Mitglied
- Beitritt
- 05.06.2013
- Beiträge
- 4
Theater
Das Theater
Ich gehe mit meinem Rucksack auf den Schultern die Treppen runter und zur Tür hinaus. Ein fürstliches Viertel. Die Sonne ist bereits hinter den Prachtbauten und ihren kaleidoskopartigen Fassanden verschwunden, doch ihre Energie ruht noch über der Strasse und zwischen den Häusern. Das grobe Pflaster singt und die Wände klatschen. Wenige Menschen. Ich gehe einige Schritte und nach den ersten drei Zügen tiefer Luft fasse ich in die Schultergurte meines Rucksackes, strecke den Kopf ein wenig und sehe mir alles an. Ich bin zwar schon länger hier, kenne mich aus, doch scheint das Neue sich nicht zu erschöpfen. Gestern war es nicht da. Woher kommt es jetzt? Was ist es denn? Ich bin sicher, die Strasse, die Häuser und die Leute sind die gleichen. Genau gleich. Ich fasse zusammen: Alles scheint neu. Alles ist gleich. Irgendwas muss aber anders sein. Sonst wäre es nicht neu. Wenn das Neue also existiert und nicht in Licht und Klang zu finden ist, wo dann? Hinter meinen Augäpfeln. Dort muss etwas anders sein. Der erste Impuls möchte sich wehren. Kontrolle erlangen. Handlungssicherheit. Ich will zulassen. Es fühlt sich gut an. Nicht festhalten. An der gegenüberliegenden Seite der T- Kreuzung läuft senkrecht zu mir ein Mann. Ich versuche an seinem Schritt zu erkennen, welches sein Ziel im Leben, welches sein Quell von Glück und was für ein Vater er ist. Ich höre nicht viel. Eigentlich nichts. Während eines Momentes reift dieser Eindruck zu einer erschütternden Erkenntnis. Statisten. Ich habe das Gefühl als laufe ich auf einer Bühne. Nein- eigentlich stehe- besser fühle ich mich vor der Bühne und verstehe seinen Auftritt nicht. Kennt er denn seine Rolle? Ich meine spielt er einfach, was ihm gesagt wurde ohne sich damit versuchen zu identifizieren? Oder übt er vor dem Spiegel und fragt seine Freunde, ob es glaubwürdig ist? Er passiert den Zenit meines Blickfeldes und noch während ich den tiefen Eindruck dieser Vorstellung loslasse, indem ich meinen Blick nach rechts entlang des Weges richte, den ich nun weitergehen werde, fühle ich selbst mich nun auf der Bühne. Es ist stark. Ein staunendes Lachen entfährt meinem Mund, der mit gespreizten Mundwinkeln noch leicht geöffnet den schweifenden Blicken meiner Augen folgt. Gut, dass gerade keine Vorstellung ist. Ich habe das Gefühl, ich falle eben aus der Rolle. Es muss so sein. Ich fühle mich plötzlich leicht und von Erwartung befreit. Vergesse meinen Text. Ich gehe weiter. Die Bühne ist groß. Es war sicher ein großer Aufwand, sie zu errichten. Ich kann froh sein, hier mitspielen zu dürfen. Ich kenne meine Rolle nicht so recht, doch bisher hat sich niemand großartig beschwert- also wirds schon passen. An den Tischen eines Imbisses am Bürgersteig sitzen Leute. Ich gehe auf der anderen Seite. Schaue herüber. Was spielen sie? Einer liest die Zeitung- übt wohl seinen Text. Sehr engagiert. Ist nicht meins. Mir entgegen kommt ein Mädchen. Von weitem schaut sie, dann im vorbeigehen blickt sie auf den Boden. Was spielt sie? Sicher dachte sie über ihre Rolle und ihren nächsten Moment im Licht nach. Es soll perfekt werden.
Irgendwie hab ich den Eindruck, der Verfasser dieses Theaters hat einen Hang zur Tiefsinnigkeit. Überhaupt wirkt alles tiefsinnig. Tiefsinnigen Gedanken steht nur selten ein Lächeln. Vielmehr ein konzentrierter Blick zu Boden. Will man sich in seine Rolle einfügen, will man authentisch sein, sollte man die Momente vor dem Auftritt konzentriert sein. Kein Geschwätz. Ich hoffe, bis zu meinem nächsten Auftritt dauert es noch etwas. Also zumindest nicht jetzt. Mein mildes, waches und auch staunendes Lächeln hält sich seit der T-Kreuzung doch immer noch. Aber es passt. Nicht ins Stück, doch jetzt gerade ist es für mein Gesicht sehr entspannend. Ja, man muss auch mal die Konzentration, die Gedanken und die Tiefsinnigkeit loslassen. Sonst verliert man sich in seiner Rolle. Das Wunder der Oberflächlichkeit erahnen. Einen Moment der Bewunderung opfern und im Geiste die Hingabe, Mühe und Authentizität der Requisiten anerkennen.
Meine Rolle... Mal sehen. Jetzt mach ich Pause. Ich schaue mir an, wie die andern spielen. Man lernt ja nicht aus. Ich sollte vielleicht generell versuchen, dieses Stück zu verstehen. Das geht am besten vom Publikum aus. Blöd, da mein Vertrag noch einige Zeit geht. Also darauf warten, bis ich von der Bühne kann, die Seiten wechseln und zuschauen kann (bis wieder Plätze frei werden), kann noch dauern. Jemanden fragen könnte helfen. Aber ich muss warten, bis ich jemanden treffe, der auch Pause hat. Das wird schwer. Ich will niemanden aus der Rolle reißen. Ich könnte nach ähnlich lächelnden Leuten Ausschau halten. Am besten dort, wo sonst nicht viel gelächelt wird. Logisch. Ansonsten erfahre ich ja auch nur, was jemand, der seine Rolle ausführt, aus dieser heraus über das Theater weiß und sagen kann. Und das wird wenig bis gar nichts sein. Wo in, beziehungsweise während eines Filmes hört man denn schon ein Statement oder Hinweis von einem Darsteller zur Natur des Filmes? Ein guter Schauspieler muss gar das Gegenteil bewirken und jeden Zweifel zerstreuen, der an dem Eindruck des Echten, Wahrhaftigen kratzt. Und ich möchte niemanden in die Bredoullie bringen, sich zur Beantwortung meiner Fragen des Risikos auszusetzen, dabei gesehen zu werden seine Rolle verlassen zu haben. Das mindert den Marktwert und eine der wenigen Hauptrollen kann man dann auch vergessen.
Einige Zeit später. Die vielen neuen Eindrücke sind schon nicht mehr neu. Ist ja auch normal. Meine Freude ist nunmehr schwerem staunen gewichen. Ich fand niemanden zum reden. Die Professionalität ist einschüchternd. Ich habe das Gefühl, dass meine Auszeit eine Form der Missbilligung schürt. „Los mach weiter“ bilde ich mir ein von den Kollegen zu empfangen. Freillich- sagen tut es niemand. Dabei schaut (mir) doch grad niemand zu. Denke, hoffe ich. Oder stehe ich im Rampenlicht und drohe das Stück zu ruinieren? Oder spiele ich bereits das, was ich soll? Eine Antwort bekomme ich nicht jedoch mögen die Gedanken mir bedeuten, dass die Pause um ist. Also gut, zurück zur Tiefsinnigkeit des gespielten Alltagsmanächismus. Ich könnte ja mit jemandem ein Gespräch über Kriege, Armut oder Autofelgen führen. Das passt in den Hintergrund des Stückes. Machen viele. Aktuell, aber nicht zu stark. Statisten sollen authentisch wirken ohne dabei dramatischer, interessanter oder gar provozierender zu sein, als die Hauptdarsteller. Ich möchte gut sein. Mich einfügen. Kann ich das? Sicherlich. Ein wenig stressig der Gedanke. Will ich? Ich sollte mir auf alle Fälle gut merken, wie man hier Pause macht- tut gut. Der Applaus am Ende? Egal. Applaudiert wird immer. Und danach ists vorbei.