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The Mad World
-Karl Kraus-
Benommen liegt die junge Frau auf der vergilbten Matratze. Ober- und Unterkörper liegen unnatürlich verdreht zueinander. Sie versucht ihre Augen offen zu halten, doch es gelingt ihr nur unter fürchterlicher Marter. Das Licht, das diese hereinlassen, droht ihren Schädel in Fetzen zu sprengen.
Der ganze Raum dreht sich. Ein kahles, heruntergekommenes Zimmer. Der Putz löst sich und bröckelt bereits von den verdreckten Wänden. Die einzige Lichtquelle bildet eine Nachttischlampe, die lieblos in einer Ecke steht. Die Fensterscheiben sind mit Zeitungspapier abgeklebt. Keine Möbel.
Von draußen hämmert der Regen gegen die Fassade. Vielleicht sind es aber auch Hände. Hände, die gegen das Gebäude trommeln. Die Hände der Menschen die hineingelassen werden wollen. Damit sie ihr beim Sterben zusehen können. Das synthetische Gift hat die Wahrnehmung des Mädchens längst verpestet. Sie presst die Augenlider zusammen.
Jede Bewegung gleicht einer Tortur. Jeder Atemzug, jedes Zucken eines Fingers zerschneidet ihr den misshandelten Leib. Ein freiliegender, menschlicher Nerv, der auf den Stahl einer Rasierklinge trifft.
Sie spürt, dass sie sich eingenässt hat. Die nasse, kühle Stelle fühlt sich auf ihrem brennenden Körper irritierend wohltuend an. Über ihrer Haut flimmert die Luft. Sie hört das wuchtige Pochen ihres Herzens, und wie es die Wände um sie herum zum Erschauern bringt. Ächzend pumpt es Benzin durch ihre Venen und Adern. Eine Woge nach der anderen. Ihre Beine sind zu Stein geworden. Zu schwer um sie an zu heben. Alles hier riecht nach Schweiß, Scheiße und Kotze. Immer wieder übermannt sie der Schlaf. Abgründige Fieberträume kriechen durch die Risse in den Wänden an sie heran, und flüstern ihr grauenhafte Geschichten von drastischer Intensität ins Ohr. Eine Träne rinnt ihr in den Mund.
Beunruhigend düstere Electrosounds stampfen blechern aus der Dunkelheit. Dann nimmt sie Schritte wahr. Sie ist nicht allein.
„Guten Abend, Kleine. Aufgewacht?“
Sie dreht den Kopf. Das blonde Haar klebt ihr an der verschwitzten Stirn.
„Wo ... wo ist er“, stammelt sie kaum hörbar, „ist er ... hier?“
„Er hat gesagt ich soll eine Weile auf dich aufpassen. Er kommt bald zurück.“
Die Schritte kommen langsam näher. Sie öffnet die Augen einen Spalt weit. Ein Mann kommt auf sie zu. Er tritt auf die Matratze. Sie gibt nach, schwankt. Dem Mädchen wird schlecht. Er steht jetzt direkt über ihr und blickt auf sie herab.
„Kannst du … kannst du ihn holen?“. Die Worte des Mädchens taumeln.
„Er kommt bald wieder!“
Der Mann beugt sich zu ihr hinab und kniet sich über sie. Die Matratze gibt weiter nach. Sie spürt, wie sie darin zu versinken droht. Sie ertrinkt jeden Moment in dieser verdreckten Masse, in der sich Maden und Würmer winden.
„Kssscht...alles gut!“ beruhigt sie der Fremde. Er beugt sich vor und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn. Heißer, fauliger Atem übergießt sie.
„Hol ihn bitte ... hol ihn her!“, wimmert sie.
Er öffnet seine Hand. Eine Spritze liegt darin. Mit der anderen Hand dreht er ihren Kopf zu sich. Sie würgt. Der ganze Raum kippt zur Seite. Sie versucht die Augen offen zu halten. Sein riesiges Gesicht schwebt direkt über ihr. Die Tattoos auf seiner Haut bewegen sich und verändern sein Aussehen ununterbrochen. Er zeigt ihr die Spritze.
„Ich soll dir etwas davon geben. Das ist Medizin.“ Seine Stimme wirkt fürsorglich. Sie passt nicht zu der teuflisch grinsenden Fratze. Sie nickt gierig. Er greift ihren schlaffen Arm und hebt ihn hoch. Sie schließt ihre Augen und dreht den Kopf zur Seite.
Er setzt die Nadel an ihre Ellbogenbeuge und sticht zu. Sorgfältig injiziert er ihr die klare Flüssigkeit. Ihr Mund öffnet sich. Die Stelle des Einstichs wird warm. Dann heiß.
„Ist das gut?“, fragt er.
„Ja ... ja ist gut“, haucht sie.
Wohltuend strömt die Medizin durch ihren ausgemergelten Körper. Sie verdünnt das aggressive Benzin in ihren Adern und entspannt den Herzschlag.
„Ja … Ja das ist gut.“ krächzt sie erneut. Dankbar stößt sie die verbrauchte Luft aus ihren Lungen. Eine Tür öffnet sich kreischend. Irgendwo dort im Dunkeln. Eine zweite Stimme macht sich in dem stickigen Zimmer breit:
„Bist du fertig?“
„Gleich!“, antwortet der Tätowierte.
Sie entspannt sich weiter. Der andere Mann tritt ebenfalls an sie heran und geht neben ihr in die Hocke. Sie öffnet für einen Moment die Augenlider und starrt ihn an. Er nimmt seine Zigarette aus dem Mund und bläst ihr den blaugrauen Dunst ins Gesicht. Sie wendet sich hustend ab.
„Lass den Scheiß!“, fordert der Mann mit der Spritze.
Der Raucher berührt sanft ihren Bauch. Seine Fingerspitzen krabbeln ihren Körper hinauf. Ihr Magen zieht sich zusammen. Er grinst:
„Spürst du das, Süße?“
Sie verzieht das Gesicht: „Was … was ist das?“
Die Finger seiner Hand bewegen sich unaufhaltsam weiter. Sie passieren ihre Brüste und steuern auf den wunden Hals zu.
„Das ist meine Vogelspinne!“
„Was …?“ Sie keucht.
„Meine Vogelspinne du kleine Schlampe“, ein raues Lachen entrinnt seiner Kehle, „und sie ist auf dir drauf!“
Sie dreht den Kopf hin und her und schlägt nach der Hand des Mannes. Er gluckst und legt die Hand erneut an. Sie verkrampft sich. Angeekelt wehrt sie sich jetzt mit beiden Händen gegen das imaginäre Spinnentier.
„Du sollst den Scheiß endlich lassen!“, schimpft die Fratze über ihr und stößt ihn weg. Lachend steht der Andere auf.
„Schon gut. Bist du bald fertig? Ich hab Hunger verdammt!“
„Ja gleich!“
Der Raucher geht durch den Raum und verschwindet im Badezimmer. Er schließt die Türe ab. Sie fühlt sich wohler, jetzt da er weg ist. Die wohlige Wärme breitet sich noch immer in ihr aus. Der Mann mit der Spritze beugt sich wieder zu ihr herunter.
„Ich bin gleich wieder da!“, flüstert er.
„Wo gehst du hin?“ Sie öffnet die Augen nicht. Er streichelt ihr mit dem Finger die Wange entlang.
„Nicht weit weg“, zischt er, „und dann gibt’s mehr. Mehr Medizin.“
Die Vorstellung gefällt ihr. Sie nickt. Er nähert sich ihr noch einmal. Sein Gewicht spürt sie kaum. Er wischt ihr eine verklebte Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie sieht ihn an.
„Bis gleich Süße.“ Grinsend öffnet er den Mund. Seine warme Zunge wälzt sich ihre Wange hinauf und hinterlässt eine saubere Spur auf dem verdreckten Gesicht.
Krachend springt das Schloss aus der Eingangstüre, als sie von schweren Tritten aufgetreten wird. Holz splittert durch den Raum. Der Mann springt von der Matratze auf und dreht sich um:
„Was zum Teufel …?“
„Nicht ganz!“
Der erste Schlag des maskierten Eindringlings treibt dem Mann Zähne und Zunge tief in den Rachen hinein. Ein einziger, röchelnder Ruf gelingt ihm noch. Der zweite Schlag kommt von unten und rammt ihm den Unterkiefer in den Oberen. Warmes Blut füllt seinen Mund. Alles wird schwarz. Geräuschvoll geht er zu Boden und bleibt reglos liegen.
Der Raucher, die Zigarette noch immer zwischen den Lippen, stürmt aus dem Badezimmer. Ein Baseballschläger zerschellt an seiner linken Schläfe. Augenlicht und Gehör zerspringen wie Glas. Ein Schrei wird zu einem kläglichen Gurgeln. Er dreht sich um die eigene Achse. Die glühende Zigarette fliegt quer durch das Zimmer. Er torkelt noch einen Moment lang und bricht dann zusammen.
Die gesichtslosen Eindringlinge schwärmen aus. Sie sind zu dritt. Einer tritt zielgesteuert zu dem Mädchen auf der Matratze und hebt ihren Oberkörper an.
„Alice? Alice hörst du mich?“ Er schüttelt sie sanft. Sie öffnet die Augen und sieht ihn an. Das Licht im Raum ist schwach und ihre Augen verklebt. Sie erkennt zwei große dunkle Augen und die langen Ohren, die nach oben hin abstehen. Sie hebt ihre Hand und berührt das Fell, das sein Gesicht säumt.
„Alice. Hörst du mich?“
„Wer …?“, flüstert sie.
„Wir holen dich raus!“ Seine Stimme klingt dumpf und verzerrt unter der Maske. Er hebt sie hoch. Ihr Kopf kippt nach hinten und baumelt leblos an ihrem Hals. Ihre Welt steht Kopf. Die anderen beiden stehen an der zerfetzten Eingangstüre.
Sie spürt, wie sich sein Arm unter ihren Kopf legt:
„Schnell, ich brauch Wasser!“ ruft er.
Sie öffnet die Augen. Ein Mann mit einem großen Zylinder auf dem Kopf sprintet auf sie zu. Sie kann sein Gesicht nicht sehen. Zu tief sitzt der Hut und versteckt Augen und Nase. Er holt eine Flasche hervor und hält sie über ihren Kopf. Kaltes Wasser entleert sich über ihr Gesicht. Dann schiebt er ihr die Flasche grob zwischen die Lippen.
„Trink!“, wird sie aufgefordert.
Sie nimmt 2 große Schlücke, kann das Wasser aber nicht bei sich behalten. Sie wirft den Kopf zur Seite und erbricht es. Ihre Augäpfel verdrehen sich.
„Komm schon Alice!“
Sie spürt, wie ihr unbekannter Retter in die Knie geht. Noch einmal wird die Flasche angesetzt. Sie würgt mehrere Schlücke hinunter. Sie behält sie bei. Den restlichen Inhalt der Flasche leeren sie ihr über den verschwitzten Oberkörper. Hände tätscheln ihre Wangen um sie wach zu halten.
„Bist du das … bist du zurück?“, fragt sie benommen.
„Wir bringen dich Heim Alice!“, beruhigt sie der Mann hinter der Hasenmaske.
„Beeilt euch!“, kommt es aus Richtung der Eingangstür.
Die starken Arme heben sie erneut hoch. Sanft schwebt sie aus dem Zimmer. Ihr Blick fällt auf den dritten Eindringling, der an der Tür Wache hält. Er ist groß und stämmig. Er trägt einen dunklen Kapuzenpullover, der den Großteil seines Gesichtes verdeckt. Schwarze Tarnschminke verwandelt ihn gänzlich zu einem Schatten. Lediglich sein zu einem breiten Grinsen verzerrter Mund ist erkennbar. Das psychotische Grinsen irritiert Alice zutiefst. Es ergreift Besitz von ihr. Es verdreht ihr den Rest von Bewusstsein und krümmt die Wirklichkeit. Sie stößt an die Grenzen der Ohnmacht.
„Bleib wach!“, befiehlt der Mann unter dem Hut.
Sie verlassen die Wohnung und betreten einen spärlich beleuchteten Hausflur. Gesprungene Fliesen säumen den Boden. Rost blüht an den Wänden. Schnellen Schrittes erreichen sie das Treppenhaus.
„Wartet!“, zischt der Mann mit dem starren Grinsen. Er lehnt sich über das Treppengeländer und wirft einen vorsichtigen Blick nach unten. Mehrere Schritte kündigen eine Armee an. Das Licht von Taschenlampen frisst sich durch das dunkle Treppenhaus.
„Sie kommen. Da lang!“ Er gibt der Gruppe ein Zeichen ihm zu folgen. Alice Wahrnehmung beschränkt sich auf Geräusche, Bewegungen und kurze Augenblicke. Über den Köpfen der Flüchtenden ziehen flackernde Neonröhren entlang. Grob schaukelt sie in den Armen ihres namenlosen Bewachers.
„Halt durch Alice“, sagt er schnaufend.
Alice presst die Augen zu. Das wandelnde Licht macht sie krank. Ein Schluchzen erstickt in ihrer Kehle. Ekel keimt in ihr auf. Ekel vor sich selbst. Sie spürt jeden ihrer Knochen unter der dünnen Haut. Und wie sie aneinander reiben. Beinahe schon kann sie das schleifende Geräusch hören. Der Geschmack von Galle schleicht sich ihren Hals hinauf.
Sie erreichen einen Lift. Eine zwischen die Fahrstuhltüren geklemmte Eisenstange, hindert ihn an der Weiterfahrt. Sie tragen Alice in die Fahrstuhlkabine. Hinter ihnen ertönen laute Rufe. Die kapuzentragende Gestalt zieht die Eisentange aus seiner Verankerung.
„Ich halte sie auf!“ grinst er.
„Wir werden nicht lange warten können“, sagt der Hutträger.
„Schon gut. Seht zu das ihr wegkommt.“
Die Lichter im Hausflur gehen aus. Lediglich der Fahrstuhl wirft jetzt noch sein grünliches Licht in die tiefe Dunkelheit.
Alice Augenlider flattern. Aus den Gängen nähern sich wütende Rufe und stampfende Schritte. Ein Monster gräbt sich seinen Weg zu ihnen.
Er, der Riese, umklammert die Eisenstange und verschwindet rückwärts in der Düsternis. Mit einem Ächzen beginnen sich die Fahrstuhltüren zu schließen, und das Letzte was Alice von ihm sieht, sind die weißen Zähne und wie sie in der Dunkelheit verschwinden. Verzogen zu einem höllischen Grinsen.
Der Fahrstuhl setzt sich in Gang. Keuchend geht der Mann, in dessen Armen sie liegt, in die Knie.
„Alice, kannst du Stehen?“, fragt er.
Ihre Beine berühren den kalten Boden. Sie sind noch immer bleiern und taub. Kraftlos baumeln sie an ihrem Körper.
„Komm schon.“
„Ich kann nicht ...“, stöhnt sie.
Rumpelnd setzt der Fahrstuhl seine Fahrt nach unten fort. Das Licht im Inneren der Kabine flackert bei jeder noch so kleinen Erschütterung. Sie erreichen das Erdgeschoss. Mit einem Ruck bleiben sie stehen. Die Fahrstuhltüren öffnen sich.
Sie versuchen, Alice auf die Beine zu helfen. Reißender Schmerz durchzuckt ihre Glieder. Sie schreit auf.
„Hilf mir!“, fordert der Mann unter der Hasenmaske sein Gegenüber auf.
Sie packen ihre Arme und legen sie sich über die Schultern. Alice stößt klagende Laute aus.
„Wir haben es gleich geschafft. Halt durch.“
Sie verlassen den Fahrstuhl und bewegen sich auf den Ausgang des Gebäudes zu. Aus den oberen Stockwerken hallen Geräusche des Kampfes zu ihnen herunter. Eisen trifft auf Knochen. Schlaffe Körper schlagen auf harten Boden. Das Echo treibt die Schreie der Sterbenden und das Lachen des eisenschwingenden Soziopathen durch die endlosen Flure. Sein Rufen schallt zu ihnen herab, während sie sich dem Ausgang nähern:
„Wehrt euch nicht“, befiehlt er in einem verwirrenden Brei aus Freude und Zorn, „Lasst es geschehen. Lasst mich in euren Kopf.“
Sie stoßen die Tür nach draußen auf und fliehen in die Nacht. Innerhalb weniger Sekunden sind sie nass bis auf die Haut. Eisiger Regen hämmert erbarmungslos auf sie herab. Die Lichter der Stadt verschmelzen in diesem Sturm zu einem bunten Ölteppich.
Alice spürt das reinigende Wasser auf ihrem Körper. Es erfasst ihre toten Glieder und lischt das Feuer, das unter ihrer Schädeldecke brennt. Sie legt den Kopf nach hinten und öffnet den Mund. Ein befreiendes Keuchen entrinnt ihr. Der Regen fließt in sie hinein. Füllt sie. Strömt durch all die verseuchten Arterien und Venen und spült den lähmenden Schleim aus ihnen heraus.
Die Schritte der beiden Männer klatschen über den überfluteten Asphalt. Sie dagegen tritt nur unkoordiniert auf.
„Ich … muss zu ihm“, beginnt Alice unversehens zu stammeln.
„Wir sind gleich da!“, mahnt der Hutträger.
„Er hat gesagt er kommt zurück.“ Alice beginnt, sich zu wehren.
„Alice, beruhige dich“, fordert die Stimme hinter der Hasenmaske.
„Lasst mich los … lasst mich!“
Sie beginnt mit den Füßen zu strampeln und befreit sich aus der Umklammerung ihrer Retter. Der geschundene Körper dreht und windet sich plötzlich mit ungeheurer Kraft. Sie entgleitet dem Griff der beiden Männer und fällt.
Wuchtig schlägt Alice Kopf auf dem harten Beton auf. Die dünne Kopfhaut platzt auf. Warmes Blut in kaltem Regen. Alle Kräfte versagen. Die Welt verschwimmt vor ihren Augen.
Makabere Bilder verspeisen ihr verseuchtes Hirn. Das Chaos erreicht eine neue Dimension und errichtet ein Imperium. Der Mann mit der Hasenmaske kommt auf sie zu. Er wirkt monströs und bedrohlich auf Alice.
„Nein. Nein“, verzweifelt schlägt sie mit den Händen um sich, „verschwinde.“
Mit einer gezielten Bewegung packt er ihre Handgelenke und drückt sie zu Boden. Er beugt sich über das kreischende Mädchen. Der Regen bahnt sich seinen Weg zwischen Gesicht und Maske. Wasser rinnt durch die dunklen Augenöffnungen auf die kämpfende Alice herab. Sie schreit auf. Ihre glasigen Augen betrügen sie. Sie terrorisieren Alice mit dem Bild eines abstoßenden Ungetüms. Es hält sie fest. Faucht sie an und überströmt sie mit Fontänen aus Blut, die aus seinen Augen herausquillen.
„Lass mich los“, wimmert sie, „lass mich ... gehen!“
„Hör zu. Hör mir zu Alice“, keucht er, „wir bringen dich Heim, verstehst du?“
„Lass mich los. Geh weg von mir!“
„Wir bringen dich zurück!“, schreit er. Die Maske verleiht seiner Stimme einen dumpfen, einschüchternden Klang.
Ein Moment der Ruhe zwischen Alice und ihrem groben Schutzengel. Nur das Strömen des Regens und das gelegentliche Glucksen der übergelaufenen Kanalisation. Sie schließt die Augen.
„Wer seid ihr?“, fragt sie zitternd. Angst bestimmt ihre Neugier.
„Sieh uns an, Alice. Sieh uns an“, seine Stimme wird härter und lauter, „du weißt, wer wir sind. Sieh mich an!“
Der Regen wird noch einmal stärker. So als wolle er mit seiner Wucht die ganze Stadt in Grund und Boden schlagen. Das orangefarbene Licht der Straßenlaternen spiegelt sich in den Wassermassen, die die Straße hinab fließen, wieder. Dort liegt Alice, festgehalten von dem maskierten Fremden. Inmitten dieses neon-orangenen Flusses.
Ein Streifenwagen biegt in die Straße ein und schmeißt seine blauroten Lichter auf die durchnässten Gestalten. Das Fahrzeug bleibt stehen. Die Wagentüren öffnen sich. Der Mann über Alice blickt kurz auf. Dann widmet er sich wieder ihr:
„Schau dich um, Alice. Schau dich ganz genau um!“
Sie zittert vor Kälte und weint und stößt unkontrollierte Schluchzer gen Himmel. Ihr Körper bebt. Sie öffnet die Augen.
„Diese Welt stirbt, Alice.“
„Ich … kann nicht meh …“
„Sieh nur was sie ihrer Welt angetan haben“, fleht er, „Sieh doch nur was sie dir angetan haben.“
Sie schluckt und beißt die Zähne zusammen. Wasser fließt ihr in den Mund. Es blitzt. Über ihr und in ihr.
„Das hier ist die Welt der Wahnsinnigen, Alice. Nicht die unsere. Wir gehören nicht hier her. Du gehörst nicht hier her“, er redet sich immer mehr in Rage, „und wir bringen dich dorthin zurück!“
„Wo … Wohin?“
Die Polizisten ziehen ihre Waffen und richten sie auf die nächtlichen Gespenster vor ihnen.
„Die Hände hinter den Kopf!“, brüllt einer der beiden.
Alice Retter reagiert nicht. Sein Blick bleibt bei ihr. Er löst die Umklammerung an ihren Handgelenken. Stattdessen legt er eine Hand behutsam an ihre Wange. Auch er zittert jetzt. Seine Stimme wirkt geschunden:
„Weißt du noch Alice. Dort wo es uns immer gut ging? Kannst du dich an den Ort erinnern, wo niemand je alt wird? Wo alle Uhren stehen?“
Sie sieht ihren Atem aufsteigen und in den Augenhöhlen seiner Maske verschwinden.
„Die Hände hoch!“, keift der Polizist erneut.
„Dort, wo kein Haus dem anderen gleicht“, fährt er fort, „Wo sich die Wege verändern und sich die Bäume auch ohne Wind bewegen. Erinnerst du dich nicht mehr an das Land hinter den Spiegeln?“
Ihre Augen weiten sich. Panik, Verwirrung und unendliche Verzweiflung stechen aus ihnen heraus. Die beiden Polizisten setzen sich in Bewegung und kommen auf sie zu.
„Verdammt noch mal Alice“, er wirkt zum äußersten bereit, „weißt du denn nicht mehr, wer du bist?“
Der Mann unter der Kapuze kommt aus dem Gebäude geschossen. Er rennt auf die Straße und kommt vor den Polizisten zum Stehen. Die beiden Gesetzesmänner treten abrupt zurück und richten ihre Waffen nun auf ihn. Ihnen bietet sich ein bizarrer Spuk:
Sein Gesicht ist nicht zu erkennen. Es liegt verborgen im Schatten. Er ist riesig. Ein Biest von einem Mann. In seinen Händen hält er wild entschlossen, die Eisenstange. Sein Oberkörper hebt und senkt sich präzise wie eine Maschine. Er ringt nach Atem denn seine Lungen stehen in Flammen. All das Morden und Ausweiden hat ihn an seine Grenzen stoßen lassen. Blut und Knochensplitter auf seiner Kleidung geben Zeugnis davon, wie zerstörerisch er in den Reihen des Feindes gewütet hat.
„Grundgütiger ...“, stöhnt einer der Polizisten auf.
Der Adrenalinrausch, unter dem der schnaubende Berserker steht, dringt aus jeder seiner Poren. Den Mund hält er zu einem tollwütigen Lachen verzogen. Seine Tarnschminke verläuft im Regen und macht aus ihm nunmehr das Zerrbild eines Menschen. Die beiden Schutzmänner erkranken an seinem Anblick. An dieser fleischgewordenen Wahnvorstellung von animalischer Raserei. Es hat sie gefunden. Nach all der langen Zeit steht es hier vor ihnen und starrt sie an. Das, was ihnen früher unter dem Bett auflauerte, sobald das Licht erlosch.
„Lassen sie die Waffe fallen!“, schreit der Polizist.
Schnaufend holt der Hüne mit der Eisenstange aus, und wirft sie mit aller Kraft in Richtung des Streifenwagens. Surrend wirbelt sie durch die Luft, zerschneidet die dicken Seile aus Regen, und schlägt mit einem massiven Geräusch, wenige Zentimeter vor den Polizisten auf.
„Euer Auftritt“, hechelt er den aufgelösten Männern entgegen. Dann sprintet er los. Mit einem Sprung gleitet er über die Motorhaube eines parkenden Autos und verschwindet in einer dunklen Seitengasse.
Nur zögernd kommen die Polizisten in Gang. Dann jedoch nehmen sie die Verfolgung auf und begleiten die grinsende Erscheinung in die umliegende Finsternis.
Das Blaulicht des Streifenwagens lässt seine Farbe durch die Straßenschlucht blitzen. Blauer Regen fällt auf Alice und ihre maskierten Ritter herab.
„Sieh mich an!“, bittet er verzweifelt.
„Aber … dein Gesicht!“
„Du musst einfach genau hinsehen!“ schmettert er ihr entgegen.
Ein Blitz zerschlägt den Himmel und macht die Nacht zum Tage. Reines Licht flutet den Moment. Zum ersten Mal kann Alice ihren Retter klar und deutlich sehen. Die billig verarbeitete Plastik-Maske mit Fellüberzug. Die großen Augenhöhlen. Aber auch die Augen dahinter. Vertraute Augen.
Sekunden des Schweigens vergehen. Ein Donner rollt vom Himmel herab und bringt die Scheiben der umliegenden Häuser zum Erzittern. Ungläubig sucht Alice nach Worten. Ihre zitternde Hand hebt sich. Erinnerungen durchzucken sie. Sanft berührt sie die Maske. Ihre Finger streichen über das falsche Antlitz.
„Du“, flüstert sie zaghaft, „du bist das.“
Vorsichtig greift er nach ihrer Hand und umschließt diese vorsichtig. Er nickt. Ihre Brust hebt und senkt sich vor Aufregung und Erkenntnis.
„Du bist es wirklich“, wiederholt sie, „ihr ...ihr seid es!“
Ihr Blick fällt auf den Mann mit dem riesigen Zylinder, der sich nun ebenfalls neben sie kniet. Sein langer, durchnässter Mantel macht aus ihm einen unabhängigen Schatten. Liebevoll streicht er ihr über das nasse Gesicht.
„Wir sind hier Alice“, offenbart er.
Aufgewühlt schüttelt sie den Kopf und ringt nach Luft. In einem endlosen Meer aus Wörtern, sucht sie das eine das ihr Empfinden beschreibt. Und zum ersten Mal seit Jahren wünscht sich Alice nicht, aufzuwachen.
„Wie habt ihr mich gefunden?“, schluchzt sie.
„Indem Wir nie aufgehört haben nach dir zu suchen!“, antwortet der Mann im langen Mantel.
Sie schlägt die Hände vors Gesicht. Die Schuld explodiert unter ihrer zerbrechlichen Oberfläche.
„Wir bringen dich zurück“, kommt es tröstend unter der Plastikmaske hervor.
Ein erneuter Donnerschlag. Die beiden Retter nicken sich zu und erheben sich anschließend. Beide stehen sie vor Alice. Er, der sie zuvor getragen hat, streckt ihr seine Hand entgegen.
„Und jetzt steh auf“, fordert er sie auf.
Blitze zerreißen den Nachthimmel. Alice dreht sich um und stützt ihre zerschundenen Hände am Boden ab. Der Widerstand beginnt. Tausend Nadeln schieben sich durch ihren Körper. Sie erreicht den Punkt, an dem es leichter wäre umzukehren. Sie überwindet ihn. Stöhnend bäumt sie ihren ausgedorrten Körper weiter auf. Wasserfälle rinnen an ihr herab.
„Weiter, Alice!“
Sie winkelt die Beine an. Das gefolterte Fleisch, tonnenschwer. Unermessliche Qualen prügeln auf sie ein doch Alice setzt ihr Martyrium fort. Die Hölle nimmt die Herausforderung lachend an.
Das Wetterleuchten nimmt sie nicht mehr wahr. Der Donner dringt jetzt nicht mehr zu ihr vor. Das Gewitter am Himmel verbeugt sich vor dem Sturm, der in ihr tobt. Ihr Herz hämmert, sprüht Funken, feiert Auferstehung. Unter ihrer Haut zerspringen alle Ketten. Alle Seile fangen Feuer.
„Weiter!“
Ein Fuß gibt nach, doch sie federt den Sturz mit der Hand ab. Sie setzt erneut an. Das über den Asphalt strömende Wasser bricht sich an ihren Knöcheln.
„Und wenn es den Verstand kostet, Alice!“, schreit er ihr entgegen.
Leben schießt durch die totgeglaubten Glieder. Das Eis schmilzt. Die alte Haut platzt. Sie richtet sich auf.
Ihre Beine zittern. Ein letztes Würgen. Alice öffnet den Mund und speit die schwarze Milch aus, von der sie jahrelang gezehrt hat. Die falsche Seele fließt als heißer, zähflüssiger Teer aus ihr heraus und ergießt sich zischend über die Straße. Der Dämon ist ausgetrieben.
Die schweren Stiefel des Kapuzenträgers schieben gewaltige Wassermassen vor sich her. Er schreitet aus der Dunkelheit in das wechselnde Farbenspiel der Straße. Von seinen beiden Verfolgern keine Spur mehr. Noch immer das teuflische Grinsen tragend, gesellt er sich zu seinen zwei Mitstreitern.
Alice faltet die Hände vor ihrem Schoß zusammen. Ihre Augen leuchten. Stumm stehen sie sich gegenüber. Es ist alles gesagt. Alles ist getan. Alice erkennt sie wieder. Jeden Einzelnen von ihnen. Aber auch sich selbst. Der Triumph des Geistes.
Mit gezielten Griffen entledigen sich die Drei Männer ihrer Maskierung. Vorsichtige Schritte bringen Alice ihren Beschützern langsam näher. Die Hasenmaske und der große Zylinder fließen an ihr vorbei und verschwinden in der Belanglosigkeit.
Alice legt die Arme um ihre Freunde. Ihre treuen Gefährten aus dem Land hinter den Spiegeln. Die Drei drücken sie fest an sich.
Die Tore in die verheißungsvolle, andere Welt öffnen sich. Die Zeit wird langsamer und der Regen wärmer. Die Straße unter ihren Füßen löst sich aus ihrer vorgegebenen Starre. Sie erstreckt sich, breitet sich aus. Sie führt jetzt überall hin und Alice weiß, wenn sie will, kann sie auf ihr bis zur Sonne gehen.
Die andere Welt macht Alice so leicht wie eine Feder. Und kleiner. Sehr viel kleiner. Kampflos lässt sie es geschehen. Schon bald passen ihre Kleider nicht mehr. Jede Uhr steht auf Anfang. All die Sünden sind vergeben. Alle Mauern fallen ein. Und Alice, umgeben von verloren geglaubten Sinnen, beginnt hemmungslos zu weinen. Es sind die Tränen eines Kindes.
„Willkommen zu Hause, Alice!“, begrüßt sie der Hüne.
Am Horizont flammt die Dämmerung auf. Sie nehmen Alice bei den Händen und laufen los. Langsam verschwinden die Silhouetten der Vier im Regen. Bis das verbliebene Dunkel sie endgültig verschluckt. Hand in Hand betreten sie ein Land voller Wunder, während der Albtraum hinter ihnen zu Ruinen zerfällt.
Mit viel Sorgfalt setzt die Frau die Teekanne an und gießt dem Polizisten eine Tasse frisch gebrühten Tee ein.
„Vielen Dank!“
Sie stellt die Kanne ab und setzt sich ebenfalls an den Küchentisch. Die Augen der Frau sind gerötet. Sie zückt ein Taschentuch und tupft sich über die feuchten Augenlider.
„Und sie sind sich wirklich sicher, dass Sie es war?“, fragt sie.
„Wir haben die Aussagen einiger Augenzeugen. Und wie bereits am Telefon erwähnt, laufen unsere Ermittlungen erst an. Nein, vollkommene Sicherheit gibt es noch nicht. Aber die Chance besteht.“
Dankbar nimmt er einen Schluck heißen Tee. Die Frau scheint plötzlich um Jahre zu altern. Sie kann ein Schluchzen nicht unterdrücken.
„Entschuldigung!“, sagt sie.
Er hebt beschwichtigend die Hand. Sie gönnt sich ein neues Taschentuch um sich ihrer Tränen zu entledigen.
„Was genau ist denn passiert?“, fragt sie.
„Das wissen wir noch nicht genau,“ er schüttelt den Kopf, „ momentan gehen wir von rivalisierenden Bandenmitgliedern innerhalb des Drogenmilieus aus. Es gab mehrere Tote. Zwei Polizisten wurden ebenfalls schwer verletzt.“
„Und sie sagen, sie wurde entführt?“
„Mehrere Bewohner sagen aus, sie hätten sie in Begleitung maskierter Personen gesehen. Diese hätten sie festgehalten.“
„Oh Gott ...!“, haucht sie leise.
Der gesamte Kummer dieser Welt scheint sich auf die Schultern der Frau zu legen. Er bemerkt ihren Schmerz.
„Erzählen sie mir von ihr!“, bittet er die Frau vorsichtig.
Stille tritt ein. Nur das Ticken der Küchenuhr verhindert formvollendete Geräuschlosigkeit. Der Blick der Frau wird ruhiger. Sie bemüht sich um ein Lächeln. Dann beginnt sie zu erzählen:
„Marie war sieben, als wir sie bei uns aufnahmen. Mein Mann und ich haben uns, trotz unserer eigenen Kinder, darauf geeinigt, dass in unserem Leben noch Platz für mehr ist. Dass wir noch mehr haben was wir teilen können. Und da war Sie!“
Die Frau wird ruhiger. Die Erinnerung tut ihr gut. Der Polizist beugt sich vor und sieht die Frau an. Ein Zeichen, dass sie fortfahren soll. Die Frau versteht:
„Sie war zutiefst verletzt. Ihre Seele war gebrochen. Ich dachte, mit genug Liebe könnte ich heilen was diese Teufel in ihr angerichtet haben.“
Die Frau wendet ihren Blick ab. Sie schluckt schwer. Der Polizist starrt auf den Tisch und nickt verständnisvoll.
„Ich habe mich heute Morgen über den Fall informiert.“, sagt er.
Sie schließt die Augen und atmet tief ein. Dieser Teil der Geschichte kostet sie viel Kraft. Dann erst wendet sie sich wieder ihm zu:
„Das Vertrauen und die Liebe eines Kindes zu zerstören. Wissen sie ich … das Herz anzugreifen ...!“ Ihre Stimme bricht und sie beginnt zu weinen. Sie sucht nach einem frischen Taschentuch.
Der Polizist greift in seine Tasche und übergibt ihr eine ganze Packung frischer Tücher. Sie bedankt sich nickend und beginnt sich die Nase zu schnäuzen.
„Die Narben saßen zu tief“, fährt sie traurig fort, „und so entglitt sie uns schließlich. Je älter sie wurde, desto mehr wandte sie sich von uns allen ab. Desto mehr verstand sie erst, was sie mit ihr gemacht hatten. Und bald konnten wir nicht mehr zu ihr durchdringen.“
„Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?“
„Sie war fünfzehn. Manchmal tauchte sie tagelang nicht auf. Und ich ahnte, nein ich wusste, dass sie schwere Probleme hatte.“
„Sie reden von ihrer Abhängigkeit? Den Drogen?“
Die Frau nickt. „Ich habe versucht, mit ihr darüber zu reden. Wir alle haben das. Doch die Gespräche eskalierten. Jedes Einzelne. Eines Morgens dann verabschiedete sie sich, ging zur Schule, und kam nie wieder.“
„Eine Entführung hatten sie damals aber ausgeschlossen.“
„Etwas Entschlossenes lag an diesem Morgen in ihrer Stimme. Es war keine alltägliche Verabschiedung verstehen Sie? Mir fiel das erst auf nachdem sie nicht mehr zurückkam. Erst da wurde mir bewusst, dass sie mir Lebewohl gesagt hatte.“
Präzise führt die Uhr ihr ticken fort. Er leert den Tee mit einem Schluck. Verlegen sieht er auf seine Uhr.
„Verziehen sie mir, aber dürfte ich eben ihr Bad benutzen?“
„Natürlich dürfen sie“, sie deutet ihm mit der Hand den Weg, „aus der Küche raus und die letzte Tür rechts, am Ende des Flurs. Gegenüber von Maries Zimmer.“
Er sieht auf: „Sie haben ihr Zimmer noch?“
„Ja“, seufzt die Frau, „wie an dem Tag an dem Sie uns verließ.“
Zaghaft bewegt sich der Polizist in dem Zimmer des Mädchens umher. Er berührt nichts. Der ganze Raum wirkt kostbar und extrem zerbrechlich.
Eine Kommode. Bunte Bilder an den Wänden. Ein Schreibtisch. Stifte liegen verstreut umher. Als wären sie erst vor wenigen Minuten dazu benutzt worden, um Hausaufgaben zu machen. Oder um einen Liebesbrief zu schreiben. Ein ganz normales Zimmer eines fünfzehnjährigen Mädchens ,bevor es sich dazu entschließt zu verschwinden, und 4 Jahre lang unentdeckt zu bleiben.
Er beugt sich vor und betrachtet einen der Stifte genauer. Dieser wirft einen feinen Schatten, bestehend aus Staub, auf den Tisch. Der Rest des Tisches ist sauber. Sein Blick fällt auf andere Gegenstände. Auch unter ihnen, Staub. Ihm wird klar, dass das Zimmer regelmäßig gereinigt wird, darauf bedacht, den letzten Moment darin nicht zu beschädigen. Die Verzweiflung, die in dieser Geste steckt, lässt es kalt in ihm werden.
Er will gerade das Zimmer verlassen, als ihm etwas ins Auge sticht. Etwas Untypisches im Zimmer eines ungestümen, rebellierenden jungen Menschen. Ein Buch auf dem Nachttisch neben dem Bett. Doch nicht das Buch an sich gewinnt seine Aufmerksamkeit, sondern dessen Inhalt. Er streicht mit dem Finger eine dünne Staubschicht vom Einband. Es ist ein altes Exemplar einer noch sehr viel älteren Geschichte. Seine Lippen bewegen sich lautlos, während er liest: Alices Abenteuer im Wunderland.
„Dieses Buch war ihr größter Schatz!“ Maries Adoptivmutter ist im Türrahmen erschienen.
Er dreht sich zu ihr um. Die Tränen der Frau sind inzwischen getrocknet. Er lächelt sie an doch es wirkt verkrampft.
„Als ich sie das erste Mal sah“, fährt sie fort, „hielt sie dieses Buch so feste umklammert das Ich Angst hatte ihre Hände würden anfangen zu bluten. Sie hat es so geliebt, wie nur Kinder imstande sind etwas zu lieben.“
Sie betritt das Zimmer. Ihre Arme verschränken sich vor der Brust. Sie friert. Sie setzt sich auf das kalte Bett und betrachtet das Buch.
„Sie hat es gelesen. Und wenn sie damit fertig war, blätterte sie die Seiten zurück und las es erneut. Es war das Einzige, was sie aus ihrem alten Zuhause mitgebracht hat.“
Sie geleitet ihn zur Haustüre. Er knöpft seine Jacke zu und reicht ihr die Hand.
„Es tut mir Leid, dass ich mit so wenig zu ihnen gekommen bin.“
„Nein“, sagt sie, „ich danke ihnen, dass sie sich die Mühe gemacht haben.“
Er nickt ihr zu und öffnet die Türe. Bevor er geht, fällt sein Blick auf ein Foto an der Wand. Es zeigt Marie in Kindesjahren. Umgeben von drei fröhlich blickenden Jungs. Er schätzt alle drei bereits zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren. Es ist ein professionell geschossenes Foto.
„Unsere Jungs“, sagt die Frau, „sie nahmen sich ihrer ebenso selbstredend an wie ich und mein Mann. Woher sie kam, war ihnen doch völlig egal. Für alle Drei war klar, dass sie gekommen war, damit sie ihre Brüder sein konnten. Ihre großen Brüder die sie fortan beschützen.“
„Sie müssen sehr stolz auf sie sein!“
Die Frau geht ein paar Schritte auf das Foto zu und nimmt es von der Wand.
„Manchmal“, beginnt sie zu erzählen, „da bauten sie für Marie in ihrem Zimmer das Wunderland auf, das sie so sehr liebte. Aus Decken, Bildern und mit unglaublich viel Fantasie. Alle verkleideten sich. Hier sah es aus wie im Märchen.“
Die Gedanken bringen die Frau zum Lachen. Er lächelt mit. Sie hängt das Bild zurück an seinen Platz und streicht achtsam über den schlichten Rahmen.
„Sie haben niemals aufgehört nach ihr zu suchen!“
Der Polizist schließt die Wagentüre hinter sich und besinnt sich einen Moment. Die Tragik hat ihn müde werden lassen. Das Puzzle in seinem Kopf besteht noch aus zu vielen losen Teilen. Und das Bild, das sie später ergeben sollen, ist noch zu verzerrt. Er weiß nur, dass er mehr als nur ein Leben retten wird, wenn er das Mädchen findet.
Der Himmel wirft sein erdrückendes Grau auf die Stadt. Er startet den Wagen. Das prasselnde Geräusch an den Fensterscheiben wirkt hypnotisch und auf eigenwillige Weise hoffnungslos. Es hat seit Tagen nicht aufgehört zu regnen.