumte, Autobahnen über die Berge zu bauen. Ich konstruierte damals zu Hause waghalsige Straßen aus Legoplatten, die über hohe Stelzen vom Wohnzimmer in die Küche führten. Unter der Last der Spielzeugautos brach die Konstruktion jedes Mal zusammen. Ich legte mich dann in den Haufen aus Legosteinen und stellte mir vor, ein Unfallopfer zu sein, das im Wagen, der in die Tiefe gestürzt war, verblutete.
„Das ist eine schreckliche Vorstellung“, sagte sie und stieg die letzten Steinstufen auf den Gipfel hinauf.
„Wahrscheinlich werde ich deswegen Bauingenieur, um das zu vermeiden.“
„Du wirst sicher ein guter Statiker“, sagte sie. Am Gipfelkreuz standen wir zu beiden Seiten und schauten in die Ebene hinaus, die sich am Horizont im dunstigen Licht verlor. Wir hielten uns am Balken fest, so dass sich unsere Hände berührten. Sie hob einen Arm, legte ihn auf das Kreuz, senkte dann ihren Kopf und berührte das Holz mit der Stirn. Ihre Haare, die sie offen trug, fielen an den Wangen herab, dass man ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sie lehnte lange am Kreuz und ich stand neben ihr, ohne mich zu bewegen und ohne sie weiter zu berühren. Das wäre der Moment, sich näherzukommen, dachte ich und fragte mich, was mich daran hinderte, ihr übers Haar zu streichen oder sie zu umarmen. Bei jeder anderen Frau hätte ich es so gemacht. Aber Susanne war anders. Wie sie da am Kreuz stand, schien sie unberührbar und fern, wie das Bild einer Trauernden, die in sich versunken die Welt um sich herum vergessen hatte. Nach einer langen Weile hob sie den Kopf. Sie hatte eine Träne im Auge.
„Ist es wegen ihm?“, fragte ich und deutete auf das Kreuz.
„Wer glaubt, versteht es“, sagte sie.
„Du weißt, dass ich …“
Sie fiel mir ins Wort: „Ich weiß, das ist nicht deine Welt.“
Wir gingen schweigend den Weg zurück, der unten durch den Wald und dann in weiten Schwüngen über die Forststraße zum Bahnhof führte. Als wir in den Zug stiegen, sahen wir einen alten Mann, der versuchte, seinen Koffer zu verstauen. Sie ging auf den Mann zu, packte den Koffer, streckte sich und hievte ihn mit einer behänden Bewegung nach oben in das Gepäckgitter. Wieder fiel mir auf, wie anmutig und elegant sie sich bewegte mit der schweren Last über dem Kopf. Ihre Zerbrechlichkeit wich einer Kraft, die man bei ihr auf den ersten Blick nicht vermutete.
„Ich mache sozialen Dienst während der Woche. In einer kirchlichen Einrichtung“, erklärte sie. „Ich pflege dort alte Menschen. Deshalb der Blick dafür.“ Sie deutete auf den Mann.
„Ich bin beeindruckt“, sagte ich. Die ganze Fahrt erzählte sie von der Erfüllung, die sie empfinde, wenn sie Menschen helfen könne. „Im Grunde ist es ein Werk der höheren Liebe“, sagte sie als wir in den Stadtbahnhof einfuhren. Wir stiegen aus und sie küsste mich zum Abschied flüchtig auf die Wange. Am nächsten Wochenende wollten wir uns im Stadtpark treffen.

Es ist dies kein körperlicher, sondern ein geistiger Schmerz, wiewohl auch der Leib, und zwar nicht im geringen Maße, an ihm teilnimmt. Der Liebesverkehr, der nunmehr zwischen der Seele und Gott stattfindet, ist so süß, dass ich zur Güte des Herrn flehe, er wolle ihn dem zu kosten geben, der etwa meint, ich lüge hierin.

Vor dem Park überquerte ich eine Straße und bemerkte eine alte Frau, die zögerlich einen Fuß über die Bordsteinkante setzte. Ich fragte, ob ich ihr helfen könnte. Sie sagte nichts, nickte nur und ich führte sie über den Zebrastreifen. Die Frau sah mich von unten an und strich mir über die Wange.
„Du bist ja doch gläubig.“
Susanne hatte mich beobachtet und kam von hinten auf mich zu.
„Das ist nur ein Sozialreflex. Ich habe ein freiwilliges Jahr im Altenheim gemacht. Seitdem leide ich auch am Helfersyndrom.“
„Indem du so bist, glaubst du, aber du weißt es nur nicht“, sagte sie.
„Dann kann ich jede Religion haben. Dann kann ich Moslem sein, Jude, Buddhist. Haben nicht alle Religionen eine barmherzige Seite? Und haben nicht alle eine unbarmherzige Seite?“
„Was du tust, ist wichtig“, sagte sie. „Erzähl mir von deiner Woche.“ Sie stieß mich mit dem Ellenbogen in die Seite. Die Frühlingssonne lockte die Stadtbewohner in den Park. Bunte Decken wurden ausgebreitet und die ersten Sonnenanbeter legten sich leicht bekleidet auf den Rasen. Wir gingen über die Wiese in Richtung Säulenhalle, die über dem Park auf einer Anhöhe stand. Ein kleiner Junge umkreiste die Säulen des runden Gebäudes. Susanne ging ihm hinterher. Ich folgte ihr. Der Junge machte ein Spiel daraus und lief voraus und wir ihm nach. Wir umkreisten die Halle mehrere Male mit immer schnelleren Schritten. Auf dem Rasen daneben lagen seine Eltern und riefen ihm zu: „Johannes, langsam“. In dem Moment fiel er über die eigenen Füße und schlug mit dem Kopf gegen eine Treppenkante. Wir beugten uns zu ihm hinunter. Seine Augen waren geschlossen und er gab keinen Laut von sich. Wir streichelten seinen Kopf. Die Eltern liefen herbei und schrien: “Johannes!“ Er lag wie tot auf der Treppe und rührte sich nicht. Seine Mutter drückte ihm auf den Brustkorb. Sie rief immer wieder seine Namen. Er machte einen tiefen Atemzug, öffnete die Augen und fing an zu schreien. Der Vater hob ihn hoch und sie liefen mit ihm den Hügel hinunter. Man hörte, wie sein Schreien in ein stoßweises Seufzen überging, das nach und nach abnahm. Wir knieten immer noch auf dem Boden und sahen ihnen nach.
Ich roch Weihrauch und Frühlingsluft. Wir schauten uns lange in die Augen, kamen uns näher und küssten uns. Sie löste ihre Lippen von den meinen, rannte davon, die Wiese hinab, schlug Haken, um nicht auf die ausgebreiteten Decken zu treten, stolperte fast und verschwand hinter den Büschen auf dem Weg, der zur U-Bahn führte. Ich blieb allein auf der Anhöhe und hob ihre Tasche auf. Ein Buch steckte darin. „Visionen der Teresa von Ávila“.


Am Abend klingelte es an meiner Tür. Ich öffnete und sie kam herein. Ich schloss die Tür und wir blieben im Gang stehen. Wir sprachen kein Wort. Sie legte die flache Hand auf meine und führte sie durch die Luft. Dasselbe machte sie mit der anderen Hand. Ich folgte ihren Bewegungen. Ein Schritt vor, ein Schritt zurück, zur Seite, die Hand nach oben, nach unten. Wir sahen uns in die Augen, unentwegt. Sie strich mit ihrer Hand über meine Lippen und über den Hals, über meine Brust und legte sie auf den Bauch und ich machte es ebenso bei ihr. Wir führten unsere Hände an die Ohren und wiegten die Köpfe hin und her. Langsam knöpfte sie mein Hemd auf in ruhigen Bewegungen und ich das ihre. Unsere Blicke waren aufeinander gerichtet und wir zögerten das Blinzeln so lange hinaus, bis die Augen brannten. Sie streifte ihre Bluse ab und ich mein Hemd. Dann öffneten wir unsere Hosenknöpfe und die Reißverschlüsse und zogen uns aus. Alles langsam und ohne uns aus den Augen zu verlieren, bis wir nackt waren. Wir standen lange einfach nur da und kamen dann langsam aufeinander zu. Sie führte ihre Arme mit mir nach oben, bis wir sie waagrecht hielten. Wir verschränkten unsere Finger ineinander. Dann atmete sie leise aus und hielt ihre Augen offen. Ich bewegte mich nicht. Sie schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Durch ihre Lider konnte ich das Weiße in den Augen sehen. Ich hob meine Hüfte leicht, sie atmete tief ein und hielt dann die Luft lange an. Dann hauchten wir uns beide an mit geschlossenen Augen.

Durch die geöffnete Balkontür hörte man den Straßenverkehr. Ich ging hinaus und sah am Stadtrand das beleuchtete Riesenrad auf dem Gelände, wo das Frühlingsfest stattfand. Sie kam aus dem Bad mit nassen Haaren und stellte sich barfuß neben mich. Wir schwiegen lange. „Ich gehe in ein Kloster“, sagte sie. „Ich werde Karmelitin.“
„Du gehst auf den heiligen Berg. Zu Teresa. Unbeschuhte Karmelitin, passt ja“, sagte ich und zeigte auf ihre Füße.
„Woher weißt du das?“
„Ich kann eins und eins zusammenzählen, das kann ich wirklich“, sagte ich. „Ich kann googeln. Du warst im Kloster während der Woche, oder?“
„Ja“, antwortete sie.
Ich sagte: „Ich kann nicht gut über diese Dinge reden. Aber was ich für dich empfinde …“
Sie nahm meine Hand und legte sie auf ihre Brust. „Ich empfinde es da“, sagte sie. „Ich habe den Herrn befragt, wochenlang. Er soll mir ein Zeichen geben, zu mir sprechen, was mein Weg ist. Ich spüre es da.“ Sie drückte meine Hand noch fester.
„Und was ist dein verdammter Weg?“ Ich schrie sie an und zog meine Hand weg. Sie wich einen Schritt zurück.
„Mein Postulat beginnt am Sonntag“, sagte sie leise und schaute auf die Straße hinunter. „Nächste Woche. Es würde mir viel bedeuten, wenn du kommst.“
„Weißt du, was ihr da verlangt, du und dein Herr?“, sagte ich und wendete mich von ihr ab. Sie ging in das Zimmer zurück, zog ihre Schuhe an, nahm ihre Tasche und ging lautlos.

Die Seele ist hier der Welt ganz abgestorben, um desto mehr mit Gott zu leben. Aber es ist ein wonnevoller Tod, weil die Seele, obwohl in Wirklichkeit noch im Leibe, sich von ihm loszulösen scheint, um desto inniger mit Gott vereinigt zu werden.
Auf dem Altar steht ein kleines Kreuz aus Gold. Teresa, hast du ihn wirklich gesehen, hast du ihn wirklich gefühlt? Ich möchte wissen, woher dein Schmerz und deine Lust daran kommen? Aus einer übermächtigen Vorstellungskraft vielleicht, aber doch nicht aus einer wirklichen Begegnung. Begegnungen kannst du anfassen, kannst du messen. Du konntest nichts messen, du konntest nichts anfassen, nur vorstellen konntest du und damit hast du gewuchert, mit dem Zins der Vorstellung, den du ins Hundertfache aufgebauscht hast in deiner kranken Fantasie und an dich habe ich sie verloren, kleiner, goldener Mann, kleiner erbärmlicher goldener Mann.

Im Innenhof des Klosters plätscherte ein Brunnen. Die Gebäudeflügel, die den Hof an drei Seiten umschlossen, waren strahlend weiß gestrichen. Nach den warmen Frühlingstagen grünte der Rasen auf den weiten Flächen zwischen den Kieselwegen, die zur Kirche führten. Eine Säulenhalle war ihr vorgelagert. Die Halle war mit Fresken bemalt. Auf dem Bild neben dem Portal kniete eine Frau mit gesenktem Kopf. Über ihr schwebte ein Engel mit einem Spruchband. „Ave Maria“ stand darauf. Zwischen ihnen blühte eine Lilie in einer Vase. Ich betrat die Kirche. Sie war fast leer. Hinter dem Altar saßen Nonnen in einer Reihe. In der ersten Bank davor saß Susanne. Der Gottesdienst war fast zu Ende. Die Nonnen sangen mit dünnen Stimmen ein Lied, das die Orgel begleitete. Ein Priester stand am Altar und meinte, bevor er zum Schluss komme, wünsche er der Postulantin, dass sie den Weg Jesu erkennen möge in der Gemeinschaft des Konvents der Heiligen Teresa. Die Orgel setzte wieder ein, die Nonnen standen auf und gingen in einer Prozession um den Altar herum. Nach einer Kniebeuge wendeten sie sich nach links, wo sich eine Tür öffnete. Susanne folgte ihnen und eine Gruppe Kirchenbesucher, die in einer hinteren Bank saß. Wahrscheinlich war es ihre Familie. Ich rannte nach vorne. Meine Schritte hallten im hohen Gewölbe. Vorne schien die Sonne durch die Fenster auf der rechten Seite. Sie warf ihr Licht auf die Weihrauchschwaden, die noch in der Luft lagen. Scharf geschnittene Strahlen kreuzten den Kirchenraum. Ich schrie „Susanne!“. Sie drehte sich um und blieb stehen. Die Prozession hielt an. Eine Nonne mit einem goldenen Kreuz auf der Brust kam auf uns zu.
„Ist es das, was du suchst?“, rief ich und deutete auf die beleuchteten Rauchschwaden. „Schall und Rauch?“
Sie schwieg und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Dann sagte sie: „Es war nur ein Tropfen von dem gewaltigen Strom, der uns im Himmel erwartet.“
Die Schwester mit dem Kreuz fasste sie am Arm und sagte: „Susanne, es ist Ihre freie Entscheidung.“ Da drehte sie sich langsam um und ging auf die Tür zu. Die Nonnen folgten ihr schweigend. Ich ging ihnen nach und sah hinter der Tür einen langen weißen Gang. Dann fiel die Tür ins Schloss.
Ich verließ die Kirche und hob vom Weg eine Hand voll Steine auf. Dann ging ich zurück zu dem Gemälde mit der Frau und dem Engel und hob den Arm, um sie gegen das Gemälde zu werfen. Ich stand eine Weile da, senkte den Arm und ließ die Steine auf den Boden fallen. Zurück in der Stadt löste ich eine Fahrkarte für den Nachtzug nach Rom. Im Waggon fand ich einen Fensterplatz. Der Zug fuhr aus der Stadt hinaus und bald sah man die Alpen, deren hohe Gipfel noch mit Schnee bedeckt waren.

 

Hallo Bas,
besten Dank für Dein detailliertes Lektorat. Deine Hinweise habe ich mir gleich vorgenommen. Schön auch, dass Du Dich vom Anfang nicht hast abschrecken lassen und der Story gefolgt bist, die ja tatsächlich, wie Du schreibst, etwas sonderlich ist mit den visionären Berichten der Teresa, die ich eingestreut habe. Ich habe das einfach mal ausprobiert und dachte auch, dass man das wahrscheinlich nicht so versteht. Aber in Deiner Lesart, und das freut mich sehr, bleibt bei der Rätselhaftigkeit eine Atmosphäre übrig. Und das war im Grunde die Basisidee, dass der Rechner Thomas mit der komisch daherbrabbelnden Mystikerin zusammentrifft, dass er von der für ihn unverständlichen Aura angezogen ist, er sie aber auch nicht verstehen kann, weil es eben nicht seine Welt ist, die metaphysische. Ich kann mir auch vorstellen, dass es schon ein wenig an der Grenze ist, Susanne diese etwas vorgestanzten Phrasen in den Mund zu legen und sie, wie Du so schön sagst, als wirren Sektenheini darzustellen. Es ist vielleicht aber auch die Grundidee, dass man, trotz gleicher Sprache, halt doch unterschiedlich spricht und gerade im religiösen Bereich so vage wird in der Sprache, weil man dort versucht, etwas Unfassliches zu beschreiben.
Dein abschließendes Urteil freut mich einfach total!
Sehr herzlich
rieger

 

Hallo rieger,
tja, also so ganz werde ich mit der Geschichte nicht warm. Die beiden kommen mir, ehrlich gesagt, auch sehr wie Sektenheinis vor, um es mit Bas' Worten zu sagen.
Dabei soll Thomas ja gar nicht religiös sein, wie sich im Laufe der Geschichte herausstellt. Durch die kryptischen Einschübe kommt er mir aber zunächst so vor, und auch, weil er Susannes religiöse Abgehobenheit so hinnimmt als wäre es völlig normal, so miteinander zu reden.

Dass er von ihr fasziniert ist, kann ich ja noch nachvollziehen, sie sah bestimmt wunderschön aus, als sie da aus der Kirche schwebte im Abendlicht, den Blick träumerisch in die Ferne gerichtet. Auch die Beschreibung ihres Äußeren macht sie zu einer interessanten Figur. Aber ihre Art ist so extrem, dass ich mich wundere, dass ein Mensch, der nicht selbst religiös ist, da nicht drüber stolpert, selbst religiöse Menschen täten das mMn.
Ich habe es für mich irgendwann so gedeutet, dass Thomas nach der Begegnung mit Susanne nach Rom fährt und dort in der Kirche über das Geschehene reflektiert. Warum das auch so abgehoben religiös daherkommt, hat sich mir leider nicht erschlossen.

Den Anfang fand ich etwas holprig, ich musste mich erstmal orientieren, weil ich die Treppe nicht zuordnen konnte. Kurz dachte ich, die Geschichte spiele in Amerika, da hat man ja immer die klassischen Treppen vor den Eingängen der Apartmentblocks. Ich fände es gut, wenn von Anfang an klar wäre, daß Susanne aus einer Kirche kommt.
Dann hast du zweimal "kam". Sie kommt die Stufen runter und er kommt die Straße entlang. Vielleicht fällt dir hier ja noch was Konkreteres ein. Das würde dann auch deutlicher machen, warum er darüber nachdenkt, wo sie hinschaut, denn der Gedanke kam mir zunächst komisch vor,ich dachte, das ist halt eine ganz normale Frau, die aus dem Haus kommt und das Abendrot genießt, was ist so ungewöhnlich daran?
Thomas' Denken in Zahlen fand ich dann ziemlich originell, und ich war neugierig, wie sich die Geschichte noch entwickelt.
Etwas irritiert war ich darüber, dass er ihr das Rad praktisch aus der Hand reißt, noch ehe sie antworten konnte. Das wirkte etwas unrealistisch auf mich. Dasselbe beim Handy.

" ... Aus dem Lautsprecher dröhnte Musik und alle sprachen mit gehobener Stimme. Sie gab leise ihre Bestellung auf ..." Ich denke, der Kellner wird sie nicht verstanden haben bei dem Lärm. Passt für mich nicht.
Kurz darauf legt Thomas dann schon seine Hand auf Susannes. Ging mir auch ein bisschen zu flott. Dann rennt sie weg und er hinterher, aber irgendwie nimmt er das auch wieder so hin. Kommt mir fast ein wenig masochistisch vor, der Thomas.

" ... Nichts soll dich ängstigen, nichts erschrecken ..." Das klingt wie eine Beschwörungsformel und mir läuft wirklich ein Schauer über den Rücken. Also mir macht das erst richtig Angst. Ich denke aber, dass diese Reaktion nicht von dir beabsichtigt war.

Bei der Szene mit dem Kind fand ich merkwürdig, dass die beiden das einfach so hinnehmen. Gut, bei Susanne wundert mich nichts mehr, aber Thomas soll doch eigentlich ein ganz normaler Mensch sein. Da kommt kein Erschrecken, Mitleid oder irgendeine emotionale Reaktion. Das fand ich schon sehr heftig.

Die Synchronbewegungen der beiden, in der Szene, als Susanne zu Thomas nach Hause kommt, fand ich sehr schön. Das hatte etwas ganz Zartes, Verletzliches.
" ... Ich schrie sie an und zog meine Hand weg ... kam mir dann allerdings zu plötzlich. Vielleicht fährt er sie einfach an, wird laut etc., aber "schreien" kam mir hier unpassend vor.

Jo, mal was anderes.

Viele Grüße von Chai

 

Hallo rieger,

es ist schon spät, aber ich will einmal kurz loswerden, dass mir die Geschichte gefällt!

Ich dachte nicht an eine Sekte. Ist halt die große Kirche.
Der ungläubige Thomas - die Namensgebung ist kein Zufall, oder?!

So ein bisschen amüsier ich mich darüber, dass du nicht den Romantik-Tag gewählt hast. Welch größere Tragik kann es denn geben als die, einen geliebten Menschen an den Herrn zu verlieren? Ich darf da an die Dornenvögel erinnern. (Ist nicht ganz ernst gemeint und sicher unserer parallelen Diskussion über seichte Romanzen geschuldet.)

Ein Satz ist mir aufgefallen:
"Wir schauten uns lange in die Augen, kamen uns näher und küssten uns."

Dieses "kamen uns näher" - ist das wörtlich gemeint oder im übertragenen Sinne?
Im ersten Falle fänd ich es entbehrlich. Wie sollten sie sich sonst küssen?
Im zweiten Falle find ich das so dermaßen abgedroschen und phrasenhaft. Mag sein, dass es nur mir so geht. Ich glaub, ohne würd es mir auch im zweiten Falle besser gefallen.

Vielen Dank für die Geschichte!
Anne

 

Hallo rieger,


das ist ein interessanter Text. Hat mir gefallen. Das Aufbegehren deines ungläubigen Thomas gegen eine Welt, die er nicht verstehen kann, der er misstraut, die er für krankhafte Fantasie hält. Und während sich Gewissheit in deiner Susanne findet, bleibt der Heide voller Groll und Unverständnis, oder, womöglich sogar am eigenen Weltbild zweifelnd, zurück. Kopfüber fallend in eine individualistisch geprägte Welt, nackt, nur mit der Schlange in der Hand. Nicht im Himmlischen, dafür aber auf festen Beinen stehend, auf festem Kirchenboden.

Die Umsetzung gefällt mir, gerade durch die Idee, die "visionären Berichte der Teresa" einfließen zu lassen, gibst du dem Text so etwas, wie ein Alleinstellungsmerkmal.

Allerdings, ganz subjektiv: Ich nehme deinem selbstbewussten Heiden den (verbalen) Ausbruch gegen Ende nicht ganz ab. Auch die surrealen Romszenen, den Disput nicht. Dazu empfinde ich sein Verlangen, das Begehren, die Besessenheit (nach Liebe) noch zu schwach, vorwiegend Neugierde und das Anderssein, das Mysteriöse scheinen mir Auslöser der Anziehung für ihn zu sein, die mMn aber nicht tief genug geht, um sein Verhalten erklärbar zu machen.

Susanne empfinde ich persönlich als zu blass gezeichnet. Mir fehlt da der innere Konflikt, noch mehr Zerrissenheit, auch wenn sie sich (krankhaft) mit Teresa identifiziert. Trotzdem, ein wenig mehr Zweifel hätte mir gefallen. Aber gut, du wolltest da vermutlich nicht dein Augenmerk drauf legen, denke ich. Sie sieht wohl nur Jesus Wirken in ihm, - die Liebe zu "ihm" - durch die noble, gelebte Nächstenliebe - selbst wenn Thomas nur ein Fahrrad repariert. Der Sex ist für sie vermutlich auch verklärt: Als eine Art mystische Vermählung mit dem zu Fleisch gewordenen Heiland. Punkt.

Natürlich kann es sein, dass ich das alles völlig falsch interpretiere :). Ist aber nun mal meine Leseart gewesen.


Peanuts:


... hinter der gerade die Sonne untergegangen war.
... sie gerade aus der Kirche gekommen ...
Ich kam gerade aus meiner letzten Klausur ...
Für meinen Geschmack etwas zu häufig verwendet.

... zu der die Treppe hinaufführte. Täglich ging ich auf dem Weg zur Uni daran vorbei, hatte sie aber noch nie betreten.
Meintest du das so? Dass er die Treppe nie betreten hat?

Die kleinen Fenster ließen erahnen, dass der Innenraum nur halbdunkel war.
Der Satz gefällt mir nicht.
Zudem, eine Kirche, die nur über kleine Fenster verfügt? Um zu verdeutlichen, könntest du sie in Relation setzen.

... kam sie die Treppe herunter auf den Bürgersteig und ging auf ihr Fahrrad zu, das an der Kirchenmauer lehnte.
Würde ich streichen.
Die Treppe führt doch von der Kirche weg, nicht? Ich würde das Fahrrad deswegen nur an einer Mauer lehnen lassen.

„Ich hab gerade einen Haufen Schreibkram hinter mir. Ein wenig Handwerk würde mir jetzt gut gefallen. Wenn ich darf“, sagte ich und dabei drehte ich das Rad um und stellte es auf den Sattel. „Bitte, wenn du meinst“, und da war ich schon dabei, den Reifen abzumontieren. Die lederne Satteltasche war mit Ringschlüssel und Flickzeug ausgestattet. „Vorbildlich, und so schön antik.“
Finde ich ein wenig ungelenk formuliert. Das klingt mir ein wenig antiquiert. Die Handlung zu forsch.
Vorschlag: „Ich hab gerade einen Haufen Schreibkram hinter mir. Ein wenig Handwerk würde mir Spaß machen. Wenn ich darf?“
„Bitte, wenn du meinst.“
Ich stellte das Rad auf den Lenker und montierte den Reifen ab. Die lederne Satteltasche war mit Ringschlüssel und Flickzeug ausgestattet. „Vorbildlich, und so schön antik.“

Während ich den Schlauch untersuchte, erzählte ich, dass mein Vater mich als Kind genau eingewiesen hatte in die Kunst des Reifenflickens.
Mag pingelig sein, aber da alles so schön chronologisch abläuft, würde ich auch die Fummelei mit dem Mantel nicht aussparen. Vielleicht hast du zudem Lust, später noch was mit den schmutzig gewordenen Händen zu machen?
Vorschlag (zudem ein wenig vereinfacht): Ich zwängte den Mantel aus der Vertiefung und fummelte den Schlauch heraus. Während ich ihn untersuchte, erzählte ich, dass mein Vater mich als Kind in die Kunst des Reifenflickens eingewiesen hatte.

... und die Ohren(, die fast durchsichtig schienen,) durchzogen feine Linien.
Da stimmt was nicht.

„Das war sehr schön“, meinte sie und umfasste meinen Unterarm.
Macht sie das wirklich - sie wirkt ja später eher berührungsempfindlich? Wenn ja, könntest du sie zurückzucken lassen oder so. Dann wäre das schon angedeutet.

„Voila, fertig.“
Voilà


In den Cafés saßen schon Leute im Freien, obwohl es abends noch kühl war. Ich wollte schon die Rolltreppe hinab fahren.
Interessehalber habe ich mal analysieren lassen, da mir das wiederholt aufgefallen ist. Du hast zwölf mal "schon" im Text. Würde ich generell ausdünnen.

„Darf ich dich anrufen?“ Ich zog das Handy aus der Hosentasche, um ihre Nummer speichern. „Nein, ich melde mich bei dir“, sagte sie. „Gib mir deine Nummer. Aber ich hab mein Handy nicht dabei.“ Neben der Rolltreppe stand eine Litfaßsäule. Ich sagte: „Dann machen wir das eben analog“, riss die Ecke eines Plakats ab und schrieb meine Nummer darauf.
Da fehlt ein "zu".
Zumindest eine Nummer würde ich streichen: "um einen neuen Kontakt anzulegen"?

... so dass sie nicht weiß, wie ihr ist und was sie will.
sodass (hast du später auch noch mal, glaube ich)

... vor einem kleinen Cafe.
Café

„Ich bin nicht so gläubig. Die Bibel: Jesus, Maria?“
Der Doppelpunkt verwirrt mich hier.
Warum nicht einfach: „Ich bin nicht so bibelfest.“

Sie erklärte weiter ...
Damit machst du es dir natürlich einfach :).

Sie zog sie zurück, stand unvermittelt auf und verließ das Lokal. Eilig zahlte ich und rannte ihr nach. Sie stand mit ihrem Fahrrad an der Ecke und wartete auf mich.

Ich legte den Arm um sie und wollte sie fragen, was los ist.
Also, nachdem sie schon so unvermittelt aufspringt, als er seine Hand auf ihre legt, kommt mir das wieder sehr forsch, ja, unempathisch vor, dass er ihr den Arm um die Schultern legt.

Dann ließ sie mich stehen. „Alles vergeht“ wiederholte ich und sah, wie sie am Stadtbrunnen die Hände ins Wasser tauchte und dann in der Menschenmenge verschwand.
Vermeidbar.

... verabredete ich mich zum Billiardspielen.
Billard

Ich beschloss, sie anzurufen. Sie hatte ihre Nummer nicht unterdrückt. Ich speicherte sie auf dem Handy unter „Susanne im Bad“.
Würde ich streichen.
Tempus: Ich hatte sie gespeichert.

„Lass uns nächste Woche auf einen Berg gehen. Die niedrigen Gipfel sind schon schneefrei.“
Redet der echt so? Lass uns auf einen Berg gehen? Die niedrigen Gipfel?

Deshalb bin ich oft gewandert.“
„Wir sind als Kinder oft über die Berge gefahren, über den Brenner nach Italien“, erzählte ich und berichtete, wie ich als Kind davon träumte, Autobahnen über die Berge zu bauen.
Vorschlag: Deshalb bin ich oft gewandert.“
„Wir sind als Kinder über den Brenner nach Italien“, erzählte ich und berichtete, wie ich als Kind davon träumte, Autobahnen über die Berge zu bauen.

Huch, ein Blick auf die Uhr verrät: Ich muss abbrechen, rieger. Es ist (mir zu) spät geworden. Ich komme bestimmt wieder und gehe das letzte Drittel durch, falls dir das recht sein sollte.

Hat mir jedenfalls gefallen. Ein wenig Feinschliff noch, wenn du möchtest, und das Teil hier strahlt in hellem Licht, wie ich finde.


Vielen Dank fürs Hochladen


hell

 

Hallo Chai,
besten Dank für Dein Statement. Du sprichst einige Dinge parallel zu hell an, die ich bearbeitet habe, Wortwiederholungen, zu ruppige Übergänge. Vielen Dank also für die genaue Beobachtung, die hier geleistet wird. Das ist schon eine besondere Sache. Deine Ambivalenz kann ich gut nachvollziehen, weil es mir ja selber so ging und ich mich auch gefragt habe, wie ich Bas schon schrieb, ob der mystische Tonfall passt zu einer Handlung, die sich im Alltag abspielt. Das ist schon ein Widerspruch, der manchmal vielleicht sogar unglaubwürdig bis surreal klingt. Das gipfelt dann in der Szene im Park. Ich wollte die Geschichte mit dem Johannes einfach mal so stehen lassen. Mir schwebte da ein Bild vor, dass sie sich als Vater und Mutter fühlen und das eine emotionale Schwelle überschreitet, die dann in ihrem Besuch bei ihm weitergeführt wird. Und ich wollte auch ausprobieren, ob es geht, wenn ich gar nichts zur Empfindung schreibe, nur das Ding halt geschehen lasse. Johannes ist vielleicht ja auch ein Bild einer mystischen Verzückung, wenn auch unfreiwillig. Und da kommt irgendwie elterliche Sorge, Kinderwunsch und visionäre Verzückung in dem Bild zusammen, was bei ihr dann zu einr Verwirrung führt, dass sie nur davonlaufen kann.
Schönen Dank jedenfalls für Dein Lesen und Besprechen!
rieger

Hallo hell,
sehr gerne habe ich Deinen vielen Anmerkungen eingearbeitet. Eine super Korrektur einfach! Was Du zur Schlüssigkeit und Personenkonstellation sagst, habe ich vor der Einstellung des Textes auch schon so gesehen. Tatsächlich ist die Reaktion von Thomas stark und das muss man als Leser wohl einfach hinnehmen oder als ungläubwürdig bezeichnen. Man bräuchte vielleicht noch eine Episode, die den Kontakt noch stärker knüpfen würde zwischen den Figuren. Ja, auch das mit Susanne stimmt natürlich. Sie ist wirklich etwas dünne, spricht in religiösen Phrasen. Ich habe versucht,über die starke Körperlichkeit beim Wandern und im Zug ihr mehr Gepräge zu geben. Da käme man um einen Ausbau nicht herum, wenn man das machen wollte. Schlüssigkeit ist ein Parameter, der eben auch immer genau abgeklopft werden muss.
Besten Dank also für Deine Besprechung
Sehr herzlich
rieger


Hallo Anne49,
vielen Dank für Dein nächtliches Lesen und Deinen Kommentar. Ja, Thomas ist ja der Ungläubige, Susanne die Keusche im Bad. Johannes ist auch ein spanischer Mystiker. Die Namen sind nicht zufällig, stimmt.
Ja, da machst Du tatsächlich einen schönen Vorschlag mit dem Themenbereich "Romantik" und ich bin gar nicht auf die Idee gekommen. Das heißt nicht, dass ich Romantik abqualifiziere, ich bin ein großer Fan der Dornenvögel, die Du ansprichst und Romantik und Religion haben eine Menge miteinander zu tun. Ich möchte fast sagen, Religion ist eine durch und durch romantische Geschichte. Und in den Dornenvögeln spielt diese Spannung zwischen Gottvebundenheit und Welt ja die tragende Rolle und zur religiösen Romantik kommt da die auf der menschlichen Ebene dazu. So sehe ich Thomas und Susanne auch, halt umgekehrt. Seicht finde ich ehrlich gesagt auch zu abwertend. Ich sehe es als Ansichtssache. Es spricht doch nichts dagegen, ein pures Gelingen vorzustellen, ganz ohne Splitter. Ob man das mag, wie gesagt, ist Ansichtssache, finde ich. Aber in der Geschichte geht es ja nicht so glatt. Romantisch kann man ise dennoch nennen, da hast Du schon recht. Es waren zwei Königskinder ... das Wasser war viel zu tief.
Sehr herzlich rieger

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo rieger,

auch für mich war es nicht ganz leicht, in deine Geschichte hineinzukommen. Du dehnst die Zeit der Anfangssituation. Möglicherweise liegt es auch an der Häufung der Konjunktionen:

Sie kam die Treppe herunter, blieb stehen und schaute auf die Häuserzeile, hinter der gerade die Sonne untergegangen war. Ihre Hand hielt sie schützend vor die Augen, obwohl sie schon im Schatten stand. Ich kam die Straße entlang und sie fiel mir auf, wie sie dastand und schaute und ich blickte auch in die Richtung, aber da war nichts Besonders. Gewöhnliche Stadthäuser in Grau, in hellem Braun, in Gelb und über den Dächern ein noch erleuchteter Himmel,

Beim nochmaligem Lesen war ich mir allerdings nicht sicher, ob das nicht genau so von dir gewollt war. Zumindest würde ich aber diese ‚und’-Reihung ändern:

Ich kam die Straße entlang und sie fiel mir auf, wie sie dastand und schaute. Auch ich blickte in die Richtung, aber …

und auch diese Wiederholung herausnehmen:

Während ich noch über eine Einheit für den Blendfaktor nachdachte und meinen eigenen Namen dafür in Betracht zog, kam sie die Treppe herunter auf den Bürgersteig und ging auf ihr Fahrrad zu,

Auch hier kommt so eine gewisse Schwerfälligkeit auf:

Wenn ich darf“, sagte ich und dabei drehte ich das Rad um und stellte es auf den Sattel.

„Bitte, wenn du meinst“, und da war ich schon dabei, den Reifen abzumontieren.

Eine andere Wiederolung:

Ich pumpte den Schlauch ein wenig auf, fuhr mit der Lippe darüber und spuckte auf die Stelle, wo ich einen Luftzug spürte. Die Spucke warf eine Blase. Sie schaute mir über die Schulter. „Da“, sagte ich und zeigte auf die Stelle. Ich wischte die Spucke mit dem Ärmel ab

Aber jetzt zum Inhalt:

Du führst mich als Leser in eine mir recht unbekannte Gedankenwelt deiner Protagonistin. Ebenso wie Thomas fällt es mir schwer, mich in dieser zurechtzufinden, sie zu verstehen. Das gelingt am Ende weder ihm noch mir. Ich stehe vor dem, was du mir in vielen Einzelheiten schilderst und frage mich: Was bringt einen jungen Mensch dazu, sich von der (normalen) Welt, von dem Menschen, zu dem er sich hingezogen fühlt, von der eigenen Sexualität, abzuwenden und seine Berufung in einem Leben fernab davon zu suchen. Susanne erklärt es Thomas und mir als Leser, aber weder er noch ich kann ihre Entscheidung am Ende wirklich nachvollziehen.

Seine ganze Verzweiflung fasst du hier zusammen:

Seit Stunden sitze ich vor dir, habe nicht geschlafen, habe nichts gegessen, seit ich gestern in den Nachtzug nach Rom gestiegen binK um dich zu sehen, um dich hier liegen zu sehen und dich zu fragen, was es ist, was du empfindest, wenn du dem Herrn fern bist und ich schlage mit der Faust gegen die Stirn, ich beiße in meine Finger, damit ein Schmerz größer ist, als der, den ich empfinde, weil sie dir folgt und nicht mir.

Und das ist wohl das, was am Ende zurückbleibt: Da geht jemand seinen Weg, folgt dem Glauben. Ja, dem Glauben an was eigentlich? Die Worte der Teresa bleiben (für mich) abstrakt und leer, haben aber für Susanne ihren Sinn und ihre Bedeutung.

rieger, nach den o.g. Anfangsproblemen bin deiner Geschichte mit Interesse gefolgt, habe deiner Schilderung des Geschehens gerne zugehört, deine einfache und unprätentiöse Sprache hat mir mehr und mehr gefallen.
An einigen Stellen hatte ich allerdings das Gefühl, dass du zu sehr ins Detail gegangen bist. Muss das Fahrradgeflicke wirklich so ausführlich dargestellt werden? Könnte man die Geschichte der biblischen Susanne nicht kürzer fassen? Braucht es die Szene mit dem kleinen Jungen auf der Wiese?

Sehr schön beschrieben finde ich die Szene der körperlichen Begegnung der beiden. Das hat in diesen zarten Berührungen beinahe etwas Transzendentes und bringt das Besondere dieser Beziehung sehr schön zum Ausdruck.

Durch ihre Lider konnte ich das Weiße in den Augen sehen. Ich hob meine Hüfte leicht, sie atmete tief ein und hielt dann die Luft lange an. Dann hauchten wir uns beide an mit geschlossenen Augen.
Durch die geöffnete Balkontür hörte man den Straßenverkehr. Ich ging hinaus und sah am Stadtrand das beleuchtete Riesenrad auf dem Gelände, wo das Frühlingsfest stattfand.
Nicht ganz sicher bin ich mir, ob zwischen den beiden Absätzen Zeit vergangen ist, sie sich noch näher gekommen sind, oder ob Thomas sich von ihr löst und auf den Balkon tritt. Eventuell könnte eine Leerzeile das Erstere verdeutlichen.

Auf dem Altar steht ein kleines Kreuz aus Gold. Hast du ihn wirklich gesehen, hast du ihn wirklich gefühlt? Ich möchte wissen, Teresa, woher dein Schmerz und deine Lust daran kommen? Aus einer übermächtigen Vorstellungskraft vielleicht, aber doch nicht aus einer wirklichen Begegnung. Begegnungen kannst du anfassen, kannst du messen. Du konntest nichts messen, du konntest nichts anfassen, nur vorstellen konntest du und damit hast du gewuchert, mit dem Zins der Vorstellung, den du ins hundertfache (Hundertfache) aufgebauscht hast in deiner kranken Fantasie und an dich habe ich sie verloren, kleiner, goldener Mann, kleiner erbärmlicher goldener Mann.

Dieser Absatz hat mich zuerst verwirrt. Das liegt u.U. daran, dass du hier ‚du’ und ‚dich’ für unterschiedliche Personen verwendest. Keine Ahnung, ob ich recht habe.

Begegnungen kannst du (man?) anfassen,
Du (Teresa) konntest nichts messen,
und an dich (Jesus) habe ich sie verloren

Die Aussprüche der Teresa würde ich auf jeden Fall kursiv einfügen. Besonders der letzte kommt zu unvermittelt, sollte mMn stärker vom übrigen Text getrennt werden.

So jetzt noch zu ein paar Einzelheiten, die ich mir markiert habe:

Ich wollte schon die Rolltreppe hinab fahren (hinabfahren).(,) Da ging ich einen Schritt zurück und fragte:

seit ich gestern in den Nachtzug nach Rom gestiegen binK um dich zu sehen,

„Alles vergeht“K wiederholte ich und sah

I
n der folgenden Woche bekam ich das Bild der Susanne im Bad nicht aus dem Kopf. Susanne ebenso wenig. Ich dachte an sie, wie sie erzählte, an ihre Lippen, an das „vögeln“ vom Nebentisch. An ihre Hand im Brunnen. „Nichts soll dich ängstigen“ war ein Zitat von Teresa von Avila, ergab meine Goolge-Recherche. Den Namen hatte ich nie gehört.

Hier treffen für mein Empfinden zu viele unterschiedliche Aspekte aufeinander.

während ich tief hinab stürze (hinabstürze) und auf den harten Kirchenboden falle.
Das wäre der Moment, sich näher zu kommen (näherzukommen), dachte ich

Wie sie da am Kreuz standK schien sie unberührbar und fern,

Ich roch Weihrauch und Frühlingsluft.
Auf der Wiese? Kommt mir ein bisschen too much vor.

Sie zog ihre Bluse aus und ich mein Hemd. Dann öffneten wir unsere Hosenknöpfe und die Reißverschlüsse und zogen uns aus.

Ich verließ die Kirche und hob vom Weg eine Hand voll (Handvoll) Steine auf.

Liebe/r rieger, auch deine Geschichte muss ich sicher noch ein- oder zweimal lesen, bis ich mir ein klares Bild von ihr machen kann. Sie ist nicht einfach zu bewerten, was ihren Inhalt, aber auch, was deinen Sprach- und Erzählstil angeht. Ich habe demnächst wieder einmal eine Woche Auszeit vom Forum und damit viel Zeit, mir auch deinen Text noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Vielleicht melde ich mich dann noch einmal. Auf jeden Fall hast du hier eine ganz bemerkenswerte Geschichte abgeliefert, deren Qualität unbestritten ist.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Hej rieger,

es ist eine ungewöhnliche Begegnung mit einer ungewöhnlichen Frau. Kann mir gut vorstellen, dass Thomas beeindruckt ist und deswegen erkläre ich mir damit sein bedecktes Verhalten. Ein aufgeklärter Mensch und Wossenschaftler staunt und wundert, lässt sich führen und kommt, eben ungläubig, nicht zum Zug, selbst aktiv zu werden. Was ich mich allerdings die ganze Zeit fragte, muss Susanne dermaßen entrückt reden und verwirrt handeln? Das hindert mich daran, diesen Text real zu sehen, also als eine Geschichte, die möglich wäre.
Nicht, dass ich nicht glauben würde, Thomas verliebt sich in Susanne und Susanne will nur kurz mal Sex bevor sie ins Kloster geht, aber möglich erscheint es mir nicht.

Ernsthaft schon, denn die Zitate, die du einstreust, Rom, diese Geschichten und biblischen Begebenheiten, sind sicher passend eingestreut (mir unbekannt:shy:) und unterstützen selbstverständlich den Effekt, eben keine gewöhnliche Beziehungs-Kennlern-Geschichte zu lesen, was mich hocherfreut, wenn auch verwirrt. Aber gut, dafür bin ich ja hier, damit ich mich auch mal mit Dingen auseinandersetze, die ich bewusst und bequem sonst meide.

Deinen Stil zu erzählen mag ich nach wie vor und immer wieder sehr gerne, wie ich erneut festgestellt habe. Es gefällt mir, wie du dir Zeit lässt, aufbaust. Auf diese Weise bringst du mir deine Protagonisten in ihrem Umgeld nah und ich habe die Möglichkeit, für sie zu empfinden. Bei Susanne gelingt mir das leider nicht. Weder in die eine, noch in die andere Richtung und ich bin nicht ganz sicher, ob es nicht in diesem Fall ein passender Effekt ist. Denn auch der Glaube ist ja eher abstrakt und unnahbar, sofern man nicht glaubt. :hmm: Du beschreibst sie ja auch als durchscheinend und zart und gibst ihr dennoch diese Kraft, die auch in manchen Szenen sichtbar ist (beim Wandern und bei der Hilfe für den alten Mann).
Am Ende könnte ich es durchaus interpretieren als wäre diese ganze Begegnung eine Vision, eben weil es mir einfach nicht gelingen will zu glauben, dass Thomas das alles zu beobachtet und mitmacht, wo er doch so ein patenter junger Mann ist, ;) der auch schon mal anpackt, ungefragt Reifen flickt, Wanderpläne macht und Adressen ausgibt. Nice guy.


Voilà

Auf die Johannespassion“, entgegnete sie kopfschüttelnd. Ich verstand nicht, was sie meinte.

Ich auch nicht, aber ich hätte gerne.

Seit Stunden sitze ich vor dir, habe nicht geschlafen, habe nichts gegessen, seit ich gestern in den Nachtzug nach Rom gestiegen bin um dich zu sehen, um dich hier liegen zu sehen und dich zu fragen, was es ist, was du empfindest, wenn du dem Herrn fern bist und ich schlage mit der Faust gegen die Stirn, ich beiße in meine Finger, damit ein Schmerz größer ist, als der, den ich empfinde, weil sie dir folgt und nicht mir.

Eine schöne, passende Idee, seinen Schmerz hierher zu übertragen. Also nicht, dass ich den Text beurteilen könnte, aber dass du überhaupt Zeilen für diese Geschichte nutzt (und gefunden hast).

Aber Susanne war anders.

Ist mir auch schon aufgefallen und deshalb gut entbehrlich.

Ich kann eins und eins zusammenzählen, das kann ich wirklich“, sagte ich. „Ich kann googeln. Du warst im Kloster während der Woche, oder?“

Diese Einwände erleichtern mich immer wieder. Zum einen, weil es mir zeigt, Thomas wird offenbar nicht komplett ausgeschaltet, zum anderen belebt es den Text und ich drifte nicht vollends ab ins Esoterische ab, bleibe dran, weil ich das Beste hoffe. :shy:

Und was ist dein verdammter Weg?“ Ich schrie sie an und zog meine Hand weg. Sie wich einen Schritt zurück.

Das wird eben auch mal Zeit, Emotionen und Bedürnisse zu verdeutlichen, obwohl ich schon ahne, dass es nichts nützt und sich leide mit ihm. Grausam, wenn sich so etwas Abstraktes wie Glaube (oder Alter oder Zeit) zwischen Menschen stellt.

Ach rieger, du hast mich mit einer Welt konfrontiert, die mir gerade noch gefehlt hat. Ist doch so schon alles kompliziert genug. Und da hätte es mir sehr gut gefallen, wenn mir susannes Beweggründe deutlicher geworden wären. (Aber vermutlich kann das keiner so genau sagen, vermute ich. Selbst du nicht ;)) Ich habe nach wie vor keine Ahnung, wieso sich Susanne (die ja sooo keusch jetzt auch nicht ist) für diesen Weg Entschluss entschließt und ganz egoistisch - ja, das empfinde ich wirklich so - auch noch den armen Thomas benutzt. Sie hätte ja auch ohne dieses Erfahrung ins Kloster gehen könnte und hatte es ja auch ohne dieses zufällige Treffen vorgehabt.

Hab vielen Dank für diese sensible, durchdachte und klug ausgeführte Geschichte.

Freundlicher Gruß, Kanji

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo rieger,

obwohl ich derzeit stark mit dem Copywrite beschäftigt bin, konnte ich doch nicht darauf verzichten, deine Geschichte zu lesen. Zunächst aus dem ganz banalen Grund, weil ich weiß, bei dir gibt es fehlerfreie und elegante Texte zu lesen, so dass ich mich voll auf das Inhaltliche konzentrieren darf.

Dein Plot gefällt mir sehr. Es ist eine Begegnung zwischen zwei Liebenden, die nicht in einem herkömmlichen Happy End mündet. Der arme Thomas, wie sein Name verrät, ist einer, der die Welt in Zahlen und Beweisen zu verstehen versucht. Harte Konkurrenz also für ihn, die sich für ihn als

kleiner goldener Mann, kleiner erbärmlicher goldener Mann

darstellt.

Dazu kommt, dass Susanne ja nicht Verzicht leistet wie in so vielen Nonnengeschichten, sondern etwas Bessereres gewinnt, eine mystische Vereinigung in der Tradition der Teresa von Avila mit ihrem himmlischen Bräutigam. Nicht umsonst tragen Nonnen einen Ehering, der sie als Bräute Christi ausweist.

Schwere Kost für heutige junge Generationen, in denen "Vögeln" das höchste aller Gefühle darstellt.

Interessant finde ich folgende Passage, in der die Annäherung der beiden Fahrt aufnimmt.

"Du bist ja doch gläubig."
Susanne hatte mich beobachtet und kam von hinten auf mich zu.
"Das ist nur ein Sozialreflex. Ich habe ein freiwilliges Jahr im Altenheim gemacht. Seitdem leide ich auch am Helfersyndrom."
"Indem du so bist, glaube ich, aber du weißt es nur nicht", sagte sie.
"Dann kann ich jede Religion haben. Dann kann ich Moslem sein, Jude, Buddhist, Haben nicht alle Religionen eine barmherzige Seite? Und haben nicht alle eine unbarmherzige Seite?"
"Was du tust, ist wichtig", sagte sie.


Es ist schon klar, Susanne möchte Thomas in ihre religiöse Heimat mitnehmen. Vielleicht denkt sie, dass ihre Entscheidung für das Kloster dann für ihn akzeptabler wird. Es ist übrigens für mich die Stelle, wo ich Susanne für egozentrisch empfinde und meine Sympathien bei Thomas liegen und auch bleiben.

Deshalb kann ich die eingeschobenen Passagen in Rom ganz gut akzeptieren, zeigen sie doch den Versuch Thomas', das Geheimnis von Susannes Glaubens zu verstehen. Ob es ihm gelingt?

Zu den Dialogen noch etwas.

Ich finde auch, dass die zum Teil etwas gestelzt daherkommen, zu wortreich, jedenfalls bei Thomas. In anderen Situationen scheint er ganz anders zu sprechen. Ich würde ihn eventuell am Anfang noch in dem gewohnt saloppen Sprachduktus lassen und erst allmählich an Susannes Stil anpassen. Ist aber nur ein Eindruck von mir, nicht wirklich eine Kritik.

Alles in allem ein sehr eindrucksvoller, mutiger Text, der ganz schön aus dem Mainstream herausfällt.

Für mich hat er auch eine Botschaft, die Thomas oben formuliert hat (Weltreligionen).

Herzliche Grüße
wieselmaus

 
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Hallo barnhelm,
etliche Deiner Bemerkungen habe ich eingearbeitet, Wortwiederholungen, Schreibung und Zeichensetzung. Vielen Dank für die sehr hilfreichen Hinweise! Tatsächlich aber wollte ich den Anfang so lassen mit dem seltsamen Gestopsel. Ja, er führt nicht flüssig in die Geschichte. Ich habe einen Tonfall des Suchens ausprobiert. Aber das wurde von einigen schon angesprochen, dass es fast abschreckend wirkt zu Beginn. Die Kursivsetzung habe ich ausprobiert. Dadurch fallen die Visionen stark ins Auge. Ich dachte eigentlich, sie sollten in den Text reinwachsen. Aber ich versuche es mal so. Vielleicht sind sie ja wirklich zu stark im Kontrast, dass man sie dann als andere Ebene besser einordnen kann. Auf einer anderen Ebene ist Susanne und ihr Glaube ja wirklich. Und dieser Bereich entzieht sich dem Verstehen letztlich, es gibt keinen schlüssigen Gottesbeweis, so sehr man sich auch drum bemüht hat. Dass es einfach nicht erklärbar ist, warum jemand sein Leben so orientiert, das fand ich interessant. Betroffene sprechen dabei häufig vage von "Berufung", was wahrscheinlich ein Konglomerat aus Erleben, Persönlichkeit und Prägung ist. Aber es bleibt in diesem Begriff eben auch in einem düsteren Nebel, was es letztendlich ist.
Beste Grüße
rieger

Hallo Kanji,
besten Dank für Deine Besprechung! Ja, der Tonfall von Susanne ist seltsam und gekünstelt und Deine Idee, das Ganze als Vision zu sehen, finde ich eigentlich auch schön. Vor allem die sexuelle Begegnung ist ja eine ins Leben geholte Vision, wie Du so schön bemerkst. Darauf läuft es ja hinaus. Berninis Marmorstatue in Rom stellt Teresa ja auch genauso dar, dass da die Grenzen zwischen geistiger Vermählung und fleischlicher Lust total verschwimmen. Das fand ich als Basis eben interessant, dass es, bei aller Abgehobenheit der religiösen Sprache und Denkweise, diese Gemeinsamkeit in der visionär/sexuellen Ekstase gibt, wie es eben bei Teresa oder Johannes vom Kreuz beschrieben wird. Aber dennoch, das bestätigt auch wieselmaus und andere Besprechungen, kann man die Dialogführung nochmal überarbeiten. Ich mach mir mal Gedanken dazu. Zwei tolle Gedanken in Deinem Schlussabsatz: Dass Susanne egoistisch ist. Ja, das ist sie wirklich und sie geizt regelrecht mit ihrer Zuneigung, weil ihr die Liebe zum Unsichtbaren mehr bedeutet. Und das ist vielleicht auch der Knackpunkt bei manchem Kleriker. Grundlegendes dazu hat Eugen Drewermann in "Kleriker" dargelegt, wo er eben diese egoistische Haltung zur Sprache bringt. Und die Beweggründe? Eine krasse Parallele: Warum entscheiden sich junge Menschen, dem IS zu folgen und im Namen einer völlig missverstandenen Religiösität Terrorakte zu begehen? Was ich meine ist: Religion ist ein nicht greifbares Gebiet, in dem Argumente und Berechnungen oft nicht funktionieren, weil grundlegende Ansichten von höherer, allmächtigen Stelle abgeleitet werden, der man als Gläubiger kaum widersprechen kann.
Sehr herzlich
rieger

Hallo wieselmaus,
besten Dank, dass Du Dich, trotz Verpflichtungen, dem Text gewidmet hast. Das sind schöne Details, auf die Du hinweist, die mir auch nochmal einleuchtend die Parallele zwischen himmlischer und irdischer Hochzeit aufzeigen. Dass Nonnen Ringe tragen, wusste ich nicht. Deine Schlussbewertung freut mich besonders. Bedenkenswert finde ich Deine Bemerkung zu den Dialogen. Das wurde vorher schon bemerkt und es würde vielleicht die Akzeptanz der Story als realistische Geschichte steigern. Kanji brachte die Idee, dass die ganze Begegnung eine Vision sei, was mir ganz gut gefällt. Dennoch könnte man über eine steigernde Dialoggestaltung die Sache ein wenig behutsamer einführen. Interessant ist auch Dein Gedanke zur Botschaft. In der Antwort an Kanji habe ich das schon angeprochen, die unbarmherzige Seite der Religion, oder eher die Offenheit einer religiösen Botschaft, die von konstruktiver Caritas zu zerstörerischer Ideologie reichen kann.
Sehr herzliche Grüße
rieger


Ah, Kanji, noch die Erklärung zur Johannespassion: Er reißt ein Stück eines Plakats ab, das die Johannespassion von Bach ankündigt, also die musikalische Erzählung der Kreuzigung. Das irritiert sie, dass er da einfach so einen Zettel runterreißt.
Herzlich
rieger

 

Hallo rieger,

ich wollte ein zweites Mal vorbeischauen. Mein erster Kommentar war ja kurz. Ich hab noch ein paar Anmerkungen mitgebracht. Vielleicht kannst du etwas davon gebrauchen.

Bei deinen Kommentaren zu fremden Texten fällt mir auf, wie schön du den Stil und den Charakter von Texten in Worte fassen kannst. Das liegt mir wohl weniger.

Ich kann nur sagen, dass ich den Ton dieser Geschichte als nüchtern empfinde. Körperliche Bewegungen beschreibst du sehr ausführlich, detailverliebt. Mitunter erzeugst du bei mir als Leserin damit eine Emotion, an anderen Stellen liest es sich für mich dann zu trocken.

Dafür dass der Plot im Grunde so hochemotional ist, kommt wenig Gefühl an bei mir. Nicht dass ich es besser könnte. Beziehungsweise ich seh auch ein, dass du den Thomas als nüchternen Ingenieur zeichnen möchtest.

aber da war nichts Besonders.

Ich hätte jetzt gedacht, entweder "nichts besonders" oder "nichts Besonderes". Weißt du, was ich meine?

„Nein, es geht schon“, meinte sie, blickte auf den Reifen und dann auf mich. „Ich hab nicht weit nach Hause. Ich kann es schieben. Danke.“

Für mich würde es so natürlicher klingen: "Nein, geht schon" [...] "Ich hab es nicht weit nach Hause. Ich kann schieben. Danke."

Ihre Haut war blass, ihre Augen schmal und weit auseinander liegend.

Hier stört mich das mit Singular und Plural. Ist nicht ganz sauber.

Sie sagte „Nicht schlimm, gib her. Ich bin am Wochenende in der Stadt. Ich rufe dich an.“

Da fehlt der Doppelpunkt vor der direkten Rede.

„Das ist Neues Testament“, erklärte sie. „Susanne ist aus dem Alten. Stell dir eine schöne Frau vor. Sie ist nackt und nimmt ein Bad in einem orientalischen Garten.“
„Die Geschichte gefällt mir“, sagte ich.

Das ist eine sanfte Ironie, die mir persönlich gut gefällt.

Mit geschmeidigen Gesten malte sie mit der Hand den Fluss ihrer Sätze nach, ließ sich die Worte einmal sanft auf der Zunge zergehen um andere energisch herauszuschleudern, als wollte sie ein Ausrufezeichen setzen.

Nach zergehen gehört ein Komma, oder?

Ich dachte an sie, wie sie erzählte, an ihre Lippen, an das „vögeln“ vom Nebentisch.

Das Wort mit V würd ich hier großschreiben.

„Nichts soll dich ängstigen“ war ein Zitat von Teresa von Avila, ergab meine Goolge-Recherche.

Auf der Avila fehlt ein Akzent. Zumindest steht bei allen anderen Avilas im Text immer einer. Und schau mal, wie du Google geschrieben hast.

„Es ist wegen ihm?“, fragte ich und deutete auf das Kreuz.

Natürlicher klänge: "Ist es wegen ihm?"

„Ich mache sozialen Dienst während der Woche. In einer kirchlichen Einrichtung“, erklärte sie. „Ich pflege dort alte Menschen. Deshalb der Blick dafür.“ Sie deutete auf den Mann.
„Ich bin beeindruckt“, sagte ich. Die ganze Fahrt erzählte sie von der Erfüllung, die sie empfinde, wenn sie Menschen helfen könne. „Im Grunde ist es ein Werk der höheren Liebe“, sagte sie als wir in den Stadtbahnhof einfuhren.

Sympathischer sind die, die Gutes tun und nicht darüber reden! Du zeigst uns die Susanne hier als Gutmensch. Überleg mal, ob die Szenen danach nicht trotzdem funktionieren würden, wenn das hier nicht da stünde.

und damit hast du gewuchert, mit dem Zins der Vorstellung, den du ins hundertfache aufgebauscht hast in deiner kranken Fantasie

Hundertfache großschreiben?

Nach einer Kniebeuge wendeten sie sich nach links, wo sich eine Tür öffnete.

Anscheinend heißt das Kniebeuge? Ich denk da eher eine sportliche Übung. Bin aber auch kein Katholik.

Ja, das ist ein spannendes Thema, das du dir da gewählt hast. Armer Thomas.

LG, Anne

 

Hallo Anne49,
besten Dank, dass Du ein zweites Mal den Text durchleuchtet hast! Deine Anregungen finde ich gut, ich hab sie gern umgesetzt. Ja, der Duktus ist schon spröde vielleicht. Das hing womöglich auch damit zusammen, dass ich, wie Du schon schreibst, diese technische Seite rauskehren wollte. Auf der anderen Seite dachte ich an einen Kontrast zu den Kommentaren der Teresa, die stilistisch ja ganz anders sind. Gerade am Schluss ist es ein richtiges Satzstaccato bei der Szene in der Kirche. Das war halt ein Experiment, sich ganz kurz zu fassen, ausschweifenden Erläuterungen keinen Raum zu geben und, ja, fast nüchtern danebenzustehen. Aber das ist sicher auch in den anderen Passagen spürbar, der Zug zum Einfachen und Übersichtlichen. Mir schwebte irgendwas Blockhaftes vor, das wie aus der Zeit gefallen ist. Und das wird wohl auch ganz unterschiedlich rezipiert.
Sehr herzlich
rieger

 
Zuletzt bearbeitet:

Hola rieger,

weil ich immer erst in die Komms schaue und erst dann die KG lese, bin ich bei Bas’ weltmännischer Bemerkung hängengeblieben:

Gibt es etwas, was mehr Spaß macht, als die Schönheit der Frauen zu beschreiben? Deine Beschreibung wirkt jedenfalls so, als würde dir das auch sehr gut gefallen, finde ich sehr schön.
Ja – das ist der zentrale Punkt für uns Männer. Grund genug, Deine Geschichte zu lesen.

Die hat mir sehr gut gefallen. Und natürlich auch der Edelhumor:

Während ich noch über eine Einheit für den Blendfaktor nachdachte und meinen eigenen Namen dafür in Betracht zog, ...
Wunderbar. Ganz große Klasse! Neben dem Glauben auch eine Variante, Unsterblichkeit zu erlangen.
Allerdings hab ich es mit dem Glauben schwerer als viele andere Leute. Und leider sind es die glaubensschwangeren, kursiven Einschübe in Deinem Text, die mir kräftiges Sodbrennen verursachen.
Diese Auszüge verherrlichen die Süße des Schmerzes so inbrünstig (für mich leider zynisch), dass mein Lesespaß Schaden nimmt.
Ganz am Rande ein paar (für mich) unstimmige Stellen:

Als Th. seine Hilfe anbietet:

Wenn ich darf?“, ...
... hätte ich bei ihrer Antwort ein ‚Sie’ erwartet, aber spricht ihn mit ‚du’ an.
„Bitte, wenn du meinst."
„Jetzt der Trockentest. Du musst den Kleber mit dem Handrücken kurz berühren. Wenn er nicht mehr klebt, kommt der Flicken drauf.“
Mit dem Knöchel tupfte sie kurz auf die Stelle und hob die Augenbrauen. „Es geht.“
Wieso erklärt er ihr das umständlich? Eine Sekunde kurz fühlen kann er doch selbst machen. Sollte dem intelligenten Studenten tatsächlich nichts Gescheiteres einfallen, das Gespräch in Fahrt zu bringen?
„Voilà, fertig.“
Das war sehr schön“, meinte sie ...
Ehrlich? So ein schlichtes Gemüt?
In den Cafés saßen Leute im Freien, obwohl es abends noch kühl war
... obwohl es abends schon kühl war?
„Ich gehe Richtung U-Bahn. Da lang.“
Wieso geht sie – mit dem reparierten Fahrrad? Ihm zuliebe? Vorher fasst sie ihn am Unterarm – ohne Grund. In meiner Vorstellung gibt sie ihm zum Dank die Hand, sagt etwas und schwingt sich auf den Sattel. So aber scheint es, dass Susanne interessiert ist.
„Da muss ich auch hin“, sagte ich.
Logisch:D.
Wir gingen nebeneinander die Straße hinunter zur nächsten Station.
Die Fahrradfahrerin geht zur U-Bahn-Station?
„Darf ich dich anrufen?“
„Nein, ich melde mich bei dir“, sagte sie. „Gib mir deine. Aber ich hab mein Handy nicht dabei.“
Wie soll das gehen? Die junge Dame ist etwas durch den Wind, mMn. Dazu noch die Johannispassion ... und ‚kopfschüttelnd’? Oh, oh, lieber Thomas.
Aber der fährt nach Rom und
Seit Stunden sitze ich vor dir, ...
sitzt hungrig und hundemüde stundenlang vor einer Marmorheiligen und wartet wohl auf ein Wunder – dass sie ihm etwas sagt. Immerhin ein (Bau)physiker:shy:.
Ich finde das schwer nachvollziehbar – nach der Reifenreparatur und einem Miniaturgespräch einem wildfremden Menschen durch halb Europa nachzufahren, aber sei’s drum. Vielleicht hat Susanne in ihm Saiten zum Klingen gebracht, die leicht verstimmt waren;).
Aber was weiß man schon? Denn obwohl ich einiges nicht nachvollziehbar finde, kann man bis jetzt – und auch im folgenden Text – nicht sagen, dass dies oder das nicht stimmig wäre.
Der Autor muss nicht schreiben, was der Leser möchte oder erwartet. Es muss ihm egal sein, was dem gefällt oder nicht.
Zugegeben – an einigen Textstellen habe ich mich nicht wohlgefühlt, aber ein lebendiger Text muss auch das leisten. Nach meinem Dafürhalten ist diese Geschichte gekonnt geschrieben, lieber rieger.
Fast unvorstellbar wie Krieg in Friedenszeiten, so können unerwartete, echte bzw. scheinbare Verrücktheiten, Katastrophen etc. in unser wohlsortiertes Leben einbrechen, und auch eine junge Frau kann trotz Unverständnis um sie herum ins Kloster gehen, oder Astronautin werden. In vieles müssen wir uns hineinschicken, ob wir wollen oder nicht. Deshalb kann auch ein Mann der Naturwissenschaft sich unrationell verhalten und niemand kann sagen, dass er einen Fehler macht.
Deine Geschichte macht mir das wieder einmal klar. Wir werden nie alles kapieren – da ist die Demut nicht mehr weit.

Kompliment für diesen Text!

rieger: schrieb:
Ich sah nur auf ihre Lippen, um die Worte ablesen zu können, die sie in einem Singsang von sich gab, der mich an orientalische Märchenerzähler erinnerte. Mit geschmeidigen Gesten malte sie mit der Hand den Fluss ihrer Sätze nach, ließ sich die Worte einmal sanft auf der Zunge zergehen, um andere energisch herauszuschleudern, als wollte sie ein Ausrufezeichen setzen.

Ja, wirklich sehr gern gelesen. Bei ‚rieger’ weiß man, was man hat.

José

 

Hey josefelipe,
besten Dank für Deine Besprechung! Gleichzeitig hoffe ich, dass sich das Sodbrennen wieder gelegt hat, das die verquasten Religionsexkurse verursacht haben. Vielleicht hat ein Kräuterlikör geholfen? Ich wünsch es Dir. maria.meerhaba hat auch darauf hingewiesen, dass diese Einschübe etwas erläutern, was im Grunde überflüssig ist. Ich hadere noch ein wenig damit, weil die abgehobenen Originaltexte der Teresa eigentlich der Ausgangspunkt der Erzählung für mich waren, also die alte Frage nach der Leib-Seele-Geschichte. Und da eben auf der religiösen Ebene bei den christlichen Mystikern die Ausblendung des Körpers, aber dennoch ein körperlich-sexuelles Empfinden im Geistlichen. Und dann eben das Hin- und Herschwanken der Susanne zwischen diesen Polen. Die Sprache habe ich dann extra ein wenig dürr gehalten, weil die mystischen Schilderungen so üppig sind. Für mich hängt also an den Texten ein wenig das Konzept der Geschichte. Aber, so wie Du sagst, dass einen Autor nicht interessieren muss, was der Leser erwartet, so muss ein Schreiberling auch akzeptieren, dass sein Konzept nicht aufgeht. Aber es hängt vielleicht auch ein wenig vom Grad der Vertrautheit mit solchen Texten zusammen. Glaubensschwanger, wie Du so schön schreibst, sind sie auf jeden Fall. Ich lass mir das sicher noch durch den Kopf gehen.
Zum „du“. Ich habe mir die beiden im Studentenalter vorgestellt, wo man sich vielleicht noch mit „du“ anspricht. Und auch das mit dem „schön“, das finde ich auch nicht so gelungen. Muss ich Dir beipflichten. Ich suche eine Variante. „Noch kühl“ dachte ich, weil es Frühling ist, tagsüber warm, aber am Abend eben noch kühler. Auch das mit dem Fahrrad. Ja. josefelipe, Du zwingst mich nochmal, den Text einfach auch in der Logik genau abzuklopfen und das ist wirklich gut. Den Einschub, dass er dann in Rom sitzt, ist ein Vorgriff auf die Fahrt, die erst nach der letzten Szene in der Klosterkirche stattfindet. Du hast Recht: Wenn man als Ursache nur die kurze Begegnung am Anfang sieht, ist das als Motivation zu dürftig. Ich habe die ganzen Szenen als Ursache zugrunde gelegt. Wenn das missverständlich ist, funktioniert tatsächlich die Geschichte nicht.
Dein Aspekt, dass man nicht alles kapieren kann, gefällt mir sehr, weil er es dann auch möglich macht, die Story ohne religiöse Identifikation zu lesen, was ohnehin nicht intendiert ist. Er muss ihre Entscheidung hinnehmen, muss sich hineinschicken, wie Du sagst, und versteht es nicht, weil die Lebenskonzepte zu unterschiedlich sind. Das ist ja eine ganz untheologische Sache. Insofern hast Du Recht, dass sie auch Astronautin hätte werden können. Aber das wäre eine andere Geschichte. Besten Dank für die Idee. Und Dein Lob freut mich sehr!
Sehr herzlich
rieger


Hallo maria.meerhaba,
und „Ave Maria“, die auch gleich einen Orden gegründet hat in Yozgat. Im Herzen der Türkei! Einen Missionsakt der besonderen Art dürfte man das schon nennen.
Mensch, was für ein umfangreicher Kommentar, der so viele Facetten anspricht, dass ich gar nicht weiß, wie ich antworten soll. Ich bedanke mich auf jeden Fall mal für die ausführliche Besprechung und bin froh, dass Dir unter dem Strich die Geschichte gefallen hat. Ich habe mich beim Leisen ein paarmal gekringelt vor Lachen. Du bringst Dinge, die Dir gefallen und missfallen einfach schön pointiert und von der Leber weg auf den Punkt und ich kann etliche Einwände sehr gut nachvollziehen
Von vorne:
„Weit auseinanderliegend“ ist wirklich nicht besonders schmeichelhaft. Die Idee war, ihr Gesicht an Berninis Marmorfigur der Teresa in Rom anzulehnen. Die hat tatsächlich solche Augen. Aber das ist wahrscheinlich zu weit hergeholt. Auch bei der Radreparatur kann ich Dir nicht widersprechen, das hat josefelipe auch schon angemerkt. Da muss ich von der Logik her nochmal drüber.
Bezüglich Verrücktheit von Christen und Moslems. Ich denke, das ist eine Frage der zeitlichen Distanz. Das Christentum vor gerade mal 70 Jahren war in dem Landstrich, in dem ich wohne, noch äußerst einflussreich und hat sich bis in die kleinen Verästelungen des Privatlebens eingenistet in Form einer moralischen Instanz, der man nicht widersprochen hat. Wir schütteln den Kopf, weil der Saudische König Frauen erlaubt, Auto zu fahren. Bei uns durften Frauen bis 1962 kein eigenes Konto führen ohne Erlaubnis des Mannes. Also, so lange sind die Zeiten bei uns gar nicht her.
Freut mich, dass mir ein paar Sätze gelungen sind, die Dir kopierwürdig erscheinen.
Und ja: Bei der Szene auf dem Balkon hast Du herausgelesen, was ich mir auch dachte. Allerdings wollte ich den Vorgang nicht durch eine Innendarstellung stören. Aber es passiert dann wohl zu abrupt. Ich bin da überhaupt auf der Suche, wann etwas plausibel wirkt, was da mindestens gesagt und geschrieben sein muss. Scheint wohl ein Kern einer Schreibaufgabe zu sein.
Jo, der Anfang, zu dem Bas sich schon geäußert hat. Zu viele Satzverbindungen wahrscheinlich mit „und“ und so weiter. Meine Idee war, die Geschichte aus der spontanen Rede allmählich kommen zu lassen. Und da ist die Sprache wohl zu ungeformt geraten. Das Anfangsbild sollte Susanne auf der Treppe darstellen, die in ein Licht schaut, das man nicht sieht, geblendet ist, von etwas, das nicht da ist. Die Sonne ist ja untergegangen. Thomas kommt und analysiert das Geschehen nach seinen Regeln der Kunst, nach mathematischen. Er überlegt, wie man etwas berechnen könnte. Er sieht aber, wie sie schaut, schaut auch, sieht aber nichts. Für mich ist das der Kern der Geschichte, das Bild. Aber wahrscheinlich ist es zu abstrakt gedacht und zu wenig verständlich und dann auch sprachlich nicht in einer Form, das es einfängt, wenn es mehr Kommentatoren so sehen.
Zu den kursiven Einwürfen habe ich josefelipe schon geschrieben. Ich probiere das mal für mich aus. maria.meerhaba, Deine abschließende Bemerkung ehrt mich schlichtweg.
Besten Dank für Deine Zeit und sehr herzlich
rieger

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo rieger

Sie kam die Treppe herunter, blieb stehen und schaute auf die Häuserzeile, hinter der eben die Sonne untergegangen war. Ihre Hand hielt sie schützend vor die Augen, obwohl sie schon im Schatten stand. Ich kam die Straße entlang und sie fiel mir auf, wie sie dastand und schaute und ich blickte auch in die Richtung, aber da war nichts Besonderes. Gewöhnliche Stadthäuser in Grau, in hellem Braun, in Gelb und über den Dächern ein noch erleuchteter Himmel, dessen Lichtquelle man nicht mehr sehen konnte. Wahrscheinlich war sie gerade aus der Kirche gekommen, zu der die Treppe hinaufführte. Täglich ging ich auf dem Weg zur Uni daran vorbei, hatte sie aber noch nie betreten.

Auch ich halte den Anfang deines Textes für etwas sperrig. Meinem Empfinden nach hat das aber keine sprachlichen Gründe (ich finde die «und» können durchaus Rhythmus erzeugen, einen Bogen spannen etc.), sondern liegt daran, dass du mich mit zu vielen Bewegungen, Richtungsänderungen überforderst. Ich habe die wichtigsten davon fett markiert, aber da gibt es auch noch die Häuser, die Dächer, den Himmel, die Sonne, die nicht mehr da ist.

Ich glaube zu verstehen, was du hier machst: Du erzählst die ganze Geschichte in nuce, die Bewegungen, die deine Figuren vollziehen, entsprechen der Entwicklung, die ihre Beziehung nehmen wird. Er kommt vorbei, blickt in die selbe Richtung wie sie, da ist also eine Gemeinsamkeit. Doch die Sonne ist nicht mehr zu sehen, sie ist dabei unterzugehen, so wie ihre gemeinsame Zukunft, es bleibt nur ein kurzer Moment der Helle. Susanne kommt aus der Kirche und die Treppe führt bezeichnenderweise nicht von der Kirche hinab, sondern zu ihr hinauf. Denn sie wird diese Treppe wieder hochsteigen. Das finde ich alles sehr gekonnt, aber in der Dichte zu viel.
Weshalb? Weil du gleichzeitig die Frau als statisches Objekt der visuellen Neugierde präsentierst. Sie steht da, hält die Hand vor das Gesicht. Du entwirfst also inmitten all dieser Bewegungen, Treppe rauf, Treppe runter, an der Uni vorbei, eine Art Standbild Susannes, und das ist in diesem kurzen Abschnitt meiner Meinung nach too much, weil sich dieses Standbild in der Kürze nicht mit der Dynamik des ersten Abschnitts verträgt. So habe ich das zumindest wahrgenommen.

Ja, lieber Rieger, das ist ein Text, der mein Interesse weckt, wie du dir denken kannst. Gerade zu Beginn dieses Jahres habe ich Santa Maria della Vittoria wieder einmal besucht und mich davon überzeugt, dass Marmor schweben kann. Und ja, Theresas gesenkte Lider, ihr halb geöffneter Mund, das kann im Betrachter schon kräftige Neidgefühle auslösen. :D
Ich fand den Versuch deshalb stimmig und schön, das in ein «reales» Setting zu überführen, die Thematik zu konkretisieren – und insgesamt hast du die Spannung zwischen pragmatischem Realitätssinn (Fahrrad reparieren) und geistiger Verzückung sehr schön aufgebaut und ausgearbeitet, wie ich finde. So mischt sich der Dampf des Klebers mit dem abendlichen Frühlingsduft und dem Hauch von Weihrauch – und dies nachdem du Susanne so beschrieben hast, wie die Staute aussieht. Das ist schon frech von dir und ich finde das auch ziemlich witzig, ehrlich gesagt.

Aber die abstrakte Gegenüberstellung der irdischen und der göttlichen Liebe, die im Gegensatz der geistigen Verfasstheit der beiden Hauptfiguren ihre Spiegelung findet, wird dann natürlich ganz konkret fassbar im psychischen Konflikt und hier wird der Text auch ernst und ergreifend.
Ich fand es spannend, wie du dich auf Thomas konzentrierst und den – würde ich mal sagen – viel dramatischeren, intensiveren Konflikt im Inneren Susannes nur indirekt beleuchtest. Denn leicht wird ihr diese Entscheidung nicht fallen, es wird womöglich eine Entscheidung für ein ganzes Leben sein, wohingegen Thomas «bloss» diese eine Liebe verliert. Nur ist Thomas auf sowas nicht vorbereitet und ich finde, dass diese Ausbrüche, der Zorn, der sich gelegentlich Bahn bricht, durchaus nachvollziehbar sind, auch wenn ich jeweils ebenfalls etwas zusammengezuckt bin und mich gefragt habe, ob das jetzt passt.

Die kursiv gesetzten Passagen sind ein Genuss! Ich mach mir jetzt nicht die Mühe, nachzuschauen, wie viel du da geklaut und was du paraphrasiert hast, das ist so oder so sehr gut gemacht.
Allerdings bereiten mir diese Passagen auch am meisten Mühe, denn Thomas Geisteswandel geht mir zu schnell. Dass er nach Rom reist, um zu verstehen: geschenkt. Finde ich eine kühne, aber gute Wendung. Aber dass er in der Lage ist, so über die Sache zu denken, in diesen Worten, das nehme ich dem Text dann doch wieder nicht ab. Vielleicht, wenn er die entsprechenden Passagen lesen würde? Oder hast du dir das so gedacht? Dann würde ich einen kleinen Hinweis setzen.

Ja, thematisch hat mich der Text überzeugt, ich habe mit Thomas mitgelitten – und die Sache lässt sich ja auch irdisch zurückübersetzen: Diese Ohnmacht, die sich einstellt, weil der Nebenbuhler unendlich attraktiver erscheint, das spricht schon an.
Ich weiss nicht, ob mir noch was fehlt. Natürlich könnte man die alte Leier vortragen: Der Text könnte länger sein, der Konflikt stärker gezeichnet – aber dann würde er vielleicht auch im Dialog zerrieben, zerredet werden.

Und dennoch: Ich hätte mehr über Susannes Motive, ihr Streben und Leiden erfahren wollen, ja. Das müsste nicht direkter sein, keine expliziten Befindlichkeitsäusserungen ihrerseits, aber vielleicht noch ein paar Hinweise mehr?

Sorry, dass ich nicht in die Details gehe, obwohl das der Text verdient hätte, mir fehlt dafür angesichts einer eigenen sehr intensiven Schreibphase etwas der Sauerstoff.

Sehr gerne gelesen!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 
Zuletzt bearbeitet:

"Had we but world enough and time,
This coyness, lady, were no crime.
We would sit down, and think which way
To walk, and pass our long love’s day.
..."
Andrew Marvell "To His Coy Mistress"​

Hallo rieger,

überm Lesen dieser bemerkenswerten Geschichte wurd ich an Marvells Gedicht "An seine spröde Geliebte" erinnert, auf das mich wiederum Peter Krümmel, ein Theaterkritiker der Zeit in dem bemerkenswerten Zeitmagazin "Was ist Liebe" vom Dezember 2013* stieß. Schon die ersten Zeilen
"Hätten wir Welt genug und Zeit, / Kein Fehler wäre deine Sprödigkeit", verraten es, dass die Liebe keinen Aufschub verträgt und damit im Gegensatz zum ersten Korintherbrief, 13, 4 ff. tritt, der bekanntermaßen schließt "sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf, …“ Man sehe nun wie durch „einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Glaube ist Vertrauen (im ahd. gilouben schwingt auch noch ein ge-loben, Treue mit, der das Neugeborene natürlich zwangsweise unterliegt, dass man ein Gespür fürs "Gottvertrauen" gewinnt ) und die Hoffnung hatte im ahd. zwei Wörter, die gegensätzlicher nicht sein können und die wir heutigen sofort erkennen: trost und wan (ausgesprochen wie unser nhd. Wahn).

Da prallen die rationale und handfeste Welt des Thomas auf die Glaubenswelt der Susanne und der Glaube siegt am Gipfelkreuz über Marvell

Am Gipfelkreuz standen wir zu beiden Seiten und schauten in die Ebene hinaus, ...
als wär's die Schädelstätte (Golgatha) und doch sagt niemand "Frau, siehe, dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“
..., die sich am Horizont im dunstigen Licht verlor. Wir hielten uns am Balken fest, so dass sich unsere Hände berührten. Sie hob einen Arm, legte ihn auf das Kreuz, senkte dann ihren Kopf und berührte das Holz mit der Stirn. Ihre Haare, die sie offen trug, fielen an den Wangen herab, dass man ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sie lehnte lange am Kreuz und ich stand neben ihr, ohne mich zu bewegen und ohne sie weiter zu berühren. Das wäre der Moment, sich näherzukommen, dachte ich und fragte mich, was mich daran hinderte, ihr übers Haar zu streichen oder sie zu umarmen. Bei jeder anderen Frau hätte ich es so gemacht. Aber Susanne war anders. Wie sie da am Kreuz stand, schien sie unberührbar und fern, wie das Bild einer Trauernden, die in sich versunken die Welt um sich herum vergessen hatte.

Aber - vielleicht hab ichs nur hineingelesen, manche Glaubenssache überfliegt ein irreligiöser Mensch halt einfach - aber ist es nicht gleichgültig, was einer glaubt, entscheidend aber ist, was er tut. Oder mit dem genialsten Gedeicht Kästners:
"Es gibt nichts Gutes,
außer man tut es."​

Trivialeres

Hier

Ich kam die Straße entlang und sie fiel mir auf, wie sie dastand und schaute[,] und ich blickte auch in die Richtung, aber da war nichts Besonderes.
ist das Ende des Relativsatzes ("wie sie dastand und schaute")

Ihren Mund hielt sie halb geöffnet und die Ohren, die fast durchsichtig schienen, durchzogen feine Linien.
Besser "durchsichtig zu sein schienen" oder "durchsichtig erschienen"

„Ich heiße übrigens Susanne“, rief sie.
**

Sehr gerne gelesen vom

Friedel,
der sicherlich noch mal vorbeischaut


* Zeit Nr. 52, 2013, im Netz unter http://www.zeit.de/2013/52/was-ist-liebe

** Das Buch Daniel hat übrigens auch in der Rechtsgeschichte der "freien" Welt mit der Susanne im Bade Eingang gefunden, insofern dort ein erster schriftlicher Beleg vorliegt über ein Kreuzverhör, die getrennte Befragung von Zeugen und Beklagten.

 

Hallo Peeperkorn,
da hast Du mir für den Anfang, der für mich selbst rätselhaft war in dem Sinn, warum er nicht elegant in die Geschichte führt, mit Deiner glasklaren Analyse sehr geholfen. Besten Dank dafür, für Deine gar nicht undetaillierte Besprechung. Und mich freut es natürlich, dass Dir in der Summe die Geschichte gefallen hat. Ich denke, wenn etwas Zeit ist, werde ich mich an die inhaltlichen Dinge nochmal heranmachen. Dafür brauche ich aber ein wenig Muße, die mir gerade fehlt. Kann also etwas dauern. Wie Du schreibst, war die in-nuce-Idee der Ausschlag für den Beginn. Alles in einem Bild zusammenzufassen, was kommt. Hier mit der Lichtmetapher, die für beide in der Richtung gleich ist, als Phänomen aber völlig unterschiedlich gedeutet wird. Und ja, das ist mir noch gar nicht aufgefallen, in Weihrauch und Gummikleber ist das Bild ja auch enthalten, in der Reifenluft als Pneuma vielleicht auch. „Schwebender Marmor“, das trifft es ziemlich genau, was das Thema ist und Deine Einschätzung der Parallele von Susanne und Berninis Figur freut mich.
Ausgang war tatsächlich die Marmorfigur in ihrer ganz offen zur Schau getragenen mystisch-sexuellen Ekstase. Dann habe ich mal nachgeschaut, wie Teresa das schreibt, weil mich diese Darstellung erstaunte. Und sie beschreibt es dann tatsächlich mit dem Vokabular des Beischlafs mit religiösen Substituten, wie Pfeil und Herz. Dann dachte ich, man könnte sie einfach so als Fremdkörper in den Text stellen, ohne Erklärung. Tatsächlich habe ich sie fast eins zu eins kopiert, nur unwesentlich zu unverständliche Passagen gekürzt. Meine Arbeit bestand da eigentlich nur in der Auswahl bezüglich der Passung im dramaturgischen Kontext. Dann wurde vorgeschlagen, sie kursiv zu setzen, was ich gemacht habe. Das ist wohl sinnvoll. Ich habe sie nicht Thomas zugeordnet. Wenn man das so versteht, müsste es tatsächlich noch eine Erläuterung geben, eine Art Literaturhinweis sozusagen, der aber das Geheimnis nicht ganz preisgibt. Auch das werde ich noch bedenken. Ebenso eine stärkere Darstellung von Susannes Motiven, das wurde auch vorher schon angemerkt. Mir geht es dann manchmal so, dass ich einen Abschluss brauche, weil manches ansteht, manchmal ist vielleicht auch Ungeduld im Spiel.
Sehr herzliche Grüße und immer genug Luft!
rieger

Hallo Friedrichard,
vielen Dank für Deine inspirierende Besprechung der Geschichte! Die Beziehung von Zeit und Liebe ist ein unerschöpfliches Thema wohl und Du bringst es so schön auf den Punkt mit der Bemerkung: „Die Liebe verträgt keinen Aufschub.“ Irgendwann muss sie Farbe bekennen. Und im spirituellen Sinn herrschen dann andere Maßstäbe, wie es Paulus formuliert.
Keinesfalls hineingelesen hast Du die Kreuzigungsgruppe. Ich dachte bei der Drapierung von Susanne an den Balken an das Bild „Mutter am Kreuz“. Tatsächlich, und daran dachte ich nicht, könnte man dann Thomas als Johannes sehen, der die Rolle aber nicht ausfüllen kann, weil er anders gepolt ist.
Deine Korrekturen habe ich übernommen. Vielen Dank für den interessanten Texthinweis und die Erläuterung zur Susannenlegende!
Sehr herzlich
rieger

 

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