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Terror am Weltraumfahrstuhl
Corben seufzte, hielt den ID-Chip, welcher jedem Weltbürger in den Handrücken implantiert worden war, an den Scanner und bestätigte mit seiner PIN. Vor einer halben Stunde hatte er noch seinen Urlaub genossen und war wandernd durch die einsamen Drachenberge im alten südafrikanischen Territorium gezogen, doch einen Anruf seiner Chefin später hatte er sich von einem UAV abholen lassen. Er hatte sofort gewusst, dass es sich um einen Notfall handeln musste, da sie ihn sonst nie in der Woche Urlaub störte, die ihm jedem Monat zustand.
„Ja, Stacey, die Drohne hat mich abgeholt. Ich checke grad in die Lube ein, aber welches Ziel soll ich eingeben?“ Über dem rechten Auge war ein Mikroprojektor an seiner Stirn angebracht, der den Avatar seiner Chefin als kleiner sprechender Pudel mit einer pinken Schleife in dem gelockten Fell auf seine Netzhaut projizierte. Wie die meisten Mitarbeiter der Secure Softtec Sicherheitsfirma für Internet- und Softwaresicherheit, kommunizierte sie nur als Avatar. Corben ließ sich als schlichte Kugel abbilden, die unentwegt ihre Farbe änderte; er hatte nicht besonders viel für die Albernheiten der modernen Kommunikation übrig. „Du musst zum 'Ziolkowski-Ascenseur', den Weltraumfahrstuhl im alten Gabun“, antwortete Stacey, während der animierte Pudel synchron seine Lippen bewegte.
Die „Loop Tube Station“, meist als LTS abgekürzt, war der Bahnhof für die schnellste Transportmethode auf dem afrikanischen Kontinent. Unter der Erde wurden Röhren verlegt, in denen bei Drücken von wenigen Zehntel Millibar einzelne Transportkapseln von supraleitenden, mit flüssigem Stickstoff gekühlten Magneten, welche entlang dem ringförmigen Vorbeschleuniger platziert waren, auf eine Geschwindigkeit von knappen 2500 km/h beschleunigt werden konnten. Zugleich wurden durch die Kühlung entlang der Röhren ein nahezu widerstandsfreier Transport von elektrischen Ladungen ermöglicht, wodurch der Kontinent mit Strom aus den Solarfarmen in Zentralafrika versorgt werden konnte. All das blendete Corben jedoch aus, als er in seine Kapsel stieg und das Ziel dem Computer nannte. Eigentlich fuhr Corben lieber in den langsameren Magnetschwebebahnen als in der Lube, wie die Loop Tube umgangssprachlich genannt wurde, denn hier wurde das Vorbeiziehen der Landschaft nur auf den Screens im Inneren der Kapsel simuliert. Er liebte die Schönheit der Natur und verbrachte seine freien Wochen stets wandernd in den unberührten Bergen. Doch heute hatte Stacey ihn zum Abbruch seiner Wandertour gedrängt, da es um „den größten Notfall in der Geschichte von Secure Softtec“ ging, wie sie ihm nervös erzählt hatte. Warum man nicht einen anderen schicken könne? Es war sein Spezialgebiet, also kannte er die Antwort schon, bevor der animierte Pudel es ihm erklären konnte. Warum man sich als Softwareunternehmen um einen geplanten Anschlag kümmern müsse? Sie hatte geantwortet, dass es schließlich die Softwareumgebung der Firma gewesen war, die gehackt worden war. „Keine Sorge, du wirst nur nach möglichen Ursachen für das Leck suchen müssen. Für alles weitere werden bestimmt Einsatzkommandos vor Ort sein“, hatte sie ihn überredet. Weitere Fragen sind ihm erst gar nicht in den Sinn gekommen und so hatte er schweren Herzens die Drohne beordert, die ihn zurück in die Geschwindigkeit des Lebens gebracht hatte.
Corben wurde in das Polster aus Kunstleder gedrückt, als die Kapsel in dem Vorbeschleuniger auf die benötigte Geschwindigkeit für die Lube gebracht wurde. Mithilfe dieser Vorbeschleuniger konnte die Kapsel in die Transportröhren eingespeist werden, ohne den dauerhaften Betrieb zu stören. Entsprechend der zunehmenden Geschwindigkeit in dem Beschleuniger drehte sich der Sessel stets so, dass die Lehne den optimalen Halt gegen die Beschleunigung und die wirkenden Fliehkräfte bot.
„Kannst du mir nicht einmal Schritt für Schritt erklären was jetzt eigentlich Sache ist? Du erzählst von einer Anschlagsdrohung, dann plötzlich von unseren gehackten Servern, springst zu dem Weltraumfahrstuhl in Gabun und dann fängst du wieder ganz wo anders an. Ich kann dir überhaupt nicht folgen!“, unterbrach Corben gereizt seine Chefin.
„Aaalso...“, begann Stacey erneut. Wir liefern die Softwarelandschaft für die größte Solarfarm in Zentralafrika, die vor einigen Jahren mit dem Bau des ersten Weltraumfahrstuhls auf dem Festland begonnen hat.“ „Dem Ziolkowski-Ascenseur“, nickte Corben. Mit einem Ruck verließ die Transportkapsel den Beschleuniger und wurde in die Lube eingespeist. Dort schwebte sie mit doppelter Schallgeschwindigkeit auf einem dünnen Luftfilm dahin. „Dem Ziolkowski-Ascenseur“, nickte auch der Pudel aus dem Mikroprojektor. „Heute soll die große Eröffnung sein und der erste Solarsatellit die Reise ins All antreten. Du weißt schon, diese Satelliten die die Sonnenenergie als Laser herabschießen, um unsere arme Sonne noch mehr auszubeuten.“ „Maser“, berichtigte Corben und überging humorlos den Scherz seiner Chefin. „Wie auch immer. Vor zwei Stunden wurden auf den Screens Ankündigungen eines Anschlags gesendet. Auf den Screens, die mit unserer Software laufen! Die sind noch nie gehackt worden. Und alle Gäste des großen Events, alle zweihunderttausend Gäste, scheinen in Lebensgefahr zu schweben!“, Stacey begann sich in Rage zu reden und Corben musste sie erneut unterbrechen: „Beruhige dich. Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Wenn die es auf die Gäste abgesehen haben, dann würden sie doch nicht vorher Warnungen in alle Richtungen verschicken.“ „Das ist es eben!“, stöhnte Stacey, der Verzweiflung nah, „den Terroristen scheint das Hauptziel die große Bühne zu sein und nicht die Anzahl der Opfer.“ Corben zuckte nur mit den Schultern. Sollten sie doch die Bühne bekommen, wenn dafür die Gäste vorher evakuiert werden konnten. „Unsere Bühne!“, betonte Staceys Avatar. „Es ist unsere Software die geknackt wurde. Und unsere Software wurde noch nie geknackt! Wir sind Schuld daran, dass die Terroristen ihre Bühne bekommen. Wir müssen das verhindern und so schnell wie möglich den Grund für die Sicherheitslücke finden.“ „Aber warum muss ich dafür extra nach Gabun reisen?“, fragte Corben. „Wir suchen schon seit zwei Stunden nach einem Anzeichen, wo sich die Lücke befinden könnte. Wenn wir es von hier lösen könnten, dann hätte ich dich ja nie bei deinem kostbaren Urlaub gestört.“, sagte Stacey sarkastisch. „Der Urlaub ist kostbar. Ich bin einer deiner besten Mitarbeiter, Stacey. Du brauchst mich und ich den Urlaub.“ „Ja doch“, lenkte sie ein, „ich brauche dich und deswegen musste ich dich stören. Wir haben das Problem nicht gefunden; es scheint als würde das Programm direkt von den Servern gesendet werden. Das heißt, dass sich irgendwer dort Zutritt verschafft haben muss. Deswegen brauchen wir dich vor Ort. Wir brauchen dich!“, betonte Stacey. „Das ist alles was ich hören wollte“, gab sich Corben zufrieden, obwohl er eigentlich am liebsten zurück in die Berge wollte, „was kann ich tun?“ „Geh zum Servergebäude und kontrolliere, ob irgendeine Malware eingesteckt wurde.“ „Und das kann keiner von der Solarfarm machen?“ „Nein, die bekommen es noch nicht mal auf die Reihe, mit mir vernünftig über das Problem zu sprechen. Wie gesagt, wir haben Stunden gebraucht, um das Problem zu identifizieren. Es ist ein Wunder, dass die überhaupt ein Projekt wie den Weltraumfahrstuhl fertigstellen konnten. Du musst nur rein, die Malware finden und raus bevor irgendetwas passiert. Hast du deine Tasergun?“ Corben wühlte in seiner Aktentasche und holte die Waffe heraus. Er durfte sie mit sich führen, da er ein Außendienstler einer Sicherheitsfirma war. Die Patronen waren hochkapazative Minikondensatoren die von einer Gummihülle geschützt waren, welche die körperliche Unversehrtheit des Ziels garantieren sollte. Bei dem Aufprall auf einen Körper würde sich die gespeicherte Ladung über eben diesen entladen. Ein Großteil der Muskeln würde sich verkrampfen und das Ziel für einige Zeit effektiv bewegungsunfähig machen, ohne bleibenden Schaden anzurichten.
„Gut“, sprach der animierte Hund, „wie lange bist du noch unterwegs?“ „Eine halbe Stunde noch ungefähr.“ „Okay, dann schicke ich dir jetzt das Drohvideo. Vielleicht kannst du darauf ja irgendwelche Hinweise entdecken.“ Der Pudel verschwand aus seinem Blickfeld und wenig später wurde eine Person eingeblendet, die sich mit einem schwarzen Schal und einer braunen Basecap vermummt hatte. Sie stand vor einer weißen Plane stand und verkündete mit einem dezenten französischen Akzent die Drohbotschaft: „Meine verehrten Damen und Herren. Ich freue mich, sie zu der Eröffnung des Ziolkowski-Ascenseur begrüßen zu dürfen. Machen sie es sich gemütlich und genießen sie die Show. Aber bevor es zu langweilig wird, muss ich sie warnen. In exakt 360 Minuten - in sechs Stunden - macht es BOOM!“, rief die vermummte Gestalt plötzlich aus. „In 360 Minuten wird nicht mehr viel von ihrer Begeisterung übrig sein, die sie zu diesem Event gelockt hat. Ich höre schon das Jammern und Flehen. Aber ich bin ja kein Unmensch. Deshalb wollte ich sie vorab warnen. Halten sie stets unseren Countdown im Blick. Sie haben noch 359 Minuten ...“ Das Video brach ab und ein neues Video begann: „Meine verehrten Damen und Herren.“, die selbe vermummte Gestalt mit der braunen Basecap, auf der ein weißes Schriftzug das Lieblingswort des Redenden verkündete: BOOM! „Wie ich feststellen durfte, ist der Andrang für das heutige Event besonders groß. Kommen sie näher und bewundern sie den ersten Weltraumfahrstuhl, der jemals auf Festland gebaut wurde! Kommen sie näher, noch näher und sie werden ihr blaues Wunder erleben, wenn 'BOOM!'“, rief der vermummte Terrorist erneut aus, „sich alles im Umkreis des Fahrstuhls in Luft auflöst. BOOM!“ Der Terrorist verlor sich in bösartigem Lachen, wie man es sonst nur aus alten Actionfilmen mit überzeichneten Bösewichten kannte. Da er bisher stets sehr melodisch gesprochen hatte, war sich Corben erst jetzt sicher, dass die Stimme zu einem Mann gehörte. „Warum ich Ihnen das sage, fragen sie sich? Sie könnten weglaufen und sich in Sicherheit bringen? Sie werden nicht weglaufen, dass sage ich Ihnen. Sie wollen dabei sein, wenn etwas passiert das in aller Munde sein wird. Sie glauben mir nicht, sie glauben an eine leere Drohung. Wann hat das letzte Mal ein Terroranschlag die Welt erschüttert, wann konnte er das letzte Mal nicht verhindert werden? Vertrauen sie darauf. Und ich vertraue auf: BOOM!“ Erneut Lachen, bis auch dies Video zu Ende ging. Corben hatte sich diesmal mehr auf die Details im Video konzentriert. Im Gegensatz zu den mittlerweile üblichen 120° Kameras, bei denen sich der Zuschauer in dem Aufnahmebereich mit dem Mikroprojektor umschauen konnte, wurde die Drohnachricht offensichtlich nur mit einer 90° Kamera aufgezeichnet und bot daher nur einen limitierten Einblick. Der komplette Hintergrund war von einer weißen Plane verdeckt, die jedoch leicht vibrierte, als würde das Video im Freien aufgezeichnet werden. Der einzige weitere Hinweis war der Schriftzug auf der Basecap, aber Corben konnte es nicht zuordnen und auch bei seiner Recherche im Internet stieß er nicht auf ein übereinstimmendes Symbol, dass ansatzweise zu der Verübung eines Terroranschlags passen würde. Corben schaute sich die Videos erneut an und wurde zunehmend unruhiger. Ihm wurde klar, dass die Attentäter entweder verdammt dumm waren, nur Angst machen wollten und gar nichts vorbereitet hatten, oder aber sie hatten recht. Der letzte erfolgreiche Terrorakt lag schon einige Dekaden zurück. Die Kriegsführung hatte sich ausschließlich auf die digitale Welt reduziert und beschränkte sich auf das Stehlen oder Zerstören von wichtigen Daten. Das Leben der Zivilbevölkerung ist damit zunehmend aus der Schusslinie geraten. Keiner hatte mehr etwas davon, Zivilisten in Gefahr zu bringen, wenn man auch digital gezielt die Einrichtungen angreifen konnte, die einem ein Dorn im Auge waren. Digital angerichteter Schaden war für diese meist schmerzhafter. Der Nachteil war aber, dass die Angst vor Terrorakten in der Zivilbevölkerung deutlich zurückgegangen war. Die Einsatzkommandos hatten die wenigen und meist unprofessionell vorbereiteten Anschläge vereiteln können. Doch dieses mal war es anders. Es konnten keine Amateure am Werk sein, egal wie unglaubwürdig die Person in der Videobotschaft auch sein mochte, denn sie hatten die Softwaresicherheit geknackt. Und zwar so, dass Stacey mit ihren Mitarbeitern nicht einmal das Problem ausfindig machen konnten. Die Terroristen mussten sich so tief in die Softwarelandschaft eingehackt haben, dass es so wirkte als hätte die Solarfarm selbst die Videos gesendet. Sie waren bis an die Wurzel der Serverstruktur gelangt. Hatten sie sich also wirklich Zugang zu den Serverräumen verschafft oder gab es doch eine Lücke in dem Sicherheitssystem? Nein, Amateure konnten nicht am Werk sein, das war sicher. Doch das Problem war, dass keiner der Besucher des Events darüber Bescheid wissen konnte. Und das konnte die schlimmstmöglichen Folgen haben ...
„Scheiße, scheiße, scheiße, scheiße!“, fluchte Corben vor sich hin. Er war von einer Mitarbeiterin der Solarfarm von der LTS abgeholt worden und direkt in die Serverräume gebracht worden, doch egal wie konzentriert er die kleinen Serverkästen absuchte - er konnte nichts finden. Derweil wurden zwei weitere Videobotschaften über die riesigen Screens ausgestrahlt, in denen die vermummte Gestalt erneut den Countdown erwähnte und vor dem „BOOM!“ warnte, wie er nicht müde wurde zu betonen, während er dabei überzeichnet böse kicherte. Jetzt stand er am Rande des Geländes, das den Weltraumfahrstuhl umrahmte und mit einer großen Anzahl von Ständen und Attraktionen bestückt war, zwischen denen sich mehr als hunderttausend Menschen drängten. Im Zentrum stand das gläserne Hochhaus, indem sich die Basis des Fahrstuhls befand. Es war nicht sonderlich hoch, vielleicht fünfzig oder sechzig Stockwerke und an der Spitze schienen immer noch Bauarbeiten stattzufinden. Die Fahrstuhlseile, welche aus chiral verschlungenen „Nano carbon tubes“ bestanden, konnte man nicht erkennen, da sie an der Erdoberfläche für das menschliche Auge zu schmal waren, um sie auf diese Distanz auszumachen. An dem geostationären Satelliten, welcher das Ende des Weltraumfahrstuhls darstellte, hatten die Seile dann einen Durchmesser von einigen Metern, um die Stabilität zu gewährleisten. Der Satellit der heute ins All gezogen werden sollte würde sich wohl im Inneren des Glasbaus befinden, dort an den Führungsseilen befestigt werden, bis er schließlich aus dem Dach und durch die Erdatmosphäre zu seinem 36000 km entfernten Zielort gezogen würde. An den Seiten des Hochhauses waren die riesigen Screens befestigt, die von Terroristen gehackt worden waren, um die Drohbotschaften auszusenden. Die Drohbotschaften, die jedoch keiner der Gäste ernst zu nehmen schien.
„Scheiße!“, entfuhr es Corben noch einmal, als er sich der Aussichtslosigkeit seiner Situation bewusst wurde. Weder er noch Stacey hatten einen Weg gefunden, um die unerlaubte Benutzung der Screens zu unterbinden. „Wo bleibt denn das verfluchte Einsatzkommando? Warum passiert hier nichts?!“, schrie Corben, jetzt wutentbrannt, seine Begleiterin an. Francine war eine junge, dunkelhäutige Schönheit, die nach ihrer Schulzeit angefangen hatte als Dolmetscherin und Koordinatorin für die Solarfarm zu arbeiten. Ihre grüne Uniform war so angepasst, dass sich ihre schlanke Figur darunter erahnen ließ und ihre kurzen Shorts bedeckten nur wenige Zentimeter ihre langen, muskulösen Beine. Mit ihrem Äußeren, insbesondere den sich abzeichnenden Kurven ihres Gesäßes, vermochte sie bestimmt eine Vielzahl Männer aus der Fassung bringen, doch Corben hatte für derlei Ablenkungen keine Nerven. Er hatte Francine in der kurzen Zeit der Zusammenarbeit wegen ihrer Professionalität zu schätzen gelernt. Die gut gesicherten Serverräume hatten sie ohne Umschweife erreichen können und jetzt organisierte sie ein Kamerateam, dass eine Botschaft von Corben über die Screens abspielen sollte, um die Gäste von dem Ernst der Lage zu überzeugen. Wenn das Einsatzkommando nicht rechtzeitig zur Evakuierung eintreffen würde, mussten sie es halt in die Hand nehmen. „Mister Corben,“ sprach sie im ruhigen Ton zu ihm, „die Einsatzkräfte werden bestimmt bald auftauchen und dann hat der Irrsinn hier ein Ende. Jetzt ist es erst einmal wichtig, dass sie die ...“, sie zögerte, „... die Dramatik der Situation für alle Anwesenden begreifbar machen.“
Corben versuchte sich von ihren beruhigenden Worten und ihrem sanften Lächeln anstecken zu lassen, aber er gewann zunehmend das Gefühl, dass er der einzige war, der den Ernst der Situation überhaupt begriff. Tat er das? Begriff er die Gefahr, die von einer Gruppe professioneller Terroristen ausgehen konnte, die sogar ihr Sicherheitssystem ohne ein Zeichen von eingesteckter Malware geknackt hatten? „Wenn Sie soweit sind, Mister Corben“, sprach sie erneut zu ihm und deutete mit einem Kopfnicken auf die Kamera. Corben atmete tief durch und nickte.
„Liebe Besucher und Besucherinnen,“, versuchte er ruhig zu beginnen, „bitte hören sie mir zu! Mein Name ist Corben Thomsen und ich arbeite für die Sicherheitsfirma Secure Softtec. Es ist wichtig, dass sie mir jetzt glauben, wenn ich Ihnen sage, dass sie alle in Gefahr sind. Wir haben es hier mit einer ernstzunehmenden Drohung zu tun. Es handelt sich um professionelle Terroristen! Das Einsatzkommando wird bald da sein, aber es ist von unbedingter Wichtigkeit, dass sie nun alle ruhig und friedlich das Gelände verlassen! Wir werden alles tun, um Ihre Sicherheit zu gewährleisten, aber genau deswegen müssen Sie jetzt umgehend meiner Bitte folgen. Wir wissen nicht was genau geplant ist, aber die Äußerungen des Terroristen“, Corben spie diese Bezeichnung förmlich aus, „lassen auf einen Sprengstoffattentat auf diesem Gelände schließen. Geraten sie nicht in Panik. Verlassen sie zügig das Gelände.“ Corben verstummte, ihm fiel nichts ein, dass er noch zur Unterstreichung der Brenzligkeit der Situation sagen könnte. Francine nickte und der Kameramann stoppte die Aufnahme. „Es wird gleich direkt gesendet, wir brauchen nur noch ihr Einverständnis, dass wir ihr Aussehen unverfälscht senden dürfen.“, klärte Francine ihn auf und Corben wäre fast explodiert, wenn er nicht in ihre Fähigkeiten vertraut hätte. Sie hielt ihm ein Tablet hin und Corben unterzeichnete indem er den ID-Chip in seinen Handrücken gegen den Scanner hielt und im Anschluss seine PIN eingab. „Verfluchte Bürokratie!“, schimpfte er. Etwas milder fragte er: „Gibt es etwas Neues von dem Einsatzkommando?“ „Ich habe gerade die Nachricht erhalten, dass sie in der Nähe des Geländes stehen und die Ermittlungen fortgeschritten sind.“ „Achja? Was haben die Ermittlungen ergeben? Wer ist der oder wer sind die Terroristen?“, Corben war klar, dass es sich nur um eine Gruppe von Spezialisten handeln konnte, „Was ist geplant? Wie wird der Anschlag gestoppt?“. Francine lächelte wieder: „Mister Corben, bitte verstehen Sie, dass die Ergebnisse der Ermittlungen nicht geteilt werden können. Auch nicht mit einem so erfahrenen Sicherheitsmitarbeiter, wie Ihnen. Ich bedaure das zutiefst.“, sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und blickte ihn aus ihren dunklen Augen an: „Wir bekommen das hin. Es wird alles gut und die Eröffnung wird ein Erfolg.“ Corben wollte es ihr glauben, aber sein verkrampfter Magen zeugte von seinen Zweifeln.
Wenig später flimmerte seine Botschaft über die Screens und Corben stellte zufrieden fest, dass sich Unruhe unter der Menschenmasse breit machte. Einige schoben sich auf dem Weg zum Ausgang, während die meisten Gäste noch unschlüssig verharrten. Seine Botschaft wurde in Dauerschleife gesendet, während der Countdown der Terroristen weiterhin über seinem erhitzten Gesichtsausdruck eingeblendet wurde: 00:47:23
Noch eine dreiviertel Stunde und von den Einsatzkräften keine Spur. Er tippte auf den Chip des Mikroprojektors über seinem Auge und sprach: „Anruf Stacey“. Er hatte einige Anrufe in Abwesenheit von ihr, aber hatte sie ignoriert. Das Gerät wählte und wenig später erschien Staceys alberner, animierter Pudel in seinem Blickfeld: „Corben, was passiert da bei euch?“
„Nicht viel, wir senden jetzt selbst über den Screen und ...“ „Corben!“, unterbrach ihn Stacey, „wir haben das Einsatzkommando kontaktiert, um Informationen auszutauschen.“ „Lass mich raten. Sie wollen den Stand der Ermittlung nicht teilen?“ „Wenn es doch nur so wäre“, Staceys Stimme klang verzweifelt. „Corben hör mir zu“, sagte sie eindringlich, „bei dem Einsatzkommando ist keine Terrordrohung eingegangen. Die wissen da gar nichts von der Drohung. Die wissen nichts von der Gefahr! Ich habe sie vor zwei Minuten erst darauf aufmerksam gemacht, sie werden es nicht mehr rechtzeitig zu euch schaffen! Du musst den Platz da räumen!“ Corbens Herz rutschte in die Hose und er spürte den kalten, nassen Schweiß auf seinen Handflächen: „Das kann nicht sein ich habe gerade mit ...“, er brach ab. Francine! Sie hatte ihn zum Narren gehalten! Corben griff an sein Holster, zog seine Tasergun und wendete sich Francine zu, die gerade in das Funkgerät an ihrem Handgelenk sprach. Der Chip an Corbens Auge merkte, dass er sich auf ein Objekt in seiner Umgebung fokussierte und blendete den Pudel aus. Corben konnte noch Staceys aufgebrachte Stimme hören, doch seine Konzentration galt voll und ganz seiner schönen Begleiterin. Der Verräterin. Sie musste gemerkt haben, dass er auf sie zu kommt und wandte sich ihm zu. Als sie die Waffe in seiner Hand erblickte, erkaltete das Lächeln in ihrem Blick und wich der Angst. „Wo sind sie?! Was ist der Plan?!“, schrie er sie an und zielte mit der Tasergun auf ihr zartes Gesicht. „Ich weiß nicht ...“, stammelte sie verunsichert, „was meinen Sie?“ „Ich weiß, dass sie da mit drin stecken!“ Er packte sie unsanft an der Schulter und schüttelte sie, „Das Theaterstück ist vorbei! Es sind keine Einsatzkräfte unterwegs! Sie stecken mit denen unter einer Decke!“. Er ließ sie kaum zu Wort kommen, zu stark war die Wut, die aus ihm herausbrach. Die ganze Furcht, die sich in den vergangenen Stunden in ihm aufgebaut hatte, entlud sich nun. Natürlich hatte er keine eingesteckte Malware finden können, wenn die Botschaft von einer Mitarbeiterin der Solarfarm abgespielt wurde. Es blieb im nur eine Frage zu stellen: „Wo sind sie?“, fragte er, nun zwar leiser, aber dafür umso bedrohlicher. Als sie nicht antwortete presste er den Lauf der Tasergun auf ihre Stirn, packte sie roh an der Schulter und wiederholte die Frage: „Wo sind sie?“. Forschend blickte er ihr in die Augen. Das Kamerateam war zurückgewichen und schien unschlüssig. In Francines dunkelhäutigem Gesicht spiegelte sich Angst und Verwirrung wieder. Als sie die Ausweglosigkeit ihrer Lage erkannte, lenkte sie schließlich ein: „Die Videos kommen direkt von der Startrampe, aber hören sie ...“ Corben hatte keine Zeit zum Zuhören. Grob stieß er die Verräterin zur Seite und legte den Handrücken mit dem implantierten ID-Chip an seine Wade, in welcher der Kontrollchip für die Akzeleratoren angebracht war. Dies waren Muskelbeschleuniger, die in die Wade implantiert waren, die Anspannung der Beinmuskulatur erkannten und sie - mithilfe einer kleinen hydraulischen Vorrichtung an den Beinen - mechanisch verstärkten. So war Corben bereits nach den ersten kraftvollen Schritten außer Hörweite von Francine, die ihn mit lauten Rufen zum Abwarten bewegen wollte.
Abwarten ist keine Option, dass war Corben klar. Die Terroristen befanden sich an der Startrampe, oben auf dem Dach des Hochhauses, welches die Technik für den Weltraumfahrstuhl barg. Er war sich nicht ganz sicher, warum er darauf verzichtet hatte, Francine mit einem Schuss aus der Tasergun für eine Stunde außer Gefecht zu setzen. Sein Fokus galt allein den Terroristen, die er noch vor sich hatte. Mit einem Sprung landete er auf der ersten hölzernen Hütte, die am Rand des Festgeländes aufgebaut war. Von dort versuchte er einen Weg über die Dächer der Verkaufsstände zum Hochhaus zu finden, bei dem er nicht durch die dicht gedrängte Menschenmasse laufen musste. Die Akzeleratoren erhöhten die Schnellkraft seiner Beinmuskulatur um 200%, sodass er bis zu zehn Meter weit springen konnte ohne seinen Lauf zu unterbrechen. Doch Corben war nicht mehr der Jüngste. Er blieb an der Dachkante eines der kleinen hölzernen Stände hängen und knallte mit dem Oberkörper auf das schmale Dach. Bei seiner Geschwindigkeit konnte er sich nicht oben halten, sodass er zwischen den Menschen, die sich zum Teil den Weg zum Ausgang der Feierlichkeiten bahnten, auf den Boden prallte. Mühsam rappelte er sich auf und schob sich durch die drängelnden Menschen, bis er genug Platz hatte, um erneut auf einen Verkaufsstand zu springen und seinen Weg fortzusetzen.
Er hörte das Raunen einiger Zuschauer und einige Rufe, doch er hatte keine Zeit und keine Energie, um sich mit den Menschen zu beschäftigen, die Opfer des ersten Terroranschlags seit über dreißig Jahren wurden, wenn er nicht bald zu dem Hochhaus kam. Immer weiter und immer schneller. Corben spürte, wie die Akzeleratoren ächzten. Sie waren nun schon einige Zeit nicht mehr im Einsatz gewesen. Bei seinem Sturz hatte er sich eine Platzwunde auf der Stirn zugezogen. Blut lief über den Mikroprojektor und in sein Auge. Ein Blick auf den Countdown, der unbeeindruckt auf den großen Screens weiter tickte und Corben verhöhnte. Noch eine Viertelstunde. Fast war er am Hochhaus. Er hörte, wie die Dauerschleife seiner Warnung unterbrochen wurde und der Terrorist mit der Basecap eine neue Drohbotschaft verkündete, gespickt von mehreren „BOOM!“-Ausrufen. Auch Bilder von seinem Sprint über die Dächer wurden eingespielt. Sie machten sich über ihn lustig. All das nahm Corben nur aus den Augenwinkeln war. Mit einem weiten Sprung stieß er sich von dem letzten Dach ab und landete wenige Meter vor dem Eingang des Hochhauses. Natürlich gab es Sicherheitsvorkehrungen. Zwei Sicherheitsmänner liefen grade aus dem Eingang heraus, um ihn in Empfang zu nehmen, doch anstatt auf deren Rufe einzugehen, setzte Corben die beiden mit zwei gezielten Schüssen aus der Tasergun außer Gefecht. Die Ladung in den Gummipatronen entlud sich an den Körpern. Stöhnend sanken sie zu Boden, als sich die Muskeln verkrampften und ihre Rufe erstickten. Die Eingangstür schloss sich langsam. Schneller! In letzter Sekunde schaffte er es noch hindurch zu schlüpfen, bevor sie hinter ihm zufiel.
Im Inneren schien noch niemand auf seine Ankunft vorbereitet und die Blicke wandten sich ihm irritiert zu. Der Fahrstuhl war keine Option. Corben ignorierte die Schmerzen in Beinen und Stirn und rannte zu dem Treppenhaus. Er konnte es noch schaffen. Immer fünf Stufen auf einmal nehmend bewältigte er Stockwerk um Stockwerk. „Warum muss dieses verdammte Ding so hoch sein?“, wollte er ausrufen, doch seine Energie reichte nur für ein wütendes Grummeln. Wie viel Zeit blieb ihm noch? Was würde er machen, wenn er auf die Attentäter traf? Er musste sie alle ausschalten. Und dann? Hatten sie eine Bombe gebaut? Was konnte er tun?
Stockwerk 24 stand mit gelber Farbe an der Betonwand des Hochhauses. Irgendwo unter ihm wurde eine Tür aufgestoßen und „Haalt!“ gerufen. Corben würde nicht anhalten. In Stockwerk 32 stellte sich ein breitschultriger Sicherheitsmann mit erhobenen Händen vor ihn. Auch seine Worte drangen nicht zu Corben durch, stattdessen räumte er auch diesen mit einem Schuss aus dem Weg. In einer Stunde würde der Mann wieder auf den Beinen sein.
Stockwerk 43. Er konnte es schaffen. Stockwerk 44. Dann gaben die Akzeleratoren auf. Sie liefen mit einem Akku, der sich selbstständig wieder auflud, doch darauf konnte Corben nicht warten. Seine Sprungweite reduzierte sich rapide. Nur noch zwei Stufen auf einmal. Adrenalin wurde durch seinen Körper gepumpt. Er wischte sich das Blut aus den Augen. Stockwerk 47. Ich kann nicht mehr. Stufe um Stufe manifestierte sich dieser Gedanke in seinem Kopf. Ich schaff es nicht. Aber er rannte weiter. Stockwerk 49. Noch zehn Stockwerke. Ich kann es nicht schaffen. Noch neun. Ein eingehender Anruf von Stacey wurde ihm eingeblendet. „Ignorieren“, keuchte er und der Mikroprojektor lehnte den Anruf ab. Er dachte an Francine. Die Wut trieb ihn weiter an.
Dann sah er das Ende der Treppe vor sich. Er warf sich gegen die Tür und stand in der Baustelle. In einigen Metern Entfernung ragten die dünnen Fahrstuhlseile in den Himmel. Vor ihm standen drei Männer, allesamt bewaffnet mit Taserguns. „Corben, bleib stehen“, sagte einer mit ruhiger Stimme. Sie hatten ihn. Im Hintergrund sah er die weiße Plane wehen und die vermummte Person aus den Drohvideos vor der Kamera stehen. Er war geschlagen. Die Person vor der Kamera nahm den schwarzen Schal ab, mit dem er sein Gesicht bedeckt hatte. Corben hörte den Ruf: „BOOM!“
Das Klicken seines Akzeleratoren signalisierte, dass wieder genügend Energie zur Verfügung stand. Die Akzeleratoren! Er stieß sich von dem Boden ab. Die drei Männer feuerten gleichzeitig. Er riss die Waffe hoch und feuerte in die Richtung des Terroristen an der Kamera. Er spürte den Aufprall eines Gummigeschosses an seiner Hüfte. Die Entladung war heftig. Die Luft knisterte als das nächste Geschoss ihn traf. Arme und Beine verkrampften sich. Ein Schmerzensschrei blieb in seiner Kehle stecken. Er konnte seinen Sprung nicht abfangen und krachte mit dem Gesicht voraus auf die Fliesen. Es war vorbei.
Unter einem Schleier von Blut sah er wie unzählige kleine Raketen in den Himmel geschossen wurden. Sie explodierten in einigen hundert Metern Höhe in bunten Farben. Zurück blieben nur kleine weiße Fallschirme. Sie segelten mit ihrer Fracht behutsam dem Festivalgelände entgegen. Sie trugen Dosen. Getränkedosen mit der Aufschrift „BOOM!“.
Die Sicherheitsmänner halfen ihm auf die Beine. Er konnte noch nicht sprechen, zu stark verkrampften seine Muskeln in Hals und Zunge. Einige Minuten später kam Francine zu ihm. Die dunkelhäutige Schönheit. Die Verräterin? Corben war verwirrt. Sanft wischte sie ihm mit einem feuchten Lappen das Blut von Stirn und Auge. Im Hintergrund stand ein Kameramann und filmte. Noch Wochen später würde sich Corben in zahlreichen Videos in den sozialen Medien sehen. Allein durch seinen Einsatz wurde die PR-Aktion von den „BOOM!“-Energydrinks, Hauptsponsor des Ziolkowski-Ascenseurs, zu einem gefeierten Erfolg.