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Thomas' böse Tat
Thomas biss auf die Taschenlampe. Er schmeckte das Plastik, das sich vom Beißen darauf aufgelöst hatte und sich mit seinem Speichel zu einer bitteren Pampe verband. Mit der Lampe zwischen den Zähnen leuchtete er auf den Pfad, während er mit den Händen an dem Seil zog, an dem der Sack befestigt war.
Im Halbdunkel am Wegesrand schien ihm jeder Busch ein Gesicht zu haben, das ihn finster ansah, einen Mund, der ihm seine Schuld entgegen schrie.
Er wandte sich ab, konzentrierte sich auf den Pfad, aber ihre Stimmen hallten in seinem Kopf wieder. Er spürte, wie schwer die Blicke der Buschgesichter auf ihm lasteten und er kam sich wie ein Insekt in einer Pappschachtel vor: klein und nackt.
Gleich würden sie nach einem seiner Beinchen greifen, oder ihn wie eine lästige Fliege zerquetschen.
Thomas trat leise auf, doch wenn er an seinem Bündel zog, knirschte der Kies wie der Motor eines russischen Lada vor fünfzig Jahren, der nicht ansprang.
Wenn ihn jemand hörte! Wenn ihn jemand sah!
Er streckte die Hand aus. In der Dunkelheit erkannte er die Finger nicht.
»Beruhige dich«, sagte er zu sich selbst, »um diese Zeit schlafen sie alle. Niemand wird dich bemerken.«
Aber er dachte an Margret, die höchstens eine Stunde am Stück schlief bevor sie aus dem Zelt kletterte und pinkeln ging, und oh er war zu nah am Lager, gerade einmal fünfhundert Meter davon entfernt und kein Baum war zwischen ihnen, nur freies Feld. Dämliche Anthropologin! Sie war eine Größe bei dieser Aktion, die er nicht kontrollieren konnte und dafür hasste er sie. Was hatte sie überhaupt mit der Ausgrabung der Kirche hier in Albanien zu tun? Dass sie ihn als Sprachprofessor wegen der altkirchenslawischen Inschriften brauchten, das verstand er, das war sein Glück. Aber sie?
Wutschnaubend zog Thomas wieder an der Leine. Er hörte das Knirschen hinter ihm und biss die Zähne fester zusammen. Das Gehäuse der Lampe knackte.
Vor seinem geistigen Auge sah er sie kommen: Im grünen Strickpullover über dem Nachthemd, dazu Springerstiefel und mit der gleichen Armeetaschenlampe kam sie auf ihn zu gewackelt. Sie würde aussehen wie eine Vogelscheuche. Thomas verzog das Gesicht zur Grimasse.
In der Nähe erklang ein Schrei.
Thomas fuhr zusammen und fast hätte er auch geschrien.
Sein Herz schlug gegen seinen Brustkorb.
Er blickte um sich. Um ihn herum war Schwärze.
Da hörte er ein Knacken und ein Rascheln neben ihm und er wich zurück.
Aus dem Busch schoss eine Wildziege heraus und huschte an ihm vorbei. Kaum erkannte er es, da war es in der Dunkelheit verschwunden.
Thomas atmete tief durch. Er roch den süßen Geruch von Verwesung.
Trotz der Kälte fühlte er es nass seinen Rücken hinunter rinnen. Er schauderte. Ein Blick auf das leuchtende Zifferblatt seiner Uhr verriet ihm, das es halb eins war. Er war schon zu lange unterwegs.
Thomas drehte den Kopf. Er erkannte ein paar Meter Kiesweg, dann nur noch Dunkelheit.
Margrets Lampe hätte er am Horizont sehen müssen. Sie war also nicht aufgestanden. Noch nicht.
Zeit sich zu beeilen!
Thomas zog am Seil und der Lada-Motor ertönte wieder. Nach weiteren zweihundert Metern in der Ebene wurde er Pfad steiler und schmiegte sich an den Berg. Links lagen Gesteinswände, rechts hörte er das Rauschen des Meeres.
Thomas quälte sich voran.
Mit jedem Schritt schien das Gewicht seiner Last schwerer zu werden und mit jedem Zug an der Leine schnitt diese tiefer in seine Schulter und seine Hände ein. Er wischte sich über den Mund und zum salzigen Geschmack seines Schweißes mischte sich der Geschmack von seinem Blut.
»Sisyphus!«, schoss ihm durch den Kopf. Jener König, der auf ewig einen Gesteinsblock den Höllenberg hinaufwälzen muss, der ihm jedes Mal kurz vorm Ziel hinunterrollt.
Doch für Thomas war jeder Schritt ein Schritt Richtung Freiheit.
Seine Hände waren taub, seine Schulter brannte und sein Kiefer verkrampfte sich vom Beißen auf die Taschenlampe, aber er richtete den Blick seinem Ziel entgegen und setzte einen Fuß vor den anderen. Ein Schritt, dann ziehen, das Seil schleift über die Schulter, nächster Schritt. Der nächste Schritt, der ihn näher an das Ende eines Lebensabschnitts brachte, weg von einer Last, die ihn schon zu lange begleitete.
Sein Weg erschien ihm wie eine Prüfung nach der die Belohnung wartet. Etwas, an das er später zurückdenken würde, wenn er zuhause am Kaminfeuer saß und zwanzig Jahre alten Scotch trank. Das Holz krachte, die Glut des Feuers erleuchtete das Wohnzimmer, fiel auf seine gerahmte Ehrenprofessur der Boston University an der Wand. Aus der Stereoanlage erklang der Frühlingswalzer von Chopin.
Und wenn er seine Einsamkeit genügend ausgekostet und sie satt hatte, würde er wieder ausgehen. Anfangs für einen schnellen Fick ohne Verpflichtung, später etwas ernsteres. Jedoch keine Prostituierten, die boten keinen Reiz, waren keine Herausforderung.
Einmal sah er auf dem Weg eine Blume. Zwischen Erde und Steinen schob sich ein Stängel nach oben und trug eine geschlossene Blüte. Im Schein der Taschenlampe glänzte der Klatschmohn wie Blut.
Thomas hielt inne und betrachtete ihn. Fast lächelte er. Es war die Lieblingsblume seiner Frau.
Er zertrat sie mit dem nächsten Schritt. Dann ging er weiter.
Nach drei Stunden Marsch gelangte Thomas an sein Ziel: Ein von Pinien, Linden und Olivenbäumen umsäumtes Plateau, 30 Meter breit und in der Mitte eine Grube. Ein Schild wies sie als archäologische Ausgrabungsstätte aus.
Thomas zog sein Bündel an einem MoAZ-Laster aus den 70ern vorbei. Haufen von Kies und Erde lagen auf dessen Ladefläche, die fast bis zum Rand der Grube reichten. Morgen würde die Ladung in die Grube gekippt werden und die Bauarbeiten für eine Villa mit Meerblick würden beginnen. Dann wäre ihre Ausgrabung zu Ende. Nach über tausend Jahren unter der Erde waren ohnehin nur noch die Grundmauern der Kirche übrig.
Jetzt zog Thomas seine Last bis zum Rand der Grube. Er kniete sich auf den weichen Lehmboden und schob den Leinensack in das Erdloch.
Begleitet von losem Geröll verschwand er in der Dunkelheit.
Thomas griff nach der Taschenlampe in seinem Mund. Er wollte ihn öffnen, aber er bewegte sich nicht. Mit beiden Händen fasste er Ober- und Unterkiefer und drückte sie auseinander. Die Kiefer zitterten, sein Gesicht zitterte, dann fiel die Lampe heraus. Vom Knebel befreit, klappten seine Kiefer zusammen, dass es schmerzte. Er ließ es zu. Er spürte wie sich Wärme darin ausbreitete und die Spannung nachließ. Zischend zog er die Nachtluft zwischen den Zähnen ein. Es würde noch länger wehtun, aber für den Moment ging es.
Thomas hob seine Lampe auf und richtete sie in die Grube. Fünf Meter tiefer sah er den Sack am Boden liegen.
Der Kopf einer Frau lugte an einem Ende heraus.
Selbst im schwachen Licht erkannte er den Krater, den das Beil in ihrem Schädel hinterlassen hatte. Blonde Haarsträhnen und schwarzes Blut klebten daran als wollten sie die Brutalität verdecken.
Mit bloßen Händen fuhr Thomas in die Erde, die der Kipper geladen hatte. Scharfkantige Steine darunter schürten über seine Haut und rissen seine Wunden weiter auf. Er spürte die Versuchung aufzuschreien, aber er unterdrückte sie. Stattdessen drückte er in die Erde bis seine Unterarme darin steckten.
Dann riss er das Material herunter.
Diese erste Ladung landete auf dem Boden, aber er schob sie in die Grube. Ebenso verfuhr er mit der zweiten, dritten und mit der vierten.
Thomas blickte nach unten. Der Sack war vollständig mit Erde bedeckt.
»Schmutz zu Schmutz.« keuchte er, »Wenn ich dich nicht haben kann, dann keiner.«
Über ihm leuchteten die Sterne als Lichtermeer. Er folgte dem Band der Milchstraße. Von den Bergen kommen zog es über ihm hinweg aufs Meer hinaus. Eine Windböe trieb ihm den salzigen Geschmack der Freiheit entgegen.
Ein Zittern durchlief ihn von oben nach unten.
Es wurde Zeit zu gehen.
»Vielleicht kaufe ich die Villa einmal«, dachte er sich.
Thomas ging zu einem nahen Bach, wo er sich auszog und wusch. Die Bergquelle spendete eiskaltes Wasser, das auf seinem Weg keine Wärme finden konnte.
Nachdem er Erde, Blut und Schweiß von sich gewaschen hatte, machte er sich nur mit einer Unterhose bekleidet auf den Rückweg. Am Liebsten wäre er gelaufen, doch im schwachen Licht der Taschenlampe war das den Berg hinab zu gefährlich. So brauchte er nochmals eine Stunde für den Rückweg.
Als er am Fuß des Berges ankam, ging er einem blutroten Himmel über einem lehmigen Meer entgegen. Blonde, ausgetrocknete Grashalme wiegten im Wind.
Den anderen im Lager würde er sagen, er wäre schwimmen gegangen.