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Texas Joe - Hotline-Horror
Texas Joe hat für gewöhnlich einen gespenstisch guten Draht zu den virtuell belebten Bestandteilen seiner Umwelt. Getränkeautomaten, Kopierer, Fast-Food - das Nicht-Lebendige hat einen direkten Zugang zu seinem Großhirn.
Doch hin und wieder versagt dieses Talent auch. Zum Beispiel beim Online-Banking.
Die ganzen PINs und TANs und Java-Appletts und hässlichen Grafiken bringen ihn regelmäßig völlig aus dem Konzept, und für den üblichen mentalen Kontakt sind Webserver, wohl wegen der Entfernung, nicht wirklich zugänglich. Zickige, mundfaule, hochnäsige Biester sind das, jeglichen Kontaktversuch kalt lächelnd an einer langen Leine von Protokollarroganz scheitern lassend, und das ist auch der Grund, weshalb Joe es einfach nicht hinkriegt, die verdammte Stromrechnung, für die er bereits zwei Mahnungen bekommen hat, zu begleichen.
Er könnte natürlich auch einfach zur nächsten Sparkassenfilliale rübergehen und versuchen, den Überweisungsträger einzureichen, aber die Gestalten, die dort wie der Ausschuss vom Wachsfigurenkabinett hinter die Schalter gestopft werden, verursachen ihm noch mehr Gänsehaut als die Webserver, und aus eigener Erfahrung weiß er, dass Sparkassenangestellte auf Überweisungsträger grundsätzlich mit Lachanfällen, Schreikrämpfen oder mordlüsternen Blicken reagieren, je nach Tageszeit und Kundenaufkommen.
Stattdessen startet er einen heroischen Versuch, beim Elektrizitätswerk anzurufen. Eine Hotline, so denkt er sich, ist schließlich auch nur ein Mensch.
"Willkommen bei RWE plus, dem avanza-Service ..." sagt eine bemüht laszive weibliche Digital-Stimme, die gesamte Erotik computergesteuerten Kundenservices in jedem Wort großzügig verschleudernd.
"Hallo!?" ruft Joe in den Hörer. "Ich würde gerne ..."
"... Anruf kostet, unabhängig von Wartezeit und Gesprächsdauer, nur 12 Cent!" verkündet die Stimme unbeeindruckt. "Sie können sich nun durch unser vollautomatisches Menüsystem direkt zu dem für ihr individuelles Problem zuständigen Kundenberater durchstellen lassen ..."
"Hallo! Hören Sie mich?" Texas Joe ist ein furchtbar schlechter Hotliner.
"Einfach mit den Tasten ihres Telefons!" sagt die Stimme, als habe sie soeben persönlich ein Heilmittel gegen Krebs und kalte Füße erfunden.
Joe sieht auf sein Telefon, und ihn beschleicht das dumpfe Gefühl, dass er eventuell in Schwierigkeiten sein könnte.
"Falls Sie Fragen zu Ihrer Rechnung, Ihrem Wohnort, Ihrem Zählerstand, Ihrer Bankverbindung oder dem allgemeinen Zustand des Universums haben, drücken sie ... eins!" fordert ihn die Stimme auf.
"Entschuldigung", plärrt Joe respektlos dazwischen, während die Computerstimme unbeirrt weiterbrabbelt, "ich wollte eigentlich fragen, ob ..."
"... falls Sie sich über avanza-plus krankenversichern möchten, drücken Sie ... zwei ..."
"Aber hören Sie, ich habe gar ..."
"... falls Sie an unserem Zahnersatzprogramm für Premiumkunden interessiert sind, drücken Sie ... drei ..."
"Oh, danke, aber meine Zähne sind okay, wirklich. Was ich eigentlich ..."
"... falls Sie mit unserem Family-Paket Müllentsorgungsgebühren und Hundesteuern sparen wollen, drücken Sie ... vier ..."
"Ich hab keinen Hund ..."
"... falls bei ihnen der Strom ausgefallen ist, weil sie den Fön in die Badewanne geworfen haben, drücken Sie ... fünf ..."
"Ich habe auch keinen Fön", erklärt Joe mit Engelsgeduld.
"... falls sie dabei noch drin saßen, drücken sie ... sechs ..."
"Hören Sie, mir geht’s gut, ehrlich, ich wollte nur ..."
"... falls Sie aus ideologischen Gründen in Zukunft ausschließlich Strom aus Wasserkraft, Atomkraft oder hamsterbetriebenen, ohne Kinderarbeit hergestellten, biologisch abbaubaren Miniaturlaufrädern beziehen möchten, drücken Sie entsprechend ... sieben ... acht ... oder ... neun ..."
"Hören Sie!? Ich habe auch kein Tastentelefon!"
"Falls Sie kein Tastentelefon besitzen", erklärt die Stimme mit einem vom Zufall gesteuerten Anfall von Kooperation, "legen Sie jetzt bitte auf, wählen anschließend unsere Servicenummer erneut, und statt der Null als letzte Ziffer die Zahl, die dem von Ihnen gewünschten Menüpunkt entspricht. Vielen Dank für ihren Anruf!"
Joe legt auf, wählt die Nummer noch einmal, während er sich verflucht, damals ausgerechnet das blöde Micky-Maus-Design-Telefon mit rustikaler Wählscheibenoptik im Versandkatalog bestellt zu haben.
Als er schließlich die neunzehnstellige Servicenummer runtergekurbelt hat, ist er leider wegen der vielen Ziffern, die inzwischen durch sein Bewusstsein geistern, außerstande, sich an die richtigen Menüpunkte zu erinnern. Aber eigentlich, so denkt er, dürfte es auch nicht wirklich einen Unterschied machen, schließlich ist das ein Kundenservice, und die haben ja bekanntlich für jedes Problem eine Lösung. Ganz auf die Güte des Universums im Großen und Ganzen vertrauend, steckt er den Zeigefinger in ein Loch und wählt die Eins.
Es folgt jene millisekundenlange Pause, die ein Computersystem für gewöhnlich benötigt, um irgendwas gründlich zu vermasseln. Dann ein Knacken, schließlich wieder die sanfte weibliche Stimme. Ihr Tonfall hat etwas Feierliches: "Sie haben ... sechs ... gewählt. Sie sind höchstwahrscheinlich tot. Bitte bleiben Sie, wo Sie sind, und warten Sie, bis Sie jemand findet. Für alles weitere ist unser Service leider nicht mehr zuständig. Dennoch würden wir uns freuen, Sie im nächsten Leben wieder als Kunde begrüßen zu dürfen ..."
Joe fühlt sich eigentlich quicklebendig. Er legt auf und springt vorsichtshalber ein paar mal im Zimmer herum, macht ein paar Kniebeugen, klatscht sich anschließend auf die Wange, nur um sicher zu gehen. Muss wohl eine Standardansage sein. Glück gehabt.
Er nimmt den Hörer wieder in die Hand und rotiert sich erneut durch die Hotline-Nummer und wählt am Ende aus reiner Gutmütigkeit erneut die Eins.
"Sie werden nun mit dem nächsten freien Mitarbeiter verbunden", sagt die Computerstimme, "bitte haben Sie einen Augenblick Geduld!" Ein Klicken, dann dudelt Musik.
Das Erfolgsrezept erfolgreichen Kundenservices, so lernt Joe in den nächsten zwanzig Minuten, liegt in der Auswahl der richtigen Warteschleifenmusik. Die harmonisch egalisierte, dem Frequenzband des Telefonsystems angepasste Meditationsbeschallung sorgt dafür, dass Joe in dem Moment, in dem plötzlich ein echter Mensch am anderen Ende der Leitung auftaucht, bereits so eingeschläfert ist, dass er beinahe völlig vergessen hat, was er eigentlich wollte.
"Hallo!" sagt eine zum Schaudern fröhliche männliche Stimme, "Sie sprechen mit Max Degenhardt von der RWE-avanza-Kundenberatung. Tut uns echt leid, die Sache mit Ihrem Fön! Brauchen Sie den Strom wirklich dingend? Dann drücken Sie bitte die Eins!"
"Äh ... nein ... warten Sie! Hallo!?" brummelt Joe schlaftrunken.
"Ja? Hallo! Können wir sonst noch etwas für Sie tun? Dann drücken Sie bitte ..."
"Nein!" Es dauert lange, um Joes Stimme einen Anflug von Verärgerung zu entlocken, aber Hotlines kriegen bekanntlich alles irgendwie hin. "Mein Fön ist in Ordnung ..."
"Was für ein Glück für Sie! Haben wohl ein echtes Qualitätsprodukt erworben..."
"Nein! Das heißt...ich habe überhaupt keinen Fön. Ich wollte nur meine Stromrechnung bezahlen!"
"Das ist wunderbar! Sehr lobenswert!" Max überschlägt sich förmlich vor Kundenfreundlichkeit. "Wir wären wirklich froh, gäbe es mehr Kunden wie Sie!"
"Äh ... danke", stammelt Joe unsicher, "... aber ich ... äh ... ich meine, wie bezahle ich denn jetzt meine Rechnung?"
"Die Rechnung?" Max wirkt plötzlich verunsichert.
"Ja."
"Hmmm ... ich kenne mich nur mit Fön-Problemen aus. Für Rechnungsfragen drücken Sie vielleicht besser die Eins?" schlägt Max vor.
"Das geht nicht", erklärt Joe etwas verlegen.
"Tatsächlich? Wieso nicht?"
"Ich ... äh ... habe keine Eins ..."
"Sowas!" Max wirkt jetzt tatsächlich ein wenig amüsiert. "Wie konnte denn das passieren?"
"Das heißt, ich habe natürlich eine Eins", korrigiert sich Joe hastig, "aber ich habe kein Tastentelefon."
"Verstehe." Man kann förmlich hören, wie sich Max am Kinn kratzt. "Von welchem Planeten rufen Sie noch mal an?"
"Verzeihung?"
"Tschuldigung. Alter Hotline-Witz."
"Lustig", schwindelt Joe höflich.
"Ich sag Ihnen, was wir jetzt machen", hebt Max gewichtig an, genau das Selbstvertrauen und die Gelassenheit verströmend, für die er bezahlt wird.
"Ja?" Hoffnung überflutet Joe.
"Sie legen jetzt am besten noch mal auf, wählen die Nummer, die Sie eben gewählt haben, noch mal, aber dieses Mal eine Eins dahinter, okay?" Max schließt seinen Vortrag mit einem undefinierbaren Geräusch ab, das man wohl als akustisches Zwinkern interpretieren könnte.
"Aber das habe ich schon versucht. Ich meine, ich hatte gedacht, Sie könnten mich vielleicht weiterverbi..."
"Vielen Dank für Ihren Anruf.", sagt plötzlich die erotische Stimme, die Joe schon kennt. "Und zögern Sie bei Problemen nicht, sich an unsere Hotline zu wenden. Wir wünschen Ihnen noch einen schönen und erfolgreichen Tag." Plock. Die Leitung ist tot. Max hat offensichtlich mit letzter Kraft den großen roten Panik-Schalter auf seinem Schreibtisch gedrückt und auf Computeransage umgeschaltet. In exakt diesem Moment reißt er sich wahrscheinlich mit theatralischer Geste wie Bruce Willis nach Rettung des Planeten das Head-Set vom Kopf und sagt japsend zu seiner Kollegin, die am Zahnersatz-Anschluss ihre Nägel poliert: "Ich brauch jetzt erst mal nen Kaffee!"
Joe denkt, während er völlig paralysiert auf den stummen Hörer starrt, einen Augenblick darüber nach, ob es nicht eventuell einfacher wäre, die Rechung zu vergessen und schlicht und einfach umzuziehen, wenn man ihm den Strom abstellt. Aber aufgeben, so sagt er sich, gilt nicht!
Er wählt erneut die ellenlange Nummer und dann mit spitzen Fingern eine vorsichtige Eins am Schluß.
"Guten Tag", sagt die altvertraute Computerstimme, "Sie werden nun mit dem nächsten freien Mitarbeiter verbunden. Bitte haben Sie einen Augenblick Geduld." Ein Klicken. Dann erneut Meditationsmusik.
Eine halbe Stunde später läuft die Musik immer noch, und Joe ist nicht nur leicht angedusselt, sondern im Tiefschlaf. In unbequemer Hocke vor der Kommode, auf der das Telefon steht, den Kopf an die oberste Schublade gelehnt, die Hand mit dem Telefonhörer friedlich im Schoß, schlummert er und träumt von zuhause, von Texas, von der Farm seiner Eltern, wo man dem Mechaniker nur ein kaltes Bier ausgeben musste, damit er am Sonntag mal eben nach der Melkmaschine sieht. Draußen ist es inzwischen dunkel, und Joe schläft tapfer weiter, untermalt vom schmalbandigen Gesäusel der Warteschleifenmusik, friedlich wie ein Baby.
Er hört nicht, wie die Musik plötzlich endet und von einer geschult freundlichen weiblichen Stimme abgelöst wird: "Guten Tag! Sie sprechen mit Nadine Hornbach vom RWE-avanza-Kundenservice. Wie lautet Ihre Frage bezüglich ihrer Rechnung, ihres Wohnortes, ihres Zählerstandes, ihrer Bankverbindung oder des allgemeinen Zustandes des Universums?"
Joe reagiert nicht. Er schläft selig, grunzt nur kurz ungehalten. In seinem Traum holen die Typen von der Bank gerade den neuen Mähdrescher wieder ab.
"Hallo?" erkundigt sich Nadines Stimmchen vorsichtig, klein und kratzig aus der Hörmuschel mit den Micky-Maus-Ohren. "Können Sie mich hören?"
Joe hört nicht. Er melkt gerade. Im Traum. In Texas. In Frieden.
Aus dem Hörer könnte man meinen, ein verlegenes Rascheln zu hören, das entsteht, wenn eine ratlose Hotline-Telefonistin in ihrem Handbuch blättert, um die innerbetriebliche Sprachregelung für eine solche Situation nachzuschlagen. Schließlich fragt sie zaghaft: "Sind Sie ... tot? In diesem Fall drücken Sie bitte die Sechs ..."