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Testament
Er war einer dieser Menschen, die hart arbeiteten. Tag für Tag. Egal, ob es regnete oder schneite, ob die wärmende Sonne sich über die nahen Gipfel emporquälte und alles in ein hell erleuchtetes Paradies verwandelte oder dunkler Nebel jedes Geräusch verstummen ließ.
Tag für Tag, Woche für Woche und Jahr um Jahr.
Er hatte nicht viele Träume oder Bedürfnisse. Nicht mehr zumindest, und ein gut gefülltes Glas zum Feierabend ließ ihn glücklicher sein, als es je eine Liebschaft oder die gesamten Schätze der englischen Monarchie hätten erreichen können.
Er sprach auch nicht viel. Nicht, dass er griesgrämig oder eine unausstehliche Person gewesen wäre. Als ich ihn das erste Mal traf, lächelte er mich an - einer der Augenblicke meines Lebens, die ich nicht mehr vergessen habe. Diese Art von Augenblick, die sich nicht durch die Last bedeutungsschwerer Handlung auf dein Gedächtnis legt, sondern die so banal, so klein ist, dass man sie schon im gleichen Augenblick wieder vergessen hat. Bis man dann Jahre später an diesen einen Augenblick zurückdenkt, es einen schaudert und man zu später Stunde in wohliger Melancholie versinkt. Er lächelte immer auf eine Art, wie es nur wenige Menschen können.
Es wärmte einen!
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich jenen Herbst mit ihm zusammen gearbeitet habe. Es war nicht weit von Hvollsvöllur auf einer Farm. Dort, wo der pechschwarze Sand sich dem Ozean ergibt und sich die weite Ebene zwischen Meer und Fels nach Osten und Westen streckt.
Unser Chef hatte nicht viel übrig für uns. Er hatte wohl für keinen Menschen außer sich selbst etwas übrig. Aber wir taten unsere Arbeit, und er tat die seinige: Die Pflicht der Zahlung und der Unterkunft.
Es war eine schäbige, alte Hütte, in der wir lebten. Aber trotzdem denk ich jetzt nach so langer Zeit mit Freude an diese Baracke zurück. Es gab neben einer dreckigen, vergilbten Küche und einem kleinen Abort noch zwei Zimmer: Einen Schlafraum, in dem nicht mehr als ein paar Pritschen und ein kleiner Ofen standen, und eine kleine Stube mit einem alten Röhrenfernseher, der immer an den interessantesten Stellen anfing zu flackern und zu spinnen. Eine dreckige Couch, die sich schräg gegenüber vom Fernseher in die Ecke drückte. Sie war übersät mit Flecken jeglicher Art: Einige rostbraun, gelblich verfärbt – aber man schaute auch lieber nicht zu genau hin, wer oder was sich dort in den Mustern verewigt hatte. Zwischen Couch und Fernseher, leicht nach links verrückt, stand ein alter Sessel. Ich weiß noch, wie wir ihn aus unserem Schlafraum herübergetragen haben, damit wir uns beim Kartenspielen gegenübersitzen konnten.
Was soll man denn auch sonst während eines dunklen, kalten Herbsttages tun? Die Sonne ging schon lange unter, bevor wir vom Feld kamen, und die nächste menschliche Siedlung mit ihren Läden und Kneipen war gute dreißig Kilometer entfernt.
So waren wir auch gerade am Kartenspielen, als er anfing, mir von Fvolwyert zu erzählen. Ich hing gerade meinen eigenen Gedanken nach und lauschte dem Wind, der draußen tobte. Er ließ die alten Holzwände der Baracke knarren und ächzen und erzählte so in seiner eigenen Sprache seine ganz eigene Geschichte. Das Feuer in dem kleinen Ofen flackerte aufgeregt hin und her, ganz so, als ob es sich auf die kommende Erzählung freute, und warf chaotische, sich immer ändernde Schatten an die Wand.
Schon komisch, wie einem solche Einzelheiten im Gedächtnis bleiben, obwohl man schon die Namen der Freunde aus seiner Kindheit vergessen hat und man in jenem Augenblick auch noch nicht einmal auf diese Kleinigkeiten achtet. Das kommt erst später. Eben zu jener Zeit, wenn man voller Melancholie über längst vergangene Momente nachsinnt. Vielleicht hat es draußen auch gar nicht so stark gestürmt; vielleicht hat das Feuer nicht aufgeregt geflackert, und nur mein altes Gedächtnis tut mir einen letzten Gefallen und lässt diese Augenblicke weit vollkommener in der Erinnerung erscheinen - aber nichtsdestotrotz, egal, ob mein Gedächtnis bei diesen Einzelheiten versagt oder auch nicht, ich schwöre bei Gott, diese Geschichte ist so passiert, wie ich sie hier nun niederschreibe. Nichts davon ist erlogen oder verschönert.
So saßen wir dann an jenem kalten Herbstabend in der kleinen Stube, ein wärmendes Glas Whisky neben den ausgelegten Karten vor uns auf dem Tisch, als er mich plötzlich anschaute und mich fragte, ob ich schon mal was von Fvolwyert gehört hätte. Ich verneinte, nicht wissend, ob es ein Ort oder Gegenstand sein sollte. Dann fing er an, mir von einem Land zu erzählen, das weit hinter dem Horizont, sogar weit hinter dem Mond und der Sonne liegt. Ein Land, das an den ewigen Ozean grenzt, wo ein verwitterter, alter Wachturm über die See der blutenden Bucht blickt und man über eine sanfte Steigung in das Land Errwuur kommt. Vorbei an immergrünen Wiesen, wo sich am Morgen im Tau die aufgehende Sonne in tausend kleine Perlen verwandelt. Der Nebel von dem warmen Wind sanft hinfortgetrieben wird, der über den ewigen Ozean weht und für jeden, der es hören will, Geschichten von noch ferneren Ländern erzählt.
Er erzählte mir von den goldenen Stadttoren, die einem empfangen, wenn man die Hochebene von Errwuur hinter sich gelassen hat und nach Fvolwyert kommt. Von den mit Bronze und Kupfer bedeckten Dachziegeln der Wehrtürme und schließlich von dem großen Tempel des Ahru, der sich auf dem Gebetshügel im Zentrum der Stadt Haessh der Sonne entgegenstreckt. Genau dort, wo einst der blinde Ahru das Licht der Sonne in die Augen schloss und die Gabe des Blickes gegen die Gabe des Sehens tauschte. Er beschrieb mir die freundlichen Gesichter jener, die auf der Straße unterwegs waren und einen immer grüßten und fragten, ob es einem gutgehe. Oder ob man vielleicht einen Schluck Wasser haben möchte.
Von Jourus, den er auf dem Marktplatz der Küstenstadt Amrath kennenlernte und mit dem er viel umherreiste. Der ihn lehrte, dass, wann immer ein Mann an der blutenden Bucht an Land ginge, stets der verwitterte Wachturm zu ehren sei. Wachte er doch schon seit Äonen über die westliche Bucht und hatte tausend Sonnenuntergänge gesehen, die die tosende Brandung und das von scharfkantigen Felsen zerklüftete Steilufer blutrot färbten.
Von Zaeru, dem Kapitän der fliegenden Jungfrau, mit der er fremde Meere erkundete, der aber bei dem heroischem Kampf gegen die Schlange Ourubus mit ihren zehn Köpfen von dem letzten verbliebenden Maul noch in die dunkle Tiefe der See gerissen wurde. Und von vielen anderen, deren Namen und Geschichte ich leider vergessen habe.
Ich weis nicht, wie viel Zeit vergangen war und wie lange er mir von den fernen Ländern erzählt hatte, aber das Feuer war schon weit heruntergebrannt, als er endete. Er sah auf einmal älter aus, grau auf seinen Wangen und kränklich weiß unter den Augen. Ich erinnere mich, wie still es plötzlich war. So still, dass selbst der Wind seine Geschichte unterbrochen zu haben schien und nun grübelnd darniederlag.
Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Er war kein Geschichtenerzähler, kein Aufschneider oder Lügner. Und das, was er mir da erzählt hatte, klang so echt, so detailliert, es konnte keine Fiktion sein. Aber ich bin Realist, und mein Weltbild ist klar in rationale Muster gedrängt.
So saß ich da, nippte an meinem Whisky und schaute durch das dreckige Fenster auf den hellen Mond, welcher immer wieder von einzelnen Wolkenfetzen zugedeckt wurde und so eine unruhige Atmosphäre entstehen ließ. Ich glaube fast, selbst die Wolken wollten aufbrechen, um das ferne Land Fvolwyert zu sehen.
Stille ... dann fragte ich ihn nach dem Warum. Ich mochte die Geschichte nicht anzweifeln und auch erst recht nicht anprangern. Mir waren das Wie und Wo egal – die passten nicht in die Geschichte und schienen unerheblich. Aber es interessierte mich, warum er sie mir erzählt hatte.
Da blickte er mich aus seinen grünen Augen, welche so unendlich traurig guckten, dass sie mir eine Gänsehaut über die Arme schickten, an. Lange sagte er nichts, und ich war schon fast der Überzeugung, dass das Warum schon zu viel Frage, zu viel Zweifel war. Dann sagte er nur, dass er mich mochte und wisse, dass ich es zu gegebener Zeit schon verstehen würde. Und er hoffe, dass ich ihm irgendwann folgen könne.
Dann leerte er seinen Whisky in einem Zug, stand auf und ging.
Und es war das letzte Mal, dass ich ihn sah.
Ich weiß nicht, wohin es ihn letztlich in dieser kalten Nacht mitten im Nichts gezogen hat oder ob er vielleicht sogar noch lebt. Aber als ich paar Minuten später wieder bei Sinnen war und mich halbwegs aus dem Bann der Geschichte lösen konnte, schaute ich, wo er sei. Er war nirgends zu finden. Auch am nächsten Tag und noch Wochen später rechnete ich damit, dass er plötzlich wieder lächelnd vor mir stehen würde. Aber die Zeit zog sich und ich dachte viel darüber nach. Stellte meine eigenen Ideen auf und verwarf sie wieder.
Und niemals kam er wieder.
Jetzt, da ich mein Leben gelebt habe und Jahrzehnte seit dieser magischen Nacht vergangen sind, bin ich mir sicher, dass er nach Fvolwyer gegangen ist.
Hinweg über den ewigen Ozean, vorbei an dem Wachturm Âra`th der die blutende Bucht beschützt, hinauf zur Hochebene Errwuur gehe ich nun und werde meinen alten Freund wiedersehen. Meinen alten Freund, der schon mit einem Lächeln und einer guten Flasche Whisky am goldenen Stadttor auf mich wartet und mich herzlich begrüßt und in die Arme schließt ...