Thinking about our future?
Neuorientierung ist geboten, zumindest momentan und bei mir. Eine neue Stadt, ein neuer Job und fast kein Bekanntenkreis. Es bieten sich unzählige Möglichkeiten, sollte man wenigstens meinen. Ich könnte Rugby spielen lernen, per Annonce einen anthroposophischen Diskussionskreis ins Leben rufen oder die zwielichtigen Stadtbezirke erkunden. Niemand würde die Nase rümpfen und sagen: „Das passt aber irgendwie nicht zu dir.“ Denn keiner hier weiss, was zu mir passt, am wenigsten ich.
Es ist Samstag, das behauptet jedenfalls der SPAR-Kalender an der Wand. Noch dazu im Januar des Jahres 2002. Ich fühle mich nicht nach Samstag, schon gar nicht nach Januarsamstag 2002. Ich sitze in einer Altbau-Wg, darauf wird Wert gelegt, und esse mit den darauf Wertlegenden selbstgebastelte Pizza. Der Ofen, der zur Zubereitung dient, ist ein Produkt der Firma Seppelfricke und genauso backt er auch. Er hat es sich im Laufe seines offensichtlich nicht gerade kurzen Lebens zur Eigenheit gemacht nur das untere Backblech zu beheizen, was zu einer intervallartigen Nahrungsaufnahme führt. Sieben Personen stürzen sich alle fünfzehn Minuten auf einen noch leicht kokeligen Hefematsch, der mit skurrilsten Gemüsemischungen dekoriert ist. Dazu gibt es Wein und Tocotronic. Nach Leerung der letzten Weinflasche wird der Vorschlag unterbreitet doch tanzen zu gehen. Das nennt man in dieser mir fremden Umgebung so. In anderen Städten geht man feiern, auf Tour oder zieht um die Häuser. In Gegenden mit mutigerer Mundart geht man vielleicht knödeln oder stramperln. Ich gehe immer nur trinken, da ich nicht dazu neige meine Intention zu beschönigen. Auch neige ich nicht dazu, mir fast fremde Liebhaber der Hamburger Schule überschnell zu kategorisieren oder womöglich abzustempeln. Zum Schuhplattlern neige ich ebenfalls nicht, aber das führt jetzt zu weit.
Nach kurzer Hetzerei von S-Bahn zu S-Bahn sitzen wir in einer mäßig beleuchteten Ecke und nippen erneut an Vergorenem. Das tun die meisten, natürlich nur, wenn sie gerade nicht tanzen. Es handelt sich um eine Kongressabschlussparty in einer Kellerbar. Ein SchwulenundLesbenkongress so wird mir zugetragen. Das hätte selbst ich mir denken können, ob der beträchtlichen Anzahl an unrasierten Kleidträgern. Die Musik ist drummig und mir bassig. Ich gehe vor die Tür und auf der Suche nach einem Zigarettenautomaten kaufe ich mir trotz abwesenden Appetits eine Pita, die ich einer genaueren Betrachtung unterziehe. Als ich ganz in mich gekehrt in die gefüllte Teigtasche starre, rempelt mich ein stark alkoholisierter Hardrockfan an. „Was suchste denn dadrin?“, bekomme ich entgegengerülpst. Gute Frage. Zumal mein Gegenüber viel interessanter als der Döner wirkt. Ihn kleiden eine ärmellose Lederweste mit faszinierenden Totenschädelvariationen und ein großes BECK`S Tatoo auf dem linken Oberarm. Ich bin in akuter Versuchung ihn zu fragen, ob es für eine solche menschliche Werbefläche Vergütung irgendeiner Art von der besagten Brauerei gibt. Doch beim Anzünden einer Zigarette wirbelt er so unkoordiniert mit den Armen um sich, dass ich es mir verkneife. Ob er auch ein Tatoo seiner favorisierten Zigarettenmarke trägt? Egal, ich mache mich auf den Rückweg und fast schon marketingartige Gedanken schießen mir durch den Kopf. Wäre es nicht eine Lösung für verschuldete Familien das quasi letzte was ihnen bleibt zu verkaufen: Die eigene Haut. Ein paar Firmennamen eingeritzt und lebenslang arzneimittelversorgt durch Ratiopharm, Kippen gibt es von Marlboro und so weiter. Leider(?) wird schnell klar, dass es nicht im Interesse von Großkonzernen ist, auf den Extremitäten von Sozialverunfallten zu erstrahlen. Da ließe sich nicht viel medienwirksames Interesse erschleichen, vom ökonomischen Faktor mal ganz abgesehen. Man muss schon eine paar Dimensionen größer denken. Verschuldete Städte könnten ihre Namen verkaufen. Berlin hat y mal x Milliarden Schulden. Sony könnte den maroden Laden übernehmen, das Rathaus wird ins Sony-Center am Potsdamer Platz verlagert und dann wird die Hauptstadt erst mal richtig vermarktet. Schulen würden ihre Klassenfahrten nach Beck`s (Bremen), McDonald`s (Hamburg) oder Mercedes (Stuttgart) unternehmen. Ein neues Zeitalter des wahren Kultursponsoring würde beginnen. Käffer wie Trier oder Peine hätten zwar nicht die wirklich finanzstarken Unternehmen auf ihrer Seite, aber ob eine Ansammlung hässlicher Häuser nun Detmold oder Granofink heißt, ist eigentlich nicht weiter wichtig. Hauptsache ein paar Mark bleiben hängen. Jever hätte aufgrund seiner strategischen Kurzsicht selbst Schuld kein Stück vom Kuchen abzubekommen. Mit diesem geistigen Konstrukt in meinen Synapsen kehre ich in den Keller zurück und bestelle schnell einen Tequilla. Aus den Lautsprechern dröhnt verschwommen der Chorus „Thinking about our future“.
Gott schütze uns vor Halbidioten mit ähnlichen Ideen!