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"The Only One"
Himmel über mir. Eine weiße Nacht, eine Mischung aus hellblau, hellgelb und dunkelschwarz - kein Maler der Welt könnte seine Farben so auftragen, dass er diese unendliche, bedrückende Weite auch nur annäherend ausdrückt.
Ich starre in diesen Himmel, reiße die Augen auf und atme die Luft ein, die krebserregender ist als 10 Packungen Zigaretten, ziehe diese Luft in mich hinein, die einzige Droge, von der ich tatsächlich abhängig wurde, atme, atme, atme und habe das Gefühl, zu ersticken.
Augen weit aufgerissen, die hellen Haare umschmeicheln mein Gesicht, während der Wind meinen Körper streichelt und sanft nach vorne drängt.
Der Abgrund unter mir. Lichter, Tausende von Lichtern einer schillernden Stadt, einer untergehenden Welt, zu der ich gehöre, in der und die ich bin. Und wenn ich hinunterblicke, falle ich, ich zerbreche in dieser Welt, ich zerbreche in mir, an mir. Ich breite meine Arme aus und denke an die, die ich zurücklasse, die dieser Wind von mir wegträgt. An die, die mir folgen werden. An die, die mich vergessen werden. An die, die ich nie kennenlernen durfte. Die liebenden Arme meiner Eltern, die mich über das Meer gehoben haben, die mir eine Welt geschaffen haben, wo ich mir nicht vorstellen konnte, nicht geliebt zu werden. Die Lippen, die mir immer aufs Neue Seelen eingehaucht haben, Seelen, die ich nun in mir trage.
All die Teile meiner Seele blicken nun auf mich hinab, aus einer leeren Welt, wo ich sie zurücklasse und hoffe, dass ihre Träger das errichten, wofür meine Kraft nicht ausgereicht hat. Ich bin gebrochen, zerbrochen, innerlich längst tot und doch so voller Leben. Ein schlagendes Herz, so furchtbar schnell, so unsicher, so hoffnungsvoll, als würde es gleich aus meinem Körper herausspringen - und tatsächlich sehne ich mich aus diesem Körper hinaus, in diese Luft, in diesen Himmel, dessen Musik in meinem Kopf erklingt, ich sehne mich nach dem Nicht sein, nach dem Nichts sein, nach Freiheit.
Der Versuch, mir den Tod vorzustellen, misslingt. Wie ich nicht leben kann, wie ich nicht sein kann, wie nichts sein kann, ich scheitere an meiner eigenen Vorstellungskraft, die mir wunderschöne tränenreiche Bilder vor die Augen zaubert, aus denen nun auch Tränen hinausfließen und vom Wind in die Ewigkeit getragen werden. Er berührt mich zärtlich, er drängt mich in den Abgrund und flüstert leise, dass ich verloren bin. Dass ich verloren bin, weil ich bereits hinunterblicke, weil ich in die Augen dieser Welt starre, unfähig, mich abzuwenden, unfähig, Angst zu verspüren.
Ein leichter Stoß.
Ein kleiner Schritt.
Lichter, die wie Sterne aussehen und auf mich hinabregnen, es regnet Feuerwerke und es regnet meine eigenen Tränen. Bewegung, ein Luftzug, ein langgezogener Körper mitten über der Welt, nur einen Augenblick lang. Eine Sekunde Freiheit.
Blut sickert meinen Rücken hinab, zwei feine Schnitte und Knochen, die sich aus der Haut wölben, die sie durchstoßen und sie in Fetzen schneiden, die wachsen und sich immer weiter teilen, bis ich federleicht werde und Federn meine Flügel bedecken, bis ich bemerke, dass ich in der Ewigkeit schwebe, dass es keine Grenzen gibt, dass die Welt mir für mein Opfer ein Geschenk gegeben hat, das mich nun mit dem Himmel Eins werden lässt.
Und als ich die Arme ausbreite, umarmt mich der Wind, er presst sich an mich und gleitet mit mir hinunter in einen halsbrecherischen Stürzflug durch die stinkende Wirklichkeit.
Ich fliege an Fenstern vorbei, wo kein Licht mehr brennt, wo die Menschen in sich und ihrer Leere versinken. Ich passiere die Lichter und die tanzenden Körper, die zu vergessen versuchen, wer sie sind. Doch etwas trennt mich von ihnen und es ist mehr als nur ein Paar Flügel, es ist schon immer so gewesen und hat aus mir mehr als nur einen Menschen gemacht - oder vielleicht auch weniger...
Doch als ich lande, lande ich im Schein einer Nachttischlampe und vor einem Bett, auf dem ein Mensch liegt, der die Dunkelheit mit seinen stechenden Augen beobachtet, der auf meine schmutzigen grauen Flügel und mir in die kaputte Seele blickt.
Und wenn ich mich zu diesem Menschen lege, schließe ich endlich die roten schmerzenden Augen und schlafe allmählich ein, fortgetragen von seinem wunderbaren Geruch.