Textinterpretation
Anfang dieses Jahres erschien ein Buch, von dem sicher auch Sie schon gehört haben:
„Die Blüten des Waldes“.
Es war von einem bisher vollkommen unbekannten Autoren verfasst worden. Mit diesem Buch fing seine Karriere an und sie endete auch mit demselben, da das Buch so viel Gewinn abwarf, dass er nie wieder schreiben musste. Wie jeder Autor schrieb er nur des Geldes wegen und gab dies auch zu. Sich selbst gegenüber allerdings nur, denn sein Name drang nicht in die Öffentlichkeit vor, auf seinen Wunsch hin.
„Die Blüten des Waldes“ wurde so berühmt, dass es an den meisten Schulen im Deutschunterricht als Pflichtlektüre angegeben wurde, was bei neueren Werken ja sehr ungewöhnlich ist.
Frau Pfriem betrat den Klassenraum.
„So, alles was kein Schreibzeug ist, kommt nun weg. Nur noch Papier, Stifte und die Lektüre dürfen auf dem Tisch sein.“
Nachdem die Schüler dieser Aufforderung nachgekommen waren, teilte sie die Aufgabenblätter aus. Als jeder ein Blatt vor sich hatte, durften sie umdrehen und anfangen.
Das Blatt war mit drei Aufgaben bedruckt:
1. Lesen Sie in Kapitel drei die Stelle S. 40, 5 bis S. 51,35 nach und analysieren Sie die Stilmittel und begründen Sie, warum der Autor diese dort verwandt hat.
2. Warum begeht der männliche Protagonist in Kapitel 13 Selbstmord, obwohl er es bereits in Kapitel 3 vorhatte?
3. Versetzen Sie sich in die Lage des Autors in einem Interview: Was haben Sie empfunden, als Sie dieses Buch schrieben?
Das Ergebnis der Arbeit zeigte, dass sich der Großteil der Klasse sehr gut auf die Arbeit vorbereitet hatte: Von zweiundzwanzig Schülern hatten siebzehn eine glatte eins, einer eine 1 minus, einer eine zwei und einer eine sechs.
Schauen wir uns einmal an, was der schlechteste Schüler dieser Klasse – zumindest in dieser Arbeit – geschrieben hatte:
1. „Er machte eine erschreckende Entdeckung“ (S. 40,15) ist eine Alliteration. Der Autor hat hier jedoch keinesfalls absichtlich gehandelt. Er hat diesen Satz so geschrieben, weil er es wollte, aber nicht, weil er eine Alliteration schreiben wollte. So geht es in der Beantwortung der ersten Frage weiter: Es werden alle Stilmittel korrekt angegeben, jedoch wird als Begründung immer gesagt, dass es durch reinen Zufall, ohne Absicht des Autors, entstanden ist.
2. Dafür kann es eigentlich nur eine Erklärung geben: Der Autor hatte bis Kapitel drei eine gute Story aufgebaut, vergaß in Kapitel vier aber, dass jetzt sein Held sterben sollte, durch Selbstmord. Am Schreibstil in Kapitel zwölf merkt man, dass es ihm ungefähr dort wieder eingefallen ist und dass er auf den Selbstmord hinarbeitet. Er hätte ihn sogar schon im zwölften Kapitel beschreiben können, wäre es für ihn nicht „cooler“ gewesen, in Kapitel dreizehn, einer Pechzahl, seinen Protagonisten sterben zu lassen.
3. Ich habe mir gedacht: „Wow, was für ein cooles Buch. Es macht zwar keinen Spaß, es zu schreiben, aber wenigstens werde ich damit voll berühmt und verdiene sehr viel Geld damit.“
Als Kommentar stand unter der Arbeit:
Jakob, deine korrekte Nennung aller Stilmittel zeigt, dass du wenigstens diese Stelle aufmerksam gelesen hast. Aber damit hat es sich dann auch schon. Du scheinst keinerlei Verständnis für diesen Text aufzubringen. Das merkt man auch daran, wie du Frage zwei beantwortet hast. Dir scheint entgangen zu sein, dass der Held in Kapitel drei vom Mädchen seiner Träume angesprochen wird, und deshalb – vorläufig – auf den Selbstmord verzichtet. Und es ist mehr als unwahrscheinlich, dass so ein großer Autor, wie der von „Die Blüten des Waldes“ vergisst, dass er einen Charakter hat sterben lassen wollen. Deine Antwort zu Aufgabe drei ist einfach nur provokant, du hattest anscheinend keine Lust, dich ernsthaft in die Lage des Autors zu versetzen. Deine Arbeit ist ungenügend und besser kann ich sie auch nicht bewerten.
Jakob Parkmann war sehr bestürzt über das Ergebnis seiner Arbeit. Alles was er geschrieben hatte, war keineswegs als Provokation von ihm gedacht gewesen, sondern entsprach tatsächlich seiner Meinung. Er war sich sicher, dass seine Interpretation vollkommen stimmte. Der Autor von „Die Blüten des Waldes“ hatte bestimmt nie absichtlich ein Stilmittel verwendet, nur um des Stilmittels wegen.
„Hier ist das erste deutsche Fernsehen mit der Tagesschau.“
„Guten Abend, meine Damen und Herren.
Heute wurde in Karlsruhe Literaturgeschichte geschrieben. Ein Schüler des Fichtegymnasiums in Karlsruhe ist der Autor des bekanntesten Werkes der Neuzeit: „Die Blüten des Waldes“. Er wird für sein Werk nächsten Monat mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet und ist somit jüngster Gewinner dieses Preises. Der achtzehnjährige Jakob Parkmann bekannte sich heute unter gutem Zureden seines Verlegers dazu, der Autor dieses Meisterwerks zu sein.
Nun zu Nachrichten aus aller Welt...“