Thekla und der Frieden mit Feinden
Es war schon lange nichts mehr passiert hier in dem alten Ferienhaus an der wunderschönen Ostsee, wo man nachts noch die Sterne sieht und das Meer rauschen hören kann.
Manche fanden es langweilig hier, andere wiederum genossen die Ruhe und konnten gar nicht verstehen, wie man auch nur daran denken kann, woanders zu leben.
So dachten die Menschen. es schien sie nicht einmal zu interessieren, dass sie nicht die Einzigen waren, die in den Ferienhäusern an der wunderschönen Ostsee, wo man…
Na ja, sie waren jedenfalls nicht die Einzigen.
Eines Abends, Familie Spider hatte für eine Woche eines der berühmten Ferienhäuser gemietet, um schöne erholsame Ferientage zu verbringen und sich von dem ganzen Schul- und Alltagsstress zu erholen, kamen sie endlich um genau 22:56 Uhr an.
Im Dunkeln konnte die 4-köpfige Familie nicht viel erkennen, aber die Haustür war schon mal sehr schön anzusehen.
Müde stolperte der 6-jährige Lucas die schmalen Stufen hinauf, dicht gefolgt von seiner 16-jährigen Schwester, die auf der ganzen 5-stündigen Fahrt bloß 4 Lieder auf und ab gehört hatte, ohne Pause, ohne schlafen, was Lucas absolut nicht nachvollziehen konnte.
Vater Peter schloss die Tür auf und knipste das Licht an. Mit winzig kleinen Augen blinzelten die Vier in das grelle Licht der Esszimmerlampe, die tief über dem Tisch hing. Keiner hatte mehr Lust, das Haus zu inspizieren, alle waren todmüde und erschlagen von der Reise, dass es nur noch hieß: Zähnchen putzen und ab in die Heia! Das typisch elterliche „Morgen ist auch noch ein Tag“ durfte natürlich nicht fehlen. Schlafanzug, Zahnbürste und Handtuch aus dem Koffer gekramt, und nach einer halben Stunde ununterbrochenen Wuselns war es auch schon wieder dunkel im Haus.
Gähnend reckte Thekla alle acht Beine von sich, um sich kurz darauf an einem eigenfüßlich zusammengezumselten Faden von der Esszimmerlampe zu seilen.
Im Schutz der Dunkelheit hatte sie keine Angst und konnte sich trotz ihrer jungen Jahre gut zurechtfinden.
Sie lebte hier schon länger als alle Feriengäste zusammen und kannte jeden Schlupfwinkel und jedes Löchlein in der Fußleiste auswendig. Sie war gerade dabei, eine Obstfliege an der Scheibe im fahlen Mondlicht zu beobachten und sich in ihrem kleinen Köpfchen auszumalen, wie sie auf der Zunge zergehen würde, als sie mit einem kräftigen Ruck wieder in ihr Schlafloch zurückgezogen wurde.
„Thekla!!! Wie oft muss ich dir das noch sagen?!“ ertönte liebevoll und streng zugleich die Stimme ihrer Mutter. „Du kennst das oberste Gebot des Spinnenkodex’: Niemals ein Risiko eingehen! Es sind die Menschen, die uns töten können, nicht wir sie! Dein Onkel aus Prag, ja, der hat diese Fähigkeit!“ sagte sie und deutete auf ein von Thekla selbst gemaltes Bild an der Wand. Es stellte ihren Onkel, den Bruder ihrer Mutter dar, wie er einen wehrlosen und völlig schutzlos ausgelieferten Menschen zeigte, der unter der schweren Last ihres Onkels das Gesicht verzerrte.
Damals war Thekla klein gewesen und sie hatte ein bisschen übertrieben. Aber trotzdem war ihr Onkel nach wie vor ihr großes Vorbild!
„Mama? Wieso mögen die Menschen uns nicht?“ frage Thekla wieder einmal. Sie kannte die Antwort, aber sie verstand sie nicht.
„Schatz, das weißt du doch! Die Menschen finden uns abstoßend. Sie finden uns hässlich und lästig und deshalb wollen sie uns töten. Sie haben Angst vor uns. Weiß der große Spinner, warum!“
„Aber Mama, wir können sie doch gar nicht töten!“ „Das wissen die Menschen“ erwiderte Frederike, Theklas Mutter. (Ihr Vater wollte diesen Namen, er hatte ihn einmal bei einem großen Menschenkampf aufgeschnappt, als einer rief „Frederike, hol einen Besen!“ Er hatte keine Ahnung was dies zu bedeuten hatte, aber er fand, Frederike klang sehr stark und edel.)
„Wir haben mehr Angst vor ihnen als sie vor uns.“
„Aber wieso können wir ihnen das nicht einfach sagen? Sie würden es sicher verstehen und wir könnten in Frieden miteinander leben. Und wir bräuchten uns nicht mehr zu fürchten, von einer ihrer großen Stelzen zerquetscht zu werden.“
Es kam immer wieder zu dieser Diskussion. Die Menschen würden nie mit Spinnen kommunizieren können. Die Typen waren den gewöhnlichen Hausspinnen mit ihren Kräften und Hilfsmitteln überlegen und würden deshalb nicht mit sich reden lassen.
Wie dem auch sei, Die Obstfliege an der Fensterscheibe war sicher schon verschwunden und Thekla fielen wieder die kleinen Spinnenäuglein zu. Morgen war auch noch ein Tag.
Die erste Nacht in dem kleinen Ferienhaus an der wunderschönen Ostsee, wo jeder… *räusper* …hatten alle gut überstanden.
Als sie rausgefunden hatten, wo sie aufgewacht waren und wo sie eigentlich wohnten, fanden sich alle Vier um den runden Esstisch ein und begannen das ausgiebige Frühstück.
Es reizte Thekla wirklich sehr, näher an die Menschen ranzugehen und endlich die Praktiken ihrer Nahrungsaufnahme kennenzulernen, aber das würde mächtigen Ärger mit Mama geben.
Das was Thekla sah, reichte schon aus, um ihren kleinen Spinnenmagen einen Salto schlagen zu lassen. Die Menschen aßen weiße weiche Bälle mit einer Kruste obendrauf, die sie mit brauner Paste bestrichen, um sie schließlich in ihr großes, schleimiges Maul zu schieben.
Das war zuviel für Thekla. Sie drehte sich um und übergab sich direkt über den Onkel aus Prag. Macht nichts. Wer so stark ist, wird auch ein bisschen Nahrungsbrei der Nichte vertragen können.
Schnell knüllte sie das Bild zusammen und verstaute es in einer kleinen Mauerspalte. Mit großen Schritten kam ihr Papa herein, er brachte das Frühstück, 3 köstlich fette Eintagsfliegen, sorgfältig zu einem Fadenknäuel zusammengebunden.
Nach dem Frühstück hangelte Thekla sich durch den Lüftungsschacht, um in der Pfütze unter dem großen Keramik-Dings ihr Mäulchen zu waschen.
Da erlebte sie den schlimmsten Moment in ihrem Leben.
Ein großes, rosafarbenes, behaartes, rundes Etwas stand unter der „Dusche“, wie die Menschen sagten, und bewegte sich langsam auf und ab.
Sie bekam solch einen Schreck, dass sie sich zusammenrollte und still liegen blieb.
So etwas Abscheuliches hatte sie noch nie gesehen. Ein Mensch konnte es nicht sein, Menschen haben bunte Haare überall außer auf dem Kopf, dort sind sie meistens braun oder gelb, wie Thekla bei ihren umfangreichen Recherchen festgestellt hatte. Sie sollte in der Schule mal einen Vortrag darüber halten und sie hatte eine 2+ bekommen. Aber demgroßenSpinnerseiDank war heute frei!
Als sie sich ein wenig von dem Schock erholt hatte, krabbelte sie in den Lüftungsschacht und stolperte zurück in ihr Zimmer. Darüber musste sie erstmal nachdenken.
Doch kaum hatte sie sich auf ihr Bett mit dem selbst gesponnenen Mückennetz (sie verabscheute Mücken, sogar zum essen) gesetzt, da kam der nächste Schock: eine große, fleischige Stange schob sich nach und nach immer weiter durch das Loch in ihr Zimmer. Kurz darauf wurde das Ding schnell zurückgezogen und eine große schleimige grüne Kugel mit einer kleineren Schwarzen in der Mitte - es musste sich hier um das menschliche Auge handeln - lugte in Theklas Zimmer.
Die Sprache der Menschen und die der Spinnen waren gar nicht so verschieden, es war eher ein Dialekt. Thekla konnte sie verstehen: „Mamaaaaaaaaa!!!!!!!! Hier ist eine dicke fette Spinne! Mach die weg!“. „Spinne?! Wo???!“ Schnell flitzte Thekla in das Schlafzimmer ihrer Eltern und kauerte sich dort in eine Ecke.
Der Krieg hatte begonnen.
Die Spiders hatten sich beim gemeinsamen Frühstück dazu entschieden, einen Ausflug zu machen und die „Gegend zu erkunden“. Lucas hasste diesen Satz. Da konnten die Eltern doch gleich sagen „Wir werden uns heute ein bisschen langweilen, Schatz!“ Aber Lucas sagte nichts, sonst hieß es nachher wieder, er stelle sich quer. Also fuhren sie los.
Das war die Gelegenheit für Thekla, sich umzusehen. Als die Tür ins Schloss gefallen war, seilte sie sich ab und plumpste unsanft auf den Esstisch.
Im selben Moment wurde die Tür aufgerissen! „Warte, ich hole ihn!“ hörte sie und bekam panische Angst. Sie konnte, wenn sie Angst hatte, keinen Faden spinnen, was ihre Panik noch verstärkte. Wie von der Tarantel gestochen (das hatte sie auch mal bei den Menschen gehört) rannte sie auf der glatten Tischplatte hin und her. Ihr bisheriges, kurzes Leben zog auf einmal schnell vor ihren inneren acht Augen vorbei und sie hatte sich schon beinahe damit abgefunden, dass es nun zu Ende sein sollte, als ein riesiger Schatten, geworfen von einem großen hellrosafarbenen Stäbchen sich langsam auf sie herabsenkte. An seiner Spitze klebte etwas braune Masse, wie Thekla verschwommen erkennen konnte. Sie schloss die Augen.
Was jetzt passieren würde, überließ sie dem Schicksal. Sie rollte sich zusammen.
Als sie vorsichtig ein Auge riskierte, fand sie sich auf einer größeren Fläche des rosafarbenen Stäbchens wieder. Ihr kleines Herzchen pochte noch immer sehr.
„Keine Angst!“ flüsterte eine Stimme. Thekla sah auf und blickte in einen riiiiesigen rosa Ball mit 2 glibberigen braunen Kugeln, einer schleimigen Öffnung und einer kleinen Erhebung.
Sie zitterte. Dennoch war die Angst ein wenig verflogen.
„Wer bist du?“ fragte sie zaghaft.
„Ich bin Lucas! Du brauchst keine Angst haben! Ich mag Spinnen. Ich werde dir nichts tun.“
Thekla atmete einmal tief durch und probierte, ob ihre Spinn-Drüse wieder funktionierte. Es klappte. Sie hangelte sich zu dem braunen Zeug an einem der 5 Stäbchen und probierte.
Es schmeckte! So etwas hatte sie noch nie gegessen!
Lucas lachte! „Das ist Schokolade! Menschen lieben es!“
„Spinnen, glaub ich, auch!“ antwortete Thekla mit vollem Mund. Langsam setzte Lucas sie wieder ab, holte den Straßenplan und verschwand mit einem lauten Kawumm durch die Haustür.
Das musste Thekla erst in den richtigen Bereich ihres Köpfchens einordnen. Sie torkelte in ihr Bett und schlief direkt darauf ein, Schokoladenreste im Mundwinkel.
Am nächsten Morgen hatte Thekla den unheimlich großen Drang, ihrer Mutter von dem Erlebnis mit dem kleinen Menschen zu erzählen.
Und sie hatte einen Plan entworfen, einen guten Plan! Und sie malte sich aus, wie sie die goldene Friedensnobel-Spinne bekommen würde.
Es würde ihr gelingen, den Frieden zwischen Mensch und Spinne herzustellen.
Sie eilte ins Bad und versteckte sich dort, bis Lucas, ihr neuer Freund, das Zimmer betrat.
„LUCAS!!! Lucaaaaaas!!!“ kreischte sie. Doch er hörte sie nicht. Sie lief das Wasserrohr hinauf bis zu dem Keramikdings, sodass sie mit Lucas auf Augenhöhe war. „Lucas, Mann Lucas, ich habe einen Plan!“ schrie sie eifrig.
„Soso?“ Lucas war noch sehr müde und er wirkte auch nicht sehr interessiert, aber Thekla ließ sich nicht beirren. “Ja! Sag mir, wer aus deiner Familie mag Spinnen am wenigsten?”
“Meine Schwester... Aber gib dir keine Mühe! Sie ist sechzehn und ziemlich cool, an die kommt keiner ran.“ bemerkte Lucas skeptisch.
„Ich mach das schon! Das einzige, was du tun musst ist, mir ihr Zimmer zu zeigen und dafür zu sorgen, dass sie zehn Minuten später dort ist. Und du musst so ein Ding in die Tür stecken, was ihr immer benutzt, wenn ihr nicht gestört werden wollt.“
„Schlüssel… Das silberne Ding ist ein Schlüssel…. Gut, versuchen wir’s. Aber zuversichtlich bin ich nicht, kleine Spinne!“ Lucas gähnte herzhaft und begann, sich das Gesicht zu waschen.
„Ich heiße Thekla. Und ich bin vielleicht klein, aber ziemlich clever für mein Alter. Lass mich nur machen.“
Als Lucas sich abgetrocknet hatte, verließ er das Zimmer. Thekla war in seine Hosentasche geklettert.
„Ey Futzi, wehe du gehst an meine Sachen!!!“ meckerte seine Schwester.
„Was soll ich mit deinen Sachen! Pfff Mädchenkram!“ erwiderte Lucas verächtlich.
Thekla musste kichern. Lucas war schon fast so cool wie seine Schwester.
Lucas setzte die Abenteurerin ins Zimmer seiner Schwester und stieß absichtlich ihre Parfümflasche um.
Mit lautem Poltern und Gekreische rannte das Unheil die Treppe hinauf. Ihre laute Stimme war für Lucas nun nur noch schwer zu verstehen, er war hinausgeeilt und drehte den Schlüssel im Schloss um. Jetzt war er mal gespannt…
„Mistkerl! Er sollte nicht an meine Sachen gehen! So ein Trottel!“ Isabel hob die Flasche auf. Nichts war zerbrochen – zum Glück! Als sie die Flasche umdrehte, sah sie Thekla. Und Thekla sah sie!
Isabel begann in einer so hohen Tonlage zu kreischen, Thekla wusste nicht mal, dass es diese Tonlage gibt. Und sie hatte Ahnung. Sie war im Spinnenkinderchor.
Die Flasche polterte wieder zu Boden und für Thekla hieß es nun Abwarten. Denn Isabel kam aus diesem Zimmer nicht heraus und irgendwann musste sie sich ja beruhigen.
Nach einer halben Stunde Beruhigen wurde sie still. Sie schlich zu der Flasche und beugte sich hinunter. In ihrem Blick waren Angst und Ekel, das mochte Thekla gar nicht! Doch jetzt war es für sie an der Zeit, zu sprechen.
„He, Isabel. Hast du Angst vor mir?“
„Jetzt dreh ich völlig durch. Ich höre Stimmen! Soweit hat mich das widerliche Spinnenvieh schon gebracht!“ jammerte sie voller Selbstmitleid.
„Mein Name ist Thekla und ich bin hier, um mit dir zu sprechen. Also noch mal: Hast du Angst vor mir?“
Thekla versuchte, möglichst pädagogisch zu klingen. Sie machte das auch nicht schlecht, für den Anfang.
„Die Spinne redet… Ich fasse es nicht!“ murmelte Isabel. Sie seufzte. „Oh ja, habe ich!.“
„Warum? Ich kann dir gar nichts tun.“ sagte Thekla trocken. „Komm, nimm mich mal auf die Hand!“ „Oooh nein, nein, nein, nein! Das werde ich ganz bestimmt nicht tun!“
„Warum nicht?“
„Weil ich Angst vor dir habe!“
„Warum?“
„Du bist… abstoßend!“
„Ich finde euch Menschen auch nicht gerade lecker mit eurer schmierigen Oberfläche!“
„Dankeschön!“ antwortete Isabel schnippisch.
Es vergingen ungefähr fünf Minuten des Schweigens.
Dann schielte Isabel wieder zu Thekla hinüber. Sie wusste, dass eine Hausspinne wie sie ungefährlich war. Und sie wusste auch, dass sie sich im Grunde nur doof anstellte. Also gab sie sich einen Ruck und legte ihre Hand vor Thekla ab, damit sie hinaufklettern konnte.
„ Na siehst du! Und? Schlimm?“ fragte Thekla. Sie freute sich sehr, zeigte es aber nicht!
„Ähm.. nö… es geht! Bis auf das Kitzeln! Gott! Was mache ich hier? Ich rede mit einer Spinne!“ Isabel kicherte.
Und Thekla war unendlich stolz! Aber sie wusste gleichzeitig, dass Isabel nur eine von unendlich viele Feriengästen war, die Angst vor Spinnen hatten.
Sie hatte also noch viel zu tun in ihrem Leben. Und sie freute sich darauf.
Und die Moral? Den Frieden unter Feinden herzustellen ist manchmal einfacher als man denkt. Und ein winziges Missverständnis kann die ganze Welt verändern – für beide Seiten.