Theater
Ein jeder kennt diese Art von Mädchen. Die Augen scheinen hell, doch Lider schließen sich scheu bei jeder Begegnung. Der Rücken ist gerade gestreckt, doch beugt er sich bei jedem Wort. Die Lippen lächeln rosig, doch erblassen sie bei jedem Zweifel traurig.
Das Theater ist aus. Schon seit 35 Minuten und 42 Sekunden. Und seit 35 Minuten und 42 Sekunden starrt er auf ihren Rücken. Diese zarten Flügelchen der leise tanzenden Schulterblätter, der zierliche Schwanenhals, die schmalen Schultern, die ein luftiges Taftkleid umspielt. Weinrot, so rot wie ihr Blut, wie ihre Lippen. Das Begehren in seinen Adern schnürt ihm beinahe die Kehle zu.
Seit 36 Minuten und 12 Sekunden verharrt er steif an das alte Mauerwerk gepresst. Die Hände suchen Halt im blanken Stein; Fingernägel kratzen Körnchen aus der Wand. Sie solle sich umdrehen! Ihm ihr schönes Gesicht zuwenden, mit ihren schlanken, weißen Beinen auf ihn zu stolzieren und einen zarten Kuss auf seine Wange hauchen. Doch sie lehnt nur schweigend an ihrem klapprigen Auto und raucht. Der Qualm verschleiert die Nacht und zieht weiße Schlieren im silbrigen Mondschein, dass sie wirkt wie ein erdfremder Engel.
Seit 37 Minuten und 2 Sekunden schnippt sie die Aschereste glühend auf das Pflaster. Dann den Stummel der verkohlten Zigarette. Sein Herz schlägt bis zum Hals, als er ein Stück aus dem Dunkel tritt, um sie nicht aus dem Blick zu verlieren. Ihr Haar wippt bei jedem Schritt um ihre Taille, als wolle es ihr ein neues Kleid formen.
Seit 38 Minuten und 21 Sekunden hat sie den Mann am Hause nicht bemerkt. Sie fühlt sich unbeobachtet, fühlt sich sicher. Vielleicht liegt es an der Zigarette, vielleicht am Mondschein, vielleicht am Theater.
Nach 39 Minuten und 10 Sekunden surrt der Motor auf und sie drückt das Gaspedal durch. Er taumelt aus dem Schatten. Betörte Sinne, lüsternes Grinsen, erhabener Blick, stürzt er vor die Reifen. Gummi quietscht. Ein Schrei. Hysterie. Er rappelt sich auf, schon umfassen die knochigen Finger seine Schultern. Ob er verletzt sei – mitnichten – ob es ihm gut ginge – bei ihrem Anblick– ob sie ihn heimbringen solle. Knirschend reißt ihr Kleid. Seine Hände pressen ihre Brüste gegeneinander, sein Becken drängt sich an ihres.
Vor 40 Minuten und 28 Sekunden wurde beschlossen, dem Engel die Unschuld zu rauben. Ihr feuchtes Blut ist kaum mehr als eine glänzende Spur im roten Taft. Die Wangen fahl, der Rücken krumm, die Lider schwer; nur der Lippenstift strahlt in ihrem toten Gesicht. Ein Engel gefallen aus Schönheit und Lust. Für 40 Minuten und 28 Sekunden – für nichts.