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Terror

J C

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02.04.2017
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Terror

Er hatte es sich ganz anders vorgestellt, und auch nicht, dass es tatsächlich geschehen würde, nein, er hatte es sich so vorgestellt, dass es vorgestellt bleiben würde und dort, in seiner Vorstellung, ein originelles Stückchen wäre, das er zur Konversation immer mal wieder herausholen könnte.
Aber es geschah tatsächlich, und er war dabei, und es wurde ihm keine Anekdote.

Die Schlange war lang, das ärgerte ihn, nicht, weil er ungeduldig war, es war aber windig, und er fühlte sich für eine längere Wartezeit im nachmittäglichen Wind nicht warm genug angezogen.
Noch zwanzig Meter, vielleicht sogar dreißig bis zum Eingang.
Er dachte: Ich hätte mal früher losgehen sollen. Mir ist nicht warm genug.
Es wird ja richtig abendlich kühl, kühler als ich erwartete.
Ich wollte die dicke Jacke nicht mitnehmen, und jetzt kann es sicher noch eine halbe Stunde dauern.
Er drängelte sich nie vor, dazu war er zu schüchtern. Die Drängler verdickten die Schlange der Wartenden an einer bestimmten Stelle, am Beginn des sehr stabilen Stahlrohrzaunes, der bis zum Eingang führte. Dort staute es sich etwas, aber man arrangierte sich schweigend oder murmelnd, und auch sonst standen die Menschen in der Schlange ruhig, zu zweit, alleine, eher still, es war alles ganz ruhig. Man hörte den Bass ganz sanft lockend durch die Mauern und man hörte die Vögel und den Wind, alles hörte man gleich laut, die Schuhe auf dem Asphalt, das Klicken der Feuerzeuge.
Er kannte das schon. Er mochte diesen Moment der stillen Vorfreude, wenn der Eingang nicht mehr allzu weit entfernt war.

Da vorne, die beiden Männer, die eben wie neugierige südeuropäische Touristen mit ihren Umhängetaschen, ganz normalen Umhängetaschen, an der Schlange vorbei nach vorne gingen, als die beiden an ihm vorbeikamen, da dachte er sich ganz kurz, dass die wissen, dass sie nicht reinkommen würden und dass sie vielleicht auch gar nicht reinwollen, manchen reicht es ja schon den berühmten Türsteher zu sehen, und so liefen die beiden in ihren Jeans und hellen Turnschuhen an der Schlange entlang.
Der Eine trug ein blaues Hemd mit feinen weißen Streifen und einem ordentlichen Kragen, und darüber einen schwarzen Wildlederblouson, ziemlich 80er, eher Provinzstadt, aber vielleicht ein tüchtiger Bursche, übernimmt das kleine Geschäft seines Vaters.
Der Andere, Jeans, gelbes Polohemd mit sinnlosem Aufdruck, darüber eine billig aussehende Jeansjacke mit zwecklosen Schnallen – alle beide irgendwie verkleidet, nicht zusammenpassend, aber mit diesen gleichen und wohl ziemlich schweren Umhängetaschen, einer geht rechts, einer links an der Schlange entlang, ungefähr zehn Meter vor ihm, wo die kleine, gelassene Drängelei der Stammgäste ihren Ort hat, da bleiben die beiden stehen, einer rechts, einer links, es ist alles ganz ruhig.
Dann gehen beide ein paar Schritte von der Schlange zurück, nehmen gleichzeitig ihre Tasche von der Schulter, und ein dunkles unterarmlanges, schweres Ding wird herausgeholt, rechts, und links.
Aha, Pressefotografen wollen die Schlange oder sogar die Türsteher fotografieren, na das gibt gleich Ärger! Das dachte er für ganz kurze Zeit, ganz kurz nur.

Die Schüsse hörten sich anders an, als die Schüsse aus dem Armeegewehr, mit dem er vor fünfzehn Jahren im Matsch herumgekrochen war. Sie klangen ganz trocken, wie ein Klicken mit der Zunge, hohl. Jede Sekunde schoss einer der beiden, abwechselnd, im Takt. Tok.Tok.Tok.Tok.
Sie wollten wohl wirklich alle töten, ohne Ausnahme.
Er sah ihnen die Anstrengung an, das Gewehr musste ja hin und her geschwenkt werden, und alle, alle sollten totgeschossen werden, aber weil es so viele waren, musste sparsam mit der Munition umgegangen werden, die beiden Schützen zögerten, wenn sie den Eindruck hatten, dass der Körper, der ihnen vor den Lauf kam, schon tot war. Dann schwenkten sie weiter und schossen dorthin, wo sich ein Mensch bewegte. Tok.Tok.Tok.Tok.
Und da war noch viel Bewegung um die stehenden Schützen herum, die Gejagten krochen am Boden, auf der Suche nach Deckung, oder sie wanden sich in ihrem Blut auf dem steinigen Weg, er sah wie manche zuckten, wie vom Stromschlag getroffen. Einer der Schützen hatte sich zuerst zur Tür hin orientiert, dort lagen die Toten, ganz viele, so viele Körper. Sie lagen übereinander am Boden und über den Stahlrohrzaun hängend, wenige hatten es bis zum Zaun vom Großmarktgelände geschafft, aber nicht weiter. Die Finger hoch über ihrem Kopf ins Gitter gekrallt, aber auf den Knien, mit schon gebeugtem Kopf.
Der andere schoss in die Gesichter der eben noch geduldig Wartenden und in die Rücken der Fliehenden. Er war ganz konzentriert, mit eingezogenen Lippen, dann war sein Magazin wieder leer, er zog mit geübtem Schwung das nächste Magazin aus der Umhängetasche und schob es in das handliche Gewehr und erschoss den einen Mutigen, der eine halbe Sekunde zu lang gezögert hatte.
Denn da war einer hingesprungen, ein starker Mann, ein Spanier vielleicht, der wäre fast ein Held geworden, aber gleich stirbt er mit aufgerissenen Augen. Ja, zerfleischt hätte er den Mann im gelben Polohemd, aber er war zu langsam, und ein bisschen zu spät.

Als die Schüsse nach einer Zeitspanne, die kein Maß kennt, endeten, begann ein halblautes Stöhnen. Als die Schützen mit brechender, schriller Stimme anfingen, ihre Tat zu preisen, wurde das Stöhnen zu einem Geheul und Namen wurden gerufen, und es war ihm wie ein letzter Gesang der Zerfetzten.
Er lag ganz still. Ihm war klar, dass er nur durch großes Glück oder großes Geschick dem Tod entgehen könnte, vorerst jedenfalls.
Aber er war wohl ganz heil geblieben, zwar von oben bis unten voll Blut, das war warm und zähflüssig, er hatte noch nie soviel Blut gefühlt und gerochen - aber ihm fehlte gar nichts. Ja. Er war ganz heil geblieben.

Die stöhnenden Leiber häuften sich an zwei Stellen: vor dem Eingang und am Anfang des dicken Zaunes. Die Schützen redeten laut miteinander, sie hatten ihre Gewehre achtlos weggeworfen. Ihre Stimmen überschlugen sich, dann stellten sie sich hin, einer direkt vor den Eingang, vor die verschlossene Stahltür, der andere einige Meter entfernt, und sie zogen Handgranaten von ihren Gürteln, und hielten diese vor ihrer Brust in beiden Händen, während sie irgendetwas riefen.
Er war gerade mal zehn Meter von dem einem Mann entfernt, der das gelbe Polohemd trug, er las noch den Aufdruck: Transocean 83 Challenge, und dann schrie er, so laut er konnte:
Rennt weg! Run! Run! Run!
Er drückte sich hoch und schob jemanden weg und trat vielleicht auch auf die Körper unter ihm und lief den Weg zurück, er lief wie eine Maschine, die haben ja gar keine Munition mehr, dachte er sich, denen bin ich entwischt, und dann hörte er zwei Explosionen, aber da war er ja schon ein Stück weit gekommen und ließ sich fallen, rollte sich auf den Rücken, schloss die Augen und tastete in seiner Jacke nach den Zigaretten.
Irgendwas muss mich vielleicht doch erwischt haben, ich bin voll Blut, deswegen werde ich die Wunde nicht finden, und den Schmerz spüre ich nicht wegen dem Schock. Verbluten, wie das klingt.

Ich will jetzt rauchen, dachte er, aber er sah seine zitternden Hände, die waren voll Blut von vielen Leuten. Da wurde ihm schlecht und er drehte seinen Kopf zur Seite, und erbrach die Cornflakes und den Kaffee und das Wegbier, seine gutgelaunt verzehrte Grundlage für den Abend. Er wollte sich die Hände abwischen, aber nicht an seiner Kleidung, und rieb sie am schmutzigen Gras, das half gar nicht.
Er sah, dass er ganz schön weit gelaufen war: er lag unter dem großen Baum auf dem Parkplatz.
Ich kann jetzt hier nicht unter dem Baum sitzen und eine rauchen, dachte er, und stellte sich ein Pressefoto vor, er im Vordergrund, eine Zigarette lässig in der Hand, am Baumstamm lehnend, ein Bein angewinkelt – und im Hintergrund, scharfgestellt mit Blende acht, die Zerschossenen.

Er nahm sich vor, aufzustehen. Kurz kam ihm die Furcht, dass es bei dem Vorhaben bleiben müsste, weil er sich nicht mehr umdrehen könne, weil ein Splitter oder was auch immer genau in sein Rückenmark gedrungen wäre, und er nun daliegen müsste wie ein vom Himmel gefallenes Tier, schutzlos auf dem Rücken, aber dann ging es, und er drehte sich auf den Bauch, und kam langsam auf die Knie, und dann stand er, und er zitterte von Kopf bis Fuß.
So kann ich kein Held sein, so kann ich keinen unter den Leichen hervorziehen und auch niemanden verbinden, ich werde keine klugen Anweisungen geben können und werde nicht wie ein Fels alles leiten und trösten und ordnen, bis die Profis mir diese Aufgaben dann mit anerkennendem Blick abnehmen. Da geht ja gar nichts, dachte er, ich zittere, und ein Laut drang aus seinem Mund, ein Schrei, und der war auch nicht schön.

Neben ihm, und das sah er erst jetzt, saßen und lagen ein paar Menschen, und sie schauten ihn an mit geweiteten Augen, und er sah – die Leute sind ganz sauber, die waren hinten in der Schlange, oder kamen gerade erst, die haben das gar nicht so genau mitbekommen, und er nahm an, dass er so angeschaut wurde wegen dem Blut an den Händen, und er sagte: Someone give me a hankerchief, hat einer mal ein Taschentuch, und tatsächlich gaben ihm gleich alle drei Frauen ein Tempo, und er wischte sich über das Gesicht, und alles war rot, und er schämte sich, und wischte und wischte. Eine Frau holte eine Wasserflasche heraus, sie weinte, und da fing er auch an zu weinen, es war dann kurz ein Schreien, er brüllte Laute heraus, aber er sah, wie die anderen sich erschreckten, da riss er sich zusammen und wurde still. Die Frau mit der Wasserflasche sagte: I saw you run. I prayed that you make it.
Er schluchzte, und tastete wieder nach den Zigaretten und dem Schlüssel in seiner Jacke. Er holte die Schachtel heraus, und reichte sie herum. Er dachte: Ich zünde mir jetzt mit zitternden Händen eine Zigarette an. Er hatte wie immer den Filter abgebrochen, dabei war die Zigarette mit Blut beschmiert worden.

Nach zwei Zügen sagte er: we have to help. Lasst uns mal da hingehen. Er machte ein paar staksige Schritte. Einer von den Leuten unter dem Baum sagte: Großer, komm, setz dich, rauch doch erst mal eine, ich glaub da kommt schon die Feuerwehr, lass uns hier noch ganz kurz sammeln. Er schaute hin, ach, der, den habe ich schon mal gesehen, ein Pummel, lieb, der ist ja gut jetzt hier. Eine Frau fing an auf englisch zu beten: Lord Jesus Christ, save all these people here and protect us from all evil. Amen.

Jetzt saß die kleine Gruppe unter dem Baum, man war aneinander gerückt, und alle außer der Amerikanerin, die gerade gebetet hatte, rauchten. Er zog noch einmal an der Zigarette, schaute hoch, und sagte dann mit ihn selbst überraschend klarer Stimme: but we have to help, und wenn wir nur dabei sind, da will doch keiner allein sein, in so einer Situation, lasst uns da mal rübergehen.

Die Sirenen hatte er gehört, sie schienen aus jeder Richtung zu kommen, sie überlagerten und ergänzten sich, und dann kam das erste Polizeiauto, der Polizist war jung, stark, enges Hemd, Pistole am Gürtel, da lag auch seine Hand. Seine Kollegin hatte einen langen, hellblonden Pferdeschwanz, sie stieg gleich wieder ins Auto und griff sich das Funkgerät, es fiel ihr hin, und sie bekam es kaum zu fassen, wieder glitt es ihr aus der Hand, sie weinte laut und als sie das Funkgerät schließlich zu fassen bekam rief sie Großlage! Großlage! in das Mikrofon.

Er hielt sich am Zaun fest. Hier steh ich doch erstmal ganz gut, dachte er. An ihm vorbei strömten die Rettungsleute. Hubschrauber standen über dem Gebäude, ein Zelt war aufgebaut worden, das musste in Minutenschnelle geschehen sein. Er wusste, dass bei den Verletzten kein Platz mehr für ihn war, da konnte er nichts mehr helfen, und er machte sich erneut bewusst, wie er mit seinem blutverschmierten Gesicht und den von Blut nassen Kleidern aussehen musste.
Er schaute auf seine Uhr. Um 17.15 war ich am Ende der Schlange, dachte er sich. Jetzt ist kurz vor sechs. Was mache ich denn jetzt? Soll ich jetzt nach Hause, Freunde anrufen, Badewanne, Waschmaschine? Ich kann hier doch nicht einfach weggehen, aber ich kann hier auch nicht mehr herumstehen. Er ging zurück zum Baum. Der Pummelige ging ihm entgegen und sagte: Ey komm, setz dich doch wieder zu uns.

Ihm kam auf einmal sein nächtlicher Weg über den Wannsee in den Sinn. Ganz selten dachte er daran, aber jetzt erinnerte er sich, wie er da mal Angst hatte, weit vom Ufer, im Dunklen, auf dem dumpf knackenden Eis.
Er saß wieder unter dem Baum, man war zusammengerückt, nah beieinander waren die sechs Leute. Er hatte saubere Hände und ein sauberes Gesicht, denn da war jemand vorbeigekommen, der hatte einfach nur geschaut, und war kurz darauf mit einer Wasserflasche, Seife und einem ganz weichen, weißen Handtuch wiedergekommen. Der hatte nichts gesagt, und er war ihm dafür dankbar gewesen.
Er wusste aus einer Doku über irgendetwas, dass traumatisierte Menschen achtundvierzig Stunden lang ihre Bedürfnisse erfüllt bekommen sollten, damit sie kein posttraumatisches Stresssymptom bekommen. Er fragte also, ob jemand einen Joint bauen könnte, und der Pummelige nickte schnell und holte alles raus, was gebraucht wurde, und die Polizisten waren egal.
Er atmete tief durch. Ich habe das gerade überlebt, dachte er. Dann schaute er die anderen an, und fragte, ob er eine Geschichte erzählen darf, weil er gerade überlebt hat, und die Geschichte auch von Angst und Überleben handelt und er sie ganz selten erzählt hat, und er das jetzt gebrauchen könnte, diese Geschichte jetzt und hier zu erzählen, und ob das ok für alle sei, fragte er. Die anderen schauten ihn an und nickten.

Das war mein erster Winter in Berlin, oder der zweite – egal, es war ein Sonntag. Ich war mittags mit der S-Bahn zum Wannsee gefahren, weil ich die Bonzeninsel Schwanenwerder mal anschauen wollte. Als ich nach dem Gang um die Insel zurück zum S-Bahnhof wollte war der letzte Bus des Tages gerade weggefahren.
Es war ein kalter Winter, die Eisdecke auf dem Wannsee sah stabil aus. Ich beschloss, eine Abkürzung zurück zum S-Bahnhof zu nehmen – zwei Kilometer in gerader Linie über den zugefrorenen See. Die Sonne war eben hinter dem Horizont verschwunden, in der Dämmerung sah ich vor mir die schimmernde, unbefleckte Eisfläche, links vom dunklen Wald begrenzt. Ich war über ein brachliegendes Grundstück, auf dem schon die Baugeräte bereitstanden, an das Seeufer gelangt. Ich wusste, in welche Richtung ich laufen musste – immer geradeaus.
Nach ein paar hundert Metern auf dem Eis, das sich fest anfühlte, und wegen der dünnen, verharschten Schneedecke nicht besonders rutschig war, kam schneller als gedacht die Dunkelheit, und ich begann zu zweifeln, ob ich gerade das Richtige mache. Während ich überlegte, lief ich weiter. Ich drehte mich irgendwann um – und sah nur noch Finsternis, wo ich Schwanenwerder vermutete. Links zeichneten sich die Bäume vor dem tiefgrauen Himmel ab. Zum bewaldeten Ufer wollte ich nicht, da ar der Schilfgürtel und Brombeerdickicht, und im Wald war es wahrscheinlich kohlschwarz und voller Wildschweine. Was soll passieren, dachte ich, jetzt bin ich doch sicher schon den halben Weg gelaufen. Nach ein paar Minuten sah ich weit vor mir Lichter, und wusste, dass ich dort hin muss, und dass dort der S-Bahnhof ist. Der Raum, in dem ich mich bewegte, veränderte sich, ich schwebte in einer Unendlichkeit dahin, die Zeit dehnte sich, ich hörte nur meinen Atem und das leise Schlurfen meiner Schritte.
Gleich bin ich am Ufer, dachte ich, da gab es ein lautes, knackendes Geräusch, irgendwo hinter mir, im Dunkeln, und gleich darauf rechts von mir, da war nur Schwärze. Und noch ein Krachen, irgendwo, richtig laut.
Ich wollte loslaufen, aber ich wäre ausgerutscht, das Eis und der Schnee ließen nur gemessene Schritte zu. Mir war klar, dass ich wenige Möglichkeiten hatte: stehen bleiben und um Hilfe rufen, wobei ich mir die Blamage aber ersparen wollte – und wenn mich keiner hört, erfriere ich, dachte ich mir, es waren sicher zehn Grad unter Null. Oder weiter gehen und trocken anzukommen oder im eiskalten Wannsee ertrinken. Ich ging also weiter, die Lichter am Ufer gewannen an Form, noch hundert Schritte, es schienen Wellen unter dem Eis durch zu laufen, weit hinter mir knackte und knallte es wie Schüsse –ich dachte mir, das schaffe ich, da geht jetzt nichts mehr schief, und dann sah ich, dass auf der Bank unter der Straßenlaterne jemand saß. Ich straffte mich und ging die letzten Meter zum Ufer ganz gelassen, als ob ich das jeden Tag mache, mal kurz so über den Wannsee zu laufen.
Als ich dann endlich am Ufer war und zum Bahnhof ging kam ich an dem Mann vorbei, der da auf der Bank saß.
Der sagte, ohne sich zu bewegen: “ Ich bete seit zehn Minuten für dich, du Arschloch“.

Er schaute auf. Eine Polizistin kam zum Baum und hockte sich hin. Sie müsse nun doch mal unsere Personalien aufnehmen, ob das jetzt ok sei.

 
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Hallo J C

Was mir am Text ausnehmend gut gefällt, ist die Erzählstimme. Der Erzähler hat eine radikal subjektive Perspektive auf die Ereignisse, der verallgemeinert nicht, der bleibt ganz nahe am Erleben, am Detail, und am Ende denkt er nicht an die Opfer, sondern erinnert sich daran, wie er schon mal dem Tod entronnen ist. Das macht diese ganze Erzählung sehr authentisch. Ich hab dem Erzähler über weite Strecken alles geglaubt.
Die Subjektivität spiegelt sich auch in der Sprache, du arbeitest an der Grenze des syntaktisch Korrekten, hängst da noch mal einen Nebensatz an, schiebst hier einen dazwischen, und dabei hältst du, wie ich finde, die Balance ausserordentlich gut. Einerseits bist du damit sehr nahe daran, wie Menschen tatsächlich denken, andererseits ist der Text dennoch gut lesbar. Mehr noch, die Sprache hat einen ausgezeichneten Rhythmus. Ich bin vom Text sehr angetan, auch weil ich mich grad an einer ähnlichen Erzählstimme versuche - obwohl ich syntaktisch nicht so weit gehe wie du.
Zum Inhalt will ich nicht viel sagen, ich fand einfach die Art und Weise, wie du das erzählst, sehr sehr spannend.

Willkommen im Forum, J C!

Ein paar Details:

ein originelles Stückchen wäre, was er zur Konversation immer mal wieder herausholen könnte.

Klar, du hast einen etwas saloppen Erzähler, aber ich würde hier dennoch „das“ schreiben.

im nachmittäglichen

Ein Leerschlag zuviel. Auch an einigen anderen Stellen, ich mag die nicht alle zitieren, aber schau dir den Text diesbezüglich nochmal durch.

Noch 20 Meter, vielleicht sogar 30 bis zum Eingang.

Ich würde die Zahlen ausschreiben, sieht eleganter aus. Später auch bei "15" und "100".

der sich zum Eingang hin mäanderte.

Das „sich“ kann (oder muss sogar?) weg.

Dort staute es sich etwas,aber man

Leerschlag fehlt. Und auch dieses „sich“ kann weg. Du hast da dreimal „sich“ in zwei Sätzen.

Da vorne, die beiden Männer, die eben wie neugierige südeuropäische Touristen mit ihren Umhängetaschen, ganz normalen Umhängetaschen, an der Schlange vorbei nach vorne Richtung Tür gingen, als die beiden an ihm vorbeikamen da dachte er sich ganz kurz,

Kann weg. Dafür fehlt ein Komma vor „da“

an der Schlange entlang, Der Eine

Punkt statt Komma.

Der Eine trug ein blaues Hemd mit feinen weißen Streifen und einem ordentlichen Kragen, und darüber einen schwarzen Wildlederblouson, ziemlich 80er, eher Provinzstadt, aber vielleicht ein tüchtiger Bursche, übernimmt das kleine Geschäft seines Vaters.

Das ist so einer dieser Sätze am Rande der syntaktischen Legalität. Ich mag das sehr!

Dann gehen beide ein paar Schritte von der Schlange zurück, nehmen gleichzeitig ihre Tasche von der Schulter, und ein dunkles unterarmlanges Ding mit einem gewissen Gewicht wird herausgeholt, recht, und links.

Woran erkennt dies der Erzähler? Und ich würde Passivkonstruktionen wenn möglich vermeiden, vor allem dann, wenn es um Action geht.

manche zuckten, wie von Blitzen getroffen.

Finde ich im Kontext einen schwachen Vergleich.

Einer der Schützen hatte sich zuerst zur Tür hin orientiert, und dort einen Haufen Leiber hinterlassen.

Ich weiss nicht. Schon klar, du hast da einen Erzähler unter Schock, und ich finde die nüchterne Art, wie er von diesem Geschehen berichtet, sehr gelungen. Aber diese Formulierung fand ich etwas zu abgeklärt, zu zynisch.

Denn da war einer hingesprungen, ein starker Mann, ein Spanier vielleicht, der wäre fast ein Held geworden, aber gleich stirbt er mit aufgerissenen Augen.

Dieser Sprung vom Präteritum ins Futur war mir zu gross, und ich bin gestolpert.

Aber war wohl ganz heil geblieben,

Da fehlt ein „er“.

Er war gerade mal 10 Meter von dem einem Mann entfernt,

zehn

hörte er zwei Eplosionen

Explosionen

Ich kann jetzt hier nicht unter dem Baum sitzen und eine rauchen, dachte er, und stellte sich ein Pressefoto vor, er im Vordergrund, eine Zigarette lässig in der Hand, am Baumstamm lehnend, ein Bein angewinkelt – und im Hintergrund, scharfgestellt mit Blende 8, die Zerschossenen.

Grandios. Heutzutage ist jedes Ereignis in seiner medial aufbereiteten Form zu denken.

Kurz kam ihm die Furcht, dass es bei dem Vorhaben bleiben müsste, weil er sich nicht mehr umdrehen könne, weil ein Splitter oder was auch immer genau in sein Rückenmark gedrungen wäre und er nun daliegen müsste wie ein vom Himmel gefallenes Tier, schutzlos auf dem Rücken, aber dann ging es und er drehte sich auf den Bauch, und kam langsam auf die Knie, und dann stand er, und er zitterte von Kopf bis Fuß.

Wieder so ein wunderbares Satzmonster. Allerdings fehlt ein Komma nach „wäre“ und vor „und“.

Lasst uns mal da hin gehen.

hingehen

bewusst,wie

Leerschlag fehlt.

Ey komm setz dich doch wieder zu uns.

Komma vor „setz“.

Der sagte, ohne sich zu bewegen: “ Ich bete seit zehn Minuten für dich, du Arschloch“.

Grossartig.

Hab ich sehr gerne gelesen, J C.

Lieber Gruss
Peeperkorn

P.S. Ach ja, gib der Geschichte doch noch ein, zwei Stichworte. So ist der Text besser auffindbar und die Leser wissen ungefähr, was sie erwartet.

 
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Danke vielmals, Mijnher P.!
*
jc

 

Hej J C,

dein abschreckender Titel, bin ich doch gefühlt täglich vom Terror umzingelt, kostete mich Überwindung, deine Geschichte anzugehen.

Und es dauerte auch eine ganze Weile, bis ich mich auf deine Zeit- und Perspektivwechsel eingelassen hatte. Dennoch war es zu spannend, deinem eigenartigen Protagonisten in dieser bizarren Situation zu begleiten. Durch ihn war ich ganz dicht dran und doch nur Beobachter. Die sachliche, zum Teil kindliche Erzählstimme machte es möglich, mit diesem furchtbaren Desaster auf abstand zu bleiben und nicht allzu sehr mitzufühlen. So könnte es sich tatsächlich im einzelnen abspielen. Das hast du wirklich beeindruckend versucht nachzuempfinden.
Das Ende, über den gefrorenen Wannsee zu stolpern und schon einmal sein Leben zu riskieren, war ein witziges cool-down und tolle Pointe.


Und nun? Sollen wir ihn weiterleben lassen

Meinetwegen. ;)

Freundlicher Gruß, Kanji

 

Hola J C,

der haut ja ganz schön rein, Dein Text. Der ist dem Thema gewachsen. Den hast Du voll unter Kontrolle. Es wäre unvorstellbar peinlich, wenn das schwächer rüberkäme:

Aber es geschah tatsächlich, und er war dabei, und es wurde ihm keine Anekdote.

Zu gern hätte ich etwas über Dich im Profil erfahren, denn diese Kurzgeschichte ist mit distanzierter Klarheit und Souveränität geschrieben. Profi, eventuell?
Ist egal; auch wenn ich hier und da etwas monieren könnte, verzichte ich aus egoistischen Gründen darauf, denn ich brächte mich ums Leseerlebnis.

J C, Dein Text hat mich beeindruckt. Allein, nicht vor diesem Irrsinns-Thema zurückzuschrecken, verdient Hochachtung. Und noch mehr davon, wenn die Übung gelungen ist (ein Artisten-Spruch des chin. Staatszirkus’) – wie in Deinem Fall.

Nur eines finde ich überdenkenswert: Ist es sinnvoll, zwei grundverschiedene Geschichten – auch wenn ‚Angst’ das verbindende Element sein sollte – unter einem Titel einzustellen?
Mein persönlicher Leseeindruck ist, dass mir die Terrorgeschichte genügte; der Spaziergang über den Wannsee könnte anderswo das Gruseln lehren.

Jedenfalls ein bärenstarker, intelligenter Text! Vor diesem Thema kneifen fast alle (ich sowieso). Kompliment, J C!

José

 

Hola Josefelipe, stimmt.
Die Eisgeschichte hätte man auch für sich nehmen können.
Aaber...meinem Protagonisten war gerade danach, eine meiner persönlichen Anekdoten zu erzählen.
Die Figuren haben ja ihren eigenen Willen.
Muchas gracias für Deine Stellungnahme zum Text.
* jc

 

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