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The Last Of The Melting Snow
Azur im Schnee
Es war eine liederliche Heimreise. Nicht nur wegen dieser verdammten Bombendrohung. Die Welt am südlichen Zipfel von North Eastwick versank unter Myriaden von Schneeflocken, die sich auf den Leitplanken links und rechts der Autoschlangen festkrallten. Auf den Spuren zur Einfahrtsrampe in den Eurocitytrain Folkstone - Calais heulten die Motoren auf. Die Blechkarossen der ungeduldig Reisenden dampften und quälten sich Stoßstange an Stoßstange über weiße Seife.
Am dunkelgrauen Horizont zuckten orange und blau die Warnlichter der Polizei. Eben kamen sie, trotz der Glätte, noch zügig voran. Jetzt brachte die Verzögerung Mark in höchste Verzweiflung. Erschöpft war er, aber ohne Euphorie, wie sonst nach den berauschenden Tagen. Und vor allem eines war er: angespannt. Den ganzen Tag hatte er auf Annas Antwort gewartet. Er steckte sich eine Gauloises an. Der Tabak machte ihn ein wenig schwindelig, doch das war beruhigend und verrückte ihn angenehm. Sein Kumpel und Nasentrinker Cedric wippte geistesabwesend auf dem Beifahrersitz, i-phonebestöpselt und kaute Pfefferminzbonbons.
Ein Mädchen mit rosigem Gesicht blickte ihn unerwartet aus dem Nachbarauto an. Ihr Antlitz schimmerte hinter einem feinen Vorhang orangefarbener Flocken. Die dunkle Haarlocke umrahmte ihr Lächeln. Mark spürte in seiner Mitte eine Wärme, die eine Ahnung von Nähe. erzeugte. Er blies den Rauch gegen die beschlagene Scheibe und lächelte zurück.
Die Liebe zerriss Seelen, wie niemand anders.
Fast auf den Tag genau waren es neun Jahre, als er Anna das erste Mal auf dem Campus mit ihren beiden besten Freundinnen kichernd und zitternd mit einem Becher Kaffee in der Hand vorbeischlendern sah und sich unsterblich in sie verliebt hatte. Es war so unzweifelhaft.
Der Kerl neben dem Mädchen glotzte finster, drückte den Kiefer vor und das Gaspedal durch. Mark senkte den Blick. Er ließ ihn fauchen. Wie oft wurde er in seinem Leben wohl schon verlassen?
In seiner Hosentasche begann es zu vibrieren. Eine SMS von Anna. Die Hitze durchflutete ihn bis unter die Haarwurzeln. Hastig wühlte er das Handy heraus und starrte auf die Bremslichter des Volvos davor. Mit der einen Hand hielt er das Lenkrad, mit der anderen öffnete er zitternd die Nachricht. Jetzt gab es kein hoffentlich und vielleicht mehr. Die Gefühle stülpten sich über den Verstand. Sieben Wörter, wie sieben Schüsse. Es ist aus. Tut mir leid. Anna. Die Welt war Schweiß, Nebel und Fishermans Friend. Mit einem Schlag war ihm klar, dass ihm keine Zeit blieb. Neun Jahre!
„Ich muss sie bitten, bei mir zu bleiben.“
„Was meinst du?“
„Glaubst du sie denkt noch an mich?“
„Ist das dein Ernst?“ Cedric hörte zu kauen auf. „Ich würd ihr keine Träne mehr nachweinen.“
Hat sie ihn je so geliebt, wie er? Er zog die Nase hoch. Verzweifelt bemerkte er, wie das letzte Quäntchen Hoffnung schmolz, wie der Schnee auf der Frontscheibe.
„Dieser Versuch ist es wert.“ Alles andere würde er sich nicht verzeihen.
„Tu, was du nicht lassen kannst.“
Mark steckte sich eine neue Kippe an und inhalierte, bis er den Schwindel wieder spürte. Würde es überhaupt Sinn machen, sie noch einmal zu bitten?
Er bemerkte ihr Zögern und blickte in die Augen einer Lügnerin. Er hatte viel Raum zum Nachdenken. Wenn er nicht aufpasste, liefen seine schlechten Gedanken Amok.
Neben ihnen hielt ein Skoda. Zwei Punkte in einem runzligen Schildkrötengesicht funkelten hinter dem Seitenfenster. Die Oma, zu denen sie gehörten, stierte ihn an. Unter ihrer gelben Pudelmütze quollen weiße Zaushaare hervor. Zuerst fühlte er sich in seinem Leid ertappt und sah schnell weg, dann kehrte sein Blick zurück und blieb haften. Sie gaffte immer noch. Was wollte die Alte bloß? Ihre Augen hatten etwas - Vertrauliches. Unerwartet zwinkerte sie ihm zu und wedelte mit einem blauen Täfelchen. Da knallte es. Mark spürte den Schmerz der ein-schneidenden Gurte, sein Kopf wurde zurück gerissen. Cedric schrie ein überraschtes „´damt“ aus und rieb sich den Nacken.
Ein bärtiger Typ im Araberlook raffte sein Gewand und stapfte eilig durch den Schnee auf sie zu. Mark sprang aus dem Auto und registrierte die Plastiksplitter, die wie Konfetti im Weiß lagen. Der kalte Wind schlug ihm brennend entgegen. Flocken stoben im Lichtkegel der Scheinwerfer. Der Bärtige baute sich vor ihm auf, sprach arabisches und nur gebrochenes Englisch. Hinter ihnen hupten die wartenden Autos. Mark ignorierte den Stich in seinem Schädel, er wollte das so schnell wie möglich klären.
Dann sah er im Schnee das blaue Täfelchen liegen. Es schimmerte wie ein Stück Azur. Im Nachhinein fand er es seltsam, dass er es aufhob, es war keine Tafel sondern ein Umschlag und es in seine Hosentasche schob. Mit Händen und Füßen antwortete Mark dem Mann, schrieb mit klammen Fingern Adresse und Versicherungsnummern auf einen Zettel und packte den vorprogrammierten Ärger mit der Autovermietung in den hintersten Winkel seiner Rumpelkammer voller Gedanken. Lädiert reihten sie sich in die Wagenkolonne ein.
Der Wagen schwitzte, darum herum türmte sich der Winter immer höher auf den schmutzigen Flächen und Simse in dieser sinnlosen Industrielandschaft Englands. Die Dämmerung setzte ein und das rote Licht der Rückstrahler ergoss sich in die Abgase. Mark zog den zerknitterten Umschlag aus der Tasche, wendete ihn einmal und ertastete eine Karte. Hat die Alte ihn etwa verloren? Auf keinen Fall hatte er Lust, das Gesülze fremder Menschen zu lesen. Neben ihm kaute Cedric, zuckte und sang Heavenly Creatures acapella.
„Immer zuerst die scharfen Fishermans Friends und danach Smarties, schmeckt wie AfterEight“, Cedric grinste.
"Hey, p l e a s e, stop the volume!" Cedric blickte wippend herüber, änderte seine Gute-Laune-Miene in eine Geht’s-Dir-aber-Scheiße-Mimik und verstummte. Mark stützte sich auf das Lenkrad und stierte auf LKWs. Ein Auto scherte von der Nachbarspur aus, er schlug auf die Hupe, lies den Motor aufheulen. Mark fummelte die Karte aus dem blauen Umschlag.
„Was ist das?“
„Lag im Schnee.“
„Wie?“
„Lag halt da, vorhin beim Crash.“ Der Rauch der Kippe stach in seiner Lunge und er stieß ihn gegen die Armaturen.
Mark konnte das Motiv der Karte in der Dämmerung zuerst nicht genau erkennen und weil er den stockenden Verkehr im Auge behalten musste, nur einen kurzen Blick darauf werfen. Die vermeintliche Postkarte war ein vergilbtes Foto mit kleinen Rissen und ausgefransten Rändern. Nichts besonderes. Doch machte sich eine seltsame Ahnung in seiner Mitte breit, die bis in seinen Kopf pochte. Schnell knipste er die Innenbeleuchtung an, um sich zu vergewissern. Vor einem malerischen Hafen schaukelte auf azurblauem Wasser ein Fischerboot. Hinter den Dächern des Städtchens streckte sich ein Kirchturm in den Himmel. Jetzt war er sich sicher. Es klopfte in seiner Brust. Die Kirche mit der markanten Spitze - La Vuentas! Dort, wo er Anna in den Arm nahm und nicht mehr los lies. Wo seitdem ein großes A, ein Plus und ein M in die glatte Rinde der Lupine am Rande des Kirchplatzes geritzt war und er sich noch ganz genau daran erinnern konnte, wie es Anna gar nicht recht war wegen dem armen, alten Baum. Er war nun hellwach.
Wie war das möglich?
Ihr Wagen rollte auf die flutlichterleuchtete Kontrollstelle zu, wo ein Polizist nach ihren Pässen verlangte und sie unwirsch hieß, auszusteigen.
War das Bild überhaupt von der Frau? Es gab sicher vieler solcher Fotos - aber warum winkte die Alte damit? Konnte das Zufall sein? So was gab es doch nicht. Drehte er total ab? Er wollte Anna hören, jetzt!
Hastig kramte er das Handy hervor. Der Uniformierte schickte einen aufgeregt schnüffelnden Schäferhund mit Maulkorb um den Wagen. Der andere blendete mit seiner Taschenlampe und deutete, den Kofferraum des Transporters zu öffnen. Zwei weitere schoben Detektoren unter den Wagenboden. Null vier sieben - ... Verdammt, er hatte Annas neue Nummer vergessen.
"What's this?" Der Polizist klopfte auf die Cases.
"Äh... Instruments. This is an electric guitar. And this a reciever. Drums."
Mit einem Auge war er bei den Bullen, mit dem anderen bei seinem Handy und öffnete das Telefonbuch.
"Open this." Scheiße, jetzt wollte der, dass Mark alle Instru-mentencases aufmachte. Bei diesem Scheißwetter zogen die doch Feuchtigkeit. "Be careful, please!"
Er fand Anna und drückte OK. Die Verbindung baute sich auf, Knacken und dann hörte er das Klingelzeichen. Er hielt die Luft an. Der Uniformierte blickte verärgert herüber. „Open it!“
Mark öffnete einhändig den schwarzen Koffer seiner Gibson SG.
"This is my guitar. We are musicians and we had a gig in London. We will drive now to Aachen, Germany. - Annaaa? - Bist du es? Du, wir sind grad in Folkstone, checken gleich in den Zug ein. Anna, ich muss dich sehen!“ Er schrie fast ins Telefon. Er hörte noch: „Mark ich …“
Dann wurde das Gespräch unterbrochen. Nur noch Knacken und Rauschen. Mark schlug auf die Tasten ein, doch die Verbindung blieb gestört.
„Mist, das gibst doch nicht.“
Der Policeman rief gereizt eine Anweisung, die Mark nicht verstand, nickte dann aber seinem Kollegen zu und winkte sie ungeduldig weiter.
"Wenn jemand schlecht gelaunt sein darf, dann sind ja wohl wir das! Scheiß Bulle." Der Mann schaute auf. Verstand der etwa deutsch? Mark hielt besser die Klappe, auch wenn er gleich explodieren würde.
Cedric schlürfte an einer Dose Red Bull und grinste sich einen ab, als sie endlich in ihren Sitzen saßen und der Motor aufheulte. Er kramte ein Päckchen Wurzeln aus der herabhängenden Seitenverkleidung und begann eine Tüte zu bauen.
"Hey, glaub mir, das Leben geht weiter,“ meinte er nebenbei und konzentrierte sich aufs Drehen."
"Shit, du nervst einfach!"
Doch insgeheim taten diese lapidaren Kommentare seines Freundes gut. Sie waren wenigsten ein bisschen geeignet, seine wühlende Unruhe in Schach zu halten. Auf dem Fahrbahnbelag malten die Reifen das Weiß zur grauen Schlacke. The Last of the melting Snow, der Song, den er für sie geschrieben hatte, summte in seinem Kopf. Für die Jungs aus der Band war der Gig in London Party und Porn. Für ihn war die Tour ein Test für ein Leben ohne Anna.
Hey, ich kann gut ohne dich, brauch dich nicht. Ich bin ich und scheiß auf dich, mach doch, was du willst. Doch Mark wusste, dass er diesen Test sang und klanglos in den Sand gesetzt hatte.
Neun Jahre. Er wollte nicht, dass die Gefühle wieder hoch schwappten und ihn unter einer Welle aus Trauer und Wut begruben. Doch er hatte keine Chance. Er sah sie, roch sie, schmeckte sie, fühlte sie in seiner Nähe, immer noch, hinter den Wänden, im Wohnzimmer, im Bad, in der Küche, in seinen Gedanken. Ein Band zwischen zwei Seelen. Vom ersten Tag an. Konnte es sein, dass nichts mehr davon übrig blieb?
„Kennst du das?“
„Was?“
„Angst?“
„Vor was?“
„Alleine zu sein und es immer gewesen zu sein?“
Cedric entzündete die Spitze, inhalierte tief und reichte ihm die Tüte. Mark zögerte, griff danach und nahm einen Zug.
"Reicht dir ein verfressener, aber intelligenter Kumpel denn nicht?"
„Vor allem intelligent.“ Für einen Augenblick zerfaserten seine Sorgen, wie der tief sitzende Dunst in diesem scheiß Verladebahnhof und er musste sogar grinsen.
Ein in neongelbem Jäckchen bekleideter Typ winkte sie auf die Einfahrtsrampe in den Zug. Die bauchigen Waggons verschluckten sie. Sie rumpelten über Eisenschwellen und blieben nach einigen Metern auf der Parkposition stehen.
Auf einer elektronischen Anzeigetafel im Zugabteil lief ein Buchstabenband in Schleife.
Enjoy your Trip with Eurocitytrain!
Cedric streckte sich und drückte seine Handflächen gegen das Autodach.
Das Foto musste nicht von der Alten sein
Schon war Cedric ausgestiegen und verschwand im Nachbarabteil.
Normalerweise war für Mark die Tunnelfahrt immer etwas Interessantes gewesen. Wow, hey, unterm Meer hindurch, Tonnen von Wasser über sich ahnend, das Gefühl von Selbstbewusstsein genießend - Maus, du brauchst keine Angst haben - und Anna im Arm haltend. Jetzt machte ihn der Lärm und die Geschäftigkeit unzufrieden. Doch er beschloss, sich zu beruhigen. Mit Hektik würde es auch nicht schneller vorwärts gehen. Mark legte den Umschlag samt Foto auf die Ablage. Es war nur ein verfluchter Zufall.
Mark ließ das Fenster herunter und schnüffelte in die Waggonluft. Sie roch nach Gummi und Tankstelle.
Plötzlich traf ihn der stechende Blick der Alten. Wie aus dem Boden gewachsen stand sie da. Starrte ihn an, lächelte, zeigte ihre krummen Stümpfe, als sie mit einem deutlichen Wink seine Aufmerksamkeit auf die elektronische Anzeigentafel lenkte. Was wollte die bloß schon wieder von ihm? Mark folgte ihrer Andeutung.
Auf dem Band wanderte ein Schriftzug von links nach rechts.
... Verbunden für immer!...
N A A N N A A N N A A N N A A .
Er wollte jetzt endlich wissen, was es damit auf sich hatte und marschierte auf sie zu. Ein orthodoxer Jude mit Hut und Zöpfchen schob sich in den Weg Der in diesem Zug deplatziert nostalgisch wirkende Mann stakste auf die Abteiltür zu und schlug unbeholfen auf einen Taster, bis sie endlich auf zischte. Mark ließ sich von zwei verschleierten Musliminnen ablenken, ihre geschminkten Augen klimperten verschwörerisch hinter der schmalen Aussparung. Daneben knutschte ein Pärchen. Hier wurde es immer bunter!
Als er sich wieder der alten Frau zuwenden wollte, traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Sein Blick stürmte die Anzeigetafel. Das gab es doch nicht!
... Verbunden für immer! : ANNA ANNA ANNA ...
Adrenalin schoss durch seinen Körper. Er glühte. Das Band, dessen er sich stets bewusst war? Jetzt reichte es ihm aber - wo war die Frau bloß? Marks Blick schweifte über das Gemurmel aus Reisenden. In seiner Brust hämmerte es. Wie vom Erdboden verschluckt.
Cedric kam zurück und grinste, als er sich zwischen schwarzen Mänteln und goldbeuhrten Haremsführer wieder fand. "Ehre den Gott der Juden, der Muslime und Tante Hildes Gott, denn er ist auch dein Gott. Hab ich einen vergessen?“
Er reichte ihm eine Tüte M&Ms.
„Gab keine Smarties mehr.“
"Hör auf mit dem Scheiß!"
„Was ist denn mit dir los? Hast grad den Allmächtigen gesehen?“
Cedric Getue nervte ihn. Er verkniff sich eine Antwort und deutete stattdessen Richtung Anzeige.
Zuerst stand Cedric auf der Leitung. Doch schaute er zur Abwechslung mal ernst, bis er begriff.
„Och nee, Alterchen, jetzt mach ich mir langsam Sorgen! Schnapp jetzt bloß nicht über.“
In diesem Moment sprang die Anzeige um. ... Wechseln Sie heute noch Ihren Telefonanbieter. Chose the Change! The European Company! NNAA ... Cedric klopfte sich auf die Schenkel und fing sich gar nicht mehr ein.
„Ich schwörs dir, ich .... ach, Scheiße!“ Mark winkte ab.
Cedrics du-hast-nicht-mehr-alle-Tassen-im-Schrank-Grinsen fühlte sich an, wie ein Pfeil in der Brust.
Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Cedric steckte sich M&Ms in den Mund und hörte i-Phone. Das konnte alles kein Zufall mehr sein. Sein Kopf war wund vor lauter Denken. Was war sein Zuhause? Sie war es. Sie machte ihn zu einem besseren Menschen. Er musste sich beeilen, musste es schaffen, bevor es zu spät war.
Es rüttelte. Hinter den Zugfenstern blitzten Funken. Zehn Minuten ungefähr, dann spürten sie, wie der Zug plötzlich langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Er hielt mitten im Tunnel, eine halbe Meile unter der Nordsee. Shit, auch das noch. Er blickte auf die Uhr. Drehte er jetzt total durch?
Cedric schaute auf.
"Was ist los?"
"Keine Ahnung."
„Der Jude hat den falschen Knopf gedrückt.“
Mark hatte keinen Bock auf Scherze.
Sie stiegen aus. Auch die anderen Mitreisenden, die Orthodoxen und die Verschleierten kletterten überrascht aus ihren Fahrzeugen. Autotüren schlugen auf und zu. Was ging hier vor? Das Licht erlosch, einer der Bartstoppligen rief überrascht etwas aus. Schon blendeten Autoscheinwerfer auf. Mark spürte ein Kribbeln im Bauch. Es war reine Kopfsache, aber längst zuckten die Befürchtung eines Anschlages unaufhörlich.
Menschen tuschelten, einige versuchten die elektronischen Abteiltüren zu öffnen. Die unförmigen Türen ließen sich nur mit Anstrengung aufdrücken. Sollte es zu einem Brand oder so etwas kommen, wäre die Kacke am dampfen.
Hinter den wenigen Zugfenstern war es schwarz. Irgendwie wurde es kälter. Über einige Gesichter legte sich Besorgnis.
"Ihr seid verbunden für die Ewigkeit“
Die leise Stimme sprach ihn von hinten an. Mark wirbelte herum. Ihre Botschaft traf ihn bis ins Mark.
„Auch wenn jetzt der Vorhang der Zerrissenheit zwischen euch weht.“
Er blickte starr in das von Falten zerfurchte, tiefbraune Gesicht der Frau. Die kleine Person hatte die gelbe Pudelmütze abgestriffen, jetzt standen ihre Zöpfe wirr in alle Richtungen ab. Ihre Erscheinung war so präsent in all dem Chaos.
„Was reden sie da? Woher wissen Sie ...?“
„Suche sie, sonst bist du verloren!“
Ein Metallstab krachte gegen die Scheibe. Sie zuckten zusammen, ein Aufschrei ging durch die Menschen und besorgte Blicke tauschten einander.
„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als du denkst, Kindchen! Folge deinem Herzen und sei dir eurer besonderen Bindung bewusst! Diese Botschaft ist für dich! Gib ihr das Zeichen der Verbundenheit auf Erden. Zeiten gehen, das Leben fließt, der Bund bleibt. Beeil dich!“ Panik drohte ihn zu übermannen.
Das herzzerreißende Geschrei eines Kindes im Arm seiner Mutter ließ ihn herumfahren. Als er sich erneut umsah, war die Alte abermals verschwunden. Sein Körper war angespannt und er atmete tief ein und hielt die Luft an.
Mark bahnte sich einen Weg durch die Umherstehenden. Ein Mann, den er versehentlich anrempelte, strafte ihn mit Blicken. Er lief die nächsten drei Waggons ab, hektisch nach der gelben Mütze und dem Schildkrötengesicht Ausschau haltend, doch es war vergebens, sie blieb wie vom Erdboden verschluckt, stattdessen schlurfte ihm Cedric entgegen.
„Alter, du siehst ganz schön fertig aus!“
Mark wusste nicht wo ihm der Kopf stand. Cedrics Kraut tat sein übriges. Was er soeben gehört hatte berührte ihn mehr, als er sich zunächst eingestehen wollte. Seine Hände waren feucht, er taumelte durch das Abteil. War die alte Frau eine Wahrsagerin? Woher wusste sie? Das gab's doch nicht! Er musste zu Anna. Und zwar so schnell wie möglich! Verdammt, warum ging hier nichts vorwärts? Hatte sich alles gegen ihn verschworen?
Nach einer halben Stunde rückte endlich der Schaffner an. „Please, be quiet! You are safe. The electronics have a defect. Please stay in your cars. Technicians are on their way.” Der Mann kämpfte sich ins nächste Abteil weiter. Die Luft roch verbraucht. Zwei Männer in Arbeitskleidung eilten herbei und klebten die Risse der Scheibe mit Tapeband ab. So konnte er es vergessen, er würde es niemals rechtzeitig schaffen.
Nach einer weiteren Stunde quälenden Wartens ging die Notbeleuchtung an. Schließlich ruckelte es also doch und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die Reisenden raunten erleichtert auf. Einige klatschten Beifall. Kinder lachten. Selbst der Moslem lächelte, bevor er schnell wieder in einen bitteren Gesichtsausdruck verfiel. Der Jude hantierte an seinem Handy, das garantiert hier unten nicht funktionieren würde. 35 Minuten sollte die Fahrt dauern, 4 Stunde 20 Minuten wurden es.
Unter normalen Umständen hätte er Anna jetzt sofort angerufen, genauestens berichtet, sobald sie aus dem Tunnel wären. Hätte ihr erzählt, in welcher Gefahr sie sich befunden hatten, dabei etwas übertrieben und ihre Sorgen um ihn genossen. Hätte, hätte. Es tut mir leid. Verdammt, was tat ihr leid? Dass sie jetzt dieses Arschloch vögelte? Dass sie damit auf seiner Seele herum trampelte? Dass sie ihn wegen diesem Scheißkerl verlassen hatte? Hier schau, was du mit mir machst. Spuck drauf.
Was war er bloß für ein Haufen Elend, ein Abhängiger, ein Jammerlappen, ein Naivling. "Ein Bund für die Ewigkeit. Suche sie, sonst bist du verloren." Das Mütterchen war total abgedreht - er war total abgedreht. Er kickte eine Dose gegen die Wand, es schepperte durch das Abteil. Empörte Blicke trafen ihn.
Endlich spuckte sie der Eurocity im Bahnhof von Calais aus. Der schwarze Himmel beschoss sie mit Eis und Schnee. Ein Fließband aus Mittelstreifen raste unter ihnen hindurch. Die Abfahrten verzweigten sich in mehrspurige Schnellstraßen und dann waren sie auf offenem Land. Vielleicht schafften sie es noch, rechtzeitig. Vielleicht war Anna noch da! Vielleicht ... Hoffnung flutete seine Lunge, als er sich die Kippe ansteckte.
Sollte er sie jetzt anrufen? War sie überhaupt zuhause, bei ihren Eltern?
Marlies, Annas Mutter, zuckte vor einer Woche resigniert mit den Schultern und sah Mark bemitleidend an, als sie die Umzugskisten abholten.
Um 3.23 Uhr stand er unter ihrer Wohnung. Heruntergelassene Rollläden glotzten herab. Sie schliefen. Mark stockte der Atem, als er zitternd und dampfend noch einmal auf ihre SMS starrte.
Bin ab morgen 6 Wochen weg.
Es ist alles gesagt. Mehr macht
keinen Sinn. Es ist aus. Tut mir
leid. Anna
Er schnippte die Kippe weg und klingelte. Die Sekunden dehnten sich, er klingelte noch einmal. Die Sprechanlage knisterte. Sein Puls raste.
JA?“ Es meldete sich - eine Männerstimme! Sie klang wie ein Schlag in die Fresse. Gleich würde er durchdrehen.
„Ich muss Anna sprechen!“
„Wer bist du?“
Er zögerte!
„Egal!“
„Sie schläft, wir müssen früh raus. Komm ein andermal, wenn es sein muss!“, raunte es.
"Hör mal, du Ar..."!
Dann Rascheln, Gemurmel.
"Jaa." Annas müde Stimme.
"Ich bin`s. Kannst du aufmachen?"
Kurze Stille, wieder Knistern. Dampf stob aus seinem Mund und Kälte kroch unter die Jacke.
"Es hat doch keinen Sinn, Mark."
"Bitte, Anna!" Er spürte, wie er all seine Hoffnung in diese beiden Worte legte und hörte, wie ihm die Stimme versagte. „Ich muss dich sprechen."
„Hast du nicht gehört?“ Wieder der Kerl.
Dann Anna: „Also gut!"
Das Prasseln in der Sprechanlage erstarb. Wie stummes Hundegebell schlug das Licht im Treppenhaus an. Sie stand vor ihm, in Daunenjacke über ihrem Schlafanzug, die Tür nur einen Spalt auf. Trotzdem konnte er ihr Parfüm riechen. Sah ihre verschlafenen Augen, hinter der Haarlocke. Sah den kleinen Sonnenfleck am Hals.
Sie kam nicht näher, umarmte ihn nicht, blieb auf Distanz. Es tat weh. Er zog die Nase hoch und sagte:
"Anna, bitte, ich brauch dich, wir gehören zusammen. Lass es uns noch einmal versuchen."
Sie strich sich über die Stirn. So vertraut.
"Es tut mir leid, Mark, ich kann es nicht mehr. Es ist vorbei."
Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der vorne an der Tafel auf den Boden starrte, die Worte als bloßer Klang in ihn eindrangen und ...die Wut stieg wieder in ihm hoch. Er biss sich auf die Lippen und ...
Er kramte aus einem Impuls heraus den Ring aus der Hose, ihren ersten Ring und hielt ihn ihr hin.
„Behalte ihn einfach. Irgendwo! Bitte!“
Mark wusste, dass sie die Wichtigkeit dieser Bitte spüren würde. Sie zögerte, dann streckte sie die Hand danach aus.
Ihre schönen Augen blickten auf seine Seele und aus seinen schossen Tränen.
„Ok, ich werd ihn behalten!“ Sie schaute wieder auf den Boden. „Als - Andenken.“
Einige Sekunden, die sich zur Ewigkeit dehnten, hörte er das Rauschen des eisigen Windes.
Er konnte dem nicht länger stand halten. Langsam drehte er sich um und ging um den Block, begann zu rennen, immer schneller, hoffte, dass sie ihm nach rief, doch sie blieb stumm. „Ein Bund der Ewigkeit?“ Er kickte gegen eine Tonne. Krachen. Er schrie! Die halbe Nacht irrte er durch fremde Straßen. Schnee knirschte, einmal stürzte er, eine Gruppe Jugendlicher lachte, das Brennen an seiner Hand überdeckte das Selbstmitleid jedoch nicht, er weinte bitterlich, er fror und zitterte. Er suchte in der Jacke den Schlüssel und fand - den zweiten Ring!
In der kalten Wohnung zog er sich auf das Sofa zurück, zappelte und verkroch sich unter der Decke.
Er nahm die Gibson auf den Schoß und wischte sich mit dem Ärmel den Schleim von der Nase.
Er summte, sang, krächzte, bis das Grau des Morgens die Schwärze vor seinem Fenster verdrängte. Die Tristesse erwachte, der Schnee schmolz.
Bis zwei Uhr schlief er. Danach rief er Cedric an. Eine halbe Stunde später stand der Nasentrinker vor der Tür!
"Hast was zu trinken?"
"Nimm die!"
"Wie war es?"
"Das siehst du doch!“ Er deutete auf sein übernächtigtes Gesicht und zog den Ring hervor. Nicht viel, was von einer Liebe übrig bleibt, nicht wahr? Ob´s für die Ewigkeit reicht?“
„Das Leben geht weiter, Alter!“ Cedric klopfte Mark auf die Schulter. Manchmal tat so Allerweltsgelaber einfach gut. Er begann sich zu häuten und streifte die Trauer ab.
Cedric setzte die Red-Bull-Dose an sein Nasenloch und fing an, mit rotzigen Geräuschen die Brause durch die Nase zu ziehen. Er prustete und sabberte. Mark musste lachen, vergaß die Gedanken an gelb bemützte Omas und die Ewigkeit - vorerst. Dann nahm er die Gibson auf den Schoß, lächelte und sang das neue Lied.
Mit einem Scheppern ließ er die Gibson fallen. Stürzte auf die Vitrine zu. Riss eine Tür nach der anderen auf. Irgendwo musste es sein. Zwischen Zeitschriften und CDs fand er das Fotoalbum. Urlaub 2003 La Gomera stand drauf.
Hastig blätterte er die Seiten durch. Dann blieb sein Herz stehen. „Schau!“
Mark hielt Cedric die Seite hin, das Bild aus dem blauen Umschlag daneben. Cedric kratzte sich am Kopf. Verstand er etwa nicht die Tragweite seiner Entdeckung?
„Beide sind gleich! Schau, der Strand. Exakt der gleiche Winkel. Siehst du diese Wolken? Es sind dieselben!“
„Das Foto aus dem Schnee ist eine Kopie?“
Cedrics konnte nur langsam folgen.
Mark riss sich aus seiner Erstarrung, wühlte sich durch den Zeitschriftenstapel. Blättere hektisch einige Hefte durch, schmiss sie in die Ecke, dann vertiefte er sich in einem Artikel.
Das hatte er gesucht.
„Überlappung - Phänomene der Zeit I" von Peter Oppendorf.
Mark starrte durch die Wand.
Die gelbe Mütze, das Foto, die Anzeige, die Ringe, die alte Frau?
Es war kein Zufall, sondern eine Botschaft.
Zeiten gehen, das Leben fließt, der Bund bleibt.
Er ging zum PC und gab den Namen in der Suchmaschine ein. Sein konzentrierter Blick zuckte über die ausgespuckten Seiten.
Die Suche hatte begonnen.
Zweifel gab es keine mehr.
Die unheimliche Fragen rieselten in seinen Kopf.