Tenebrae
Der junge Mann tastete sich an der kalten Wand entlang. Unbarmherzige Dunkelheit umgab ihn, sodass er seine eigenen Hände nicht mehr zu sehen vermochte. Furcht begleitete ihn mit jedem Schritt. Langsam ging er weiter, immer tiefer hinein, in die nicht enden wollende Finsternis.
Dann hörte er etwas. Ein Geräusch. Wie das Kratzen kleiner Pfoten auf nassem, kaltem Stein. Dann ein Fiepen, so grässlich und grell, dass er es kaum ertragen konnte. Zitternd hielt er inne, als etwas kleines, warmes gegen sein Bein stieß. Etwas zerrte an seiner Jeans. Er versuchte es abzuschütteln, als es erneut zu fiepen begann. Das Herz des jungen Mannes schlug so schnell wie niemals zuvor in seinem Leben. Eine solche Furcht hatte er bisher nicht einmal gekannt. Er setzte seine Schritte fort. Langsam und vorsichtig.
Der Ort, an dem er sich befand, schien ein Tunnel zu sein und weder auf der einen, noch auf der anderen Seite war auch nur eine Spur von Licht zu erkennen. Er ging einfach weiter. Die Luft war eisig und es fiel ihm schwer zu atmen. Wie nur war er hierher gelangt? Er erinnerte sich nicht.
Plötzlich war das Kratzen verstummt. Es herrschte erbarmungslose Stille. Alles was der Mann hörte waren seine eigenen Atemzüge. Sein Herz wie es so heftig pochte, als wolle es aus seiner Brust springen. Wie lange war er jetzt schon unterwegs? Was für einen Sinn hatte es, seinen Weg fortzusetzen? Diese ewige Finsternis. Diese kalten Wände überall um ihn herum. Keinen Ausweg. Wie nur konnte er diesem grausigen Schicksal entfliehen? Was nur konnte er tun? Er würde alles dafür geben. Einfach alles.
»Einfach alles, hm?!« donnerte auf einmal eine Stimme hinter ihm. Der Mann erschrak so heftig, dass er zu Boden fiel.
»Bist du dir sicher?« Er kauerte sich zusammen, kniff die Augen zu Schlitzen und versuchte verzweifelt etwas zu erkennen. Doch die Dunkelheit war nicht zu durchbrechen. Seine Augen zu schwach. Dann wieder diese grausame Stimme, diesmal direkt neben seinem Ohr. Zunächst nur ein Flüstern: »Ich – kann – dich – SEHEN!« Das letzte Wort schlug ihm förmlich ins Gesicht und hallte an den Wänden wider.
Der Mann zuckte erneut zusammen. Ein furchtbares, röchelndes Lachen drang durch den Tunnel.
»Oh du bemitleidenswertes Geschöpf. Zusammengekauert auf dem dreckigen Boden, stinkend vor Angst! Wie ich doch die Menschen hasse. So schwach. Versuchst dich zu verstecken, hm? Kriechst herum, schutzsuchend. Doch hier gibt es keinen Schutz vor der DUNKELHEIT!«
Der Mann zitterte noch heftiger als zuvor. Eine Träne rann über seine Wange und gefror zu Eis. Seine Zähne klapperten heftig vor Kälte und vor Furcht und er schloss die Augen. Vielleicht war es nur ein Traum. Vielleicht würde er jeden Moment aufwachen und all das Grauen war nur noch eine schwindende Erinnerung. Doch er erwachte nicht. So sehr er sich konzentrierte, so sehr er sich anstrengte es half nichts.
»Nein, nein. Dies ist kein Traum. Hm.. ich könnte es dir beweisen. Schmerzen reißen einen Menschen aus dem Schlaf, nicht wahr?« sagte die Stimme mit einem Anflug von Häme. Der Mann rührte sich nicht. Er lag nur noch dort, pumpte die eisige Luft durch seine Lungen und klapperte mit den Zähnen. Seine Haut schmerzte von der Kälte und seine Adern pochten. Allmählich wurde ihm die Aussichtslosigkeit seiner Situation bewusst und seine Furcht wich einer seltsamen Ruhe. Sein Puls begann zu sinken, seine Atmung wurde langsamer. Die Kälte fing an von ihm Besitz zu ergreifen. Er war gefangen, in einer ihn umschließenden Dunkelheit. Und es gab keine Möglichkeit dem zu entfliehen.
»Doch, mein Lieber. Es gibt eine Möglichkeit.« flüsterte die Stimme. »Natürlich gibt es die. Was hätte es für einen Sinn dich hier unten verrotten zu lassen. Steh auf!«
Der Mann tat wie ihm geheißen. Er wollte es nicht, doch er konnte nicht dagegen ankämpfen. Er tastete hinter sich an den kalten, feuchten Wänden und zog sich daran hoch. Jetzt wo er sich aufgerichtet hatte begann er wieder zu zittern. Er blickte sich verzweifelt um. Kniff die Augen zusammen und versuchte etwas zu erkennen. Doch seine menschlichen Sinne erlaubten es ihm nicht. Er schlotterte. Seine Beine drohten jeden Moment wieder einzuknicken.
»Wunderbar!« sagte die Stimme höflich.
»Dann können wir ja beginnen! Ich werde ein Licht entzünden, welches das Dunkel vertreibt, damit du sehen kannst was geschieht. Ich tue das ungern, da mir die Dunkelheit sehr beliebt, das ist reine Höflichkeit. Ich hoffe du weißt das zu schätzen.«
Er hörte das Kratzen eines Streichholzes auf rauem Untergrund und dann das unverwechselbare Geräusch seines Entfachens.
Eine kleine Flamme schwebte nun in der Luft und in dessen Hintergrund erkannte der Mann die schwachen Umrisse einer menschlichen Gestalt. Oder war sie doch nicht so menschlich? Vielleicht wünschte er sich einfach nur, dass sie eines Menschen ähnlich war. Die Flamme tanzte weiterhin vor seinem Gesicht herum, bis sie eine weiße Kerze mit Licht bedeckte und diese entfachte. Zwei weitere Kerzen wurden entzündet und das Streichholz erlosch. Nun wurde der Tunnel ausreichend beleuchtet, so dass der Mann erkennen konnte was vor ihm lag. Ein kleiner, hölzerner Tisch, auf dem ein Kronleuchter stand, von dem das Licht ausging; und dahinter, eine schwarze, schattenhafte Gestalt auf einem thronähnlichen Sitz mit einem Weinglas in der Hand, gefüllt mit einer blutroten Flüssigkeit. Der Großteil des Gesichts war unter einer großen Kapuze verborgen, doch in den Schatten waren die Umrisse eines spitzen Kinns zu erkennen. Die Gestalt schwenkte das Glas ein paar mal in der Hand und hielt es schließlich dem Mann hin.
»Versuche den Wein, Mensch! Er ist vortrefflich.«
Der Mann bewegte sich nicht von der Stelle. Voller Furcht starrte er die Gestalt auf dem Stuhl vor ihm an. Wie war das alles möglich, und wo zum Teufel war er?
»Mach dir nicht so viele Gedanken.« Unter der Kapuze war nun ein Lächeln zu erkennen.
»Setz dich doch, du bist sicher erschöpft, so lange wie du nun schon hier unter herumirrst.«
Sie wies ruhig mit der linken Hand auf den Stuhl der ihm gegenüber auf der anderen Seite des Tisches stand.
»Bitte.«
Erneut tat der Mann wie ihm geheißen, ohne dass er es eigentlich wollte. Irgendeine Kraft schien ihn zu leiten, eine, gegen jene er wehrlos war. Er setzte sich. Sein Blick verlor sich in den tanzenden Flammen der Kerzen vor ihm.
»Also, Mensch. Dass du dich fürchtest steht ja außer Frage, aber weißt du auch warum du hier bist? Hast du auch nur die Spur einer Ahnung, warum ich dich auserwählt habe?.« Als die Gestalt den Kopf nach oben neigte gab die Kapuze die Sicht auf ein grässliches Gesicht frei. Es war noch immer schlecht zu erkennen im fahlen Kerzenschein, doch es schien von Narben übersäht. Dort wo eine Nase hätte sein sollen klaffte lediglich ein dunkles Loch und die Augen – diese Augen! Genauso stellte sich der Mann den Anblick eines schwarzen Loches in den weiten des Universums vor. Verwoben mit dem Gefühl von Hoffnungslosigkeit. Und Verderbnis. Die dunklen Augen der Gestalt weiteten sich während er sprach.
»Weil du etwas in dir hast! Etwas, dass du dir nicht erklären kannst. Du spürst es. Jeden Abend wenn du von der Arbeit kommst, jede Nacht wenn du dich im Schlaf windest. Du weißt genau was ich meine, nicht war?«
Die Hand der Gestalt drückte das Weinglas in ihrer Hand so sehr, dass es einen Sprung bekam. Der Mann zeigte keine Reaktion. Er war verloren in diesen grässlichen Augen und gleichsam wusste er nicht im Geringsten was die Worte der Gestalt zu bedeuten hatten.
»Du weißt es doch, was nutzt es das zu leugnen!« Sie wurde lauter, schlug mit der Hand auf den Tisch. Dann hielt sie inne. Der Mann glaubte ein Stirnrunzeln bei ihr wahrzunehmen, kurz darauf wich sie zurück.
»Warte. Du weißt es gar nicht? Du hast keine Ahnung wovon ich rede?«
Die Gestalt bewegte sich nicht. Der Mann hatte das Gefühl sie wäre erstarrt, nichts rührte sich. Alles blieb still. Es kam ihm vor wie eine halbe Ewigkeit bis sie sich auf einmal wieder fing und ihre Mundwinkel sich zu einem hämischen Lachen verzogen.
»Du enttäuschst mich immer mehr! Aber sei’s drum. Ich werde dir ein guter Lehrer sein. Ich werde dich vereinen mit deinem alten Selbst. Den Geist des Blutrünstigsten aller Zeiten entfesseln. Befreien aus dem Bewusstsein der schwächsten aller Rassen, auf das er emporsteigen wird um die Welt in Finsternis zu hüllen! Erhört mich Herr! Bringt Leid auf Erden und zu ihren minderwertigen Geschöpfen!«
Er stellte ein zweites Weinglas mit blutrotem Inhalt vor dem zitternden Mann auf den Tisch und nahm einen tiefen Schluck aus seinem eigenen. Nun wirkte die Gestalt beinahe berauscht als sie ihm erneut das Glas entgegen streckte und lachte.
»Ihr müsst ihn versuchen!«
Da war wieder diese Kraft. Der Mann konnte sie nicht definieren, kannte nicht ihren Ursprung. Es war als würde jemand aus den tiefen seines eigenen Bewusstseins für ihn das Denken übernehmen. Er spürte zusehends, dass er nicht mehr er selbst war. Da war etwas in seinem Kopf. Etwas, das entfesselt werden wollte, etwas Fremdes, über Jahre eingesperrt in den Tiefen seiner Seele und jetzt danach lechzend dem zu entfliehen. Er wusste nicht was er tat als er nach dem Weinglas griff und es zu seinem Mund führte. Er wusste, dass es falsch war. Er wusste, dass er das nicht tun durfte, dass es sein Ende bedeuten würde- und im selben Moment hielt er inne. Seine Sinne waren wieder klar, die gespenstige Präsenz in seinem Kopf verschwunden. Hatte sein Bewusstsein so rasch wieder die Kontrolle übernommen? Er sah in das Glas vor ihm und starrte die dunkelrote Flüssigkeit an. Nun wirkte sie auf eine irritierende Weise wunderschön. Nahezu anziehend.
Er hob das Glas. Der kalte Rand berührte seine Lippen und wenig später ergoss sich die lauwarme Flüssigkeit in seinen Rachen. Der Mann erschrak. Warm? Erneut erfasste ihn das Grauen. Was er da seine Kehle hinunter goss und was nach und nach seinen Magen füllte war unverkennbar nur eines: Blut.
Die Gestalt jenseits des Tisches lies ein leises, röchelndes Lachen vernehmen.
»Hat es geschmeckt? Du wirst mir noch dankbar sein, Mensch! Dein Leben wird nie mehr so sinnlos sein wie bisher. Menschen, die nur Leben um sich zu vermehren und damit ihre unbegründete und verkommene Existenz zu sichern, bis sie irgendwann sterben. Ihr vermehrt euch wie ein Virus, welches die Erde befallen hat. Doch nun bist du keiner mehr davon. Du bist der Wirt für den größten aller Vampire, durch dich kann er zurückkehren! Und vom heutigen Tage an sei dir gewiss, dass du niemals mehr sterben musst!«
Er lachte nun lauter.
»Verflucht seihst du für alle Ewigkeit! Dienen sollst du für alle Ewigkeit!«
Sein grausames Gelächter schallte von den Wänden wider und umgab den Mann so erbarmungslos wie vorher noch die Dunkelheit. Dann spürte er wie etwas Spitzes vom Innern seines Mundes gegen seinen Gaumen drückte, und wie dieser Druck immer weiter zunahm. Er fühlte mit den Fingern über seinen Kiefer und erkannte voller Entsetzten, dass es sein eigener Zahn war. Seine Eckzähne wuchsen und wurden spitzer, so wie die eines Raubtieres. Die Gestalt am anderen Ende des Tisches verblasste langsam und das Gelächter wurde leiser und leiser.
Der Mann war mittlerweile völlig in Panik, sprang auf und stieß den Stuhl beiseite, währenddessen er immer noch fassungslos mit den Fingern über seine Zähne strich. Plötzlich begannen seine Augen zu schmerzen, als stäche jemand mit einer Nadel hinein. Tränen schossen über sein Gesicht und er vernahm deren salzigen Geschmack. Um ihn herum verschwamm alles in wässrigen Bildern und er hielt sich vor Schmerzen gekrümmt an der glitschigen Wand fest. Ihn überkam eine unbeschreibliche Übelkeit, und er schnappte verzweifelt nach Luft, mit dem Gefühl jemand drücke seine Lunge mit großer Kraft zusammen. In seinem Magen kochte es und der Schweiß rann überall über seinen Körper. Seine Augen hatte er zugekniffen, doch der Schmerz wollte nicht nachlassen. Er blutete stark aus dem Mund, da seine rasiermesserscharfen Eckzähne seine Wangen aufgeschlitzt hatten. Sein Magen zog sich erneut heftig zusammen und er erbrach eine blutrote Pfütze über seine eigenen Füße. Keuchend und japsend stand er da und entleerte seinen gesamten Mageninhalt bis er schließlich zusammenbrach und mit dem Kopf auf dem harten Stein aufschlug.
Als er erwachte waren die Schmerzen verflogen. Er lag immer noch in dem Tunnel, was ihm schlagartig wieder die Illusion nahm alles vielleicht doch nur geträumt zu haben. Trotzdem war etwas grundlegend anders. Er richtete seinen Oberkörper auf und strich sich über den Kopf. Von einer Platzwunde vom Sturz fehlte jede Spur. Er Strich mit der Zunge über die Innenwand seiner Wangen, auch dort war alle verheilt. Seine Augen waren weder müde noch schmerzten sie, vielmehr schienen sie erholt, wie nach einem langen Schlaf. Dann auf einmal stellte er fest, was er bisher gar nicht richtig wahrgenommen hatte: Er konnte sehen.
Er stand auf und sah sich um. Schwindend erinnerte er sich an eine Gestalt die nur ein paar Meter von ihm entfernt gesessen hatte, an einem hölzernen Tisch, in schwaches, gelbes Licht getaucht durch ein paar weiße Kerzen. Doch kein Feuer erhellte die kalten Steine und keine Kerze spendete mehr Licht. Der Mann war allein. Allein in der Dunkelheit. Nur war es nicht dunkel. Im Gegenteil sogar.
Er hatte noch nie so etwas Schönes gesehen, obgleich es ihm absurd vorkam, da er sich immer noch in einem moosbedeckten, feuchten, steinernen Tunnel befand. Doch von den Steinen ging nun eine Wärme aus die ihn voll und ganz erfüllte. Das Moos schimmerte dunkelblau und kräftig, war bedeckt von glitzerndem Tau und am Ende des Tunnels leuchtete ein Licht, so schön wie die Sonne am Abend über dem Horizont. Er setzte sich in Bewegung, ging dem Licht entgegen, beschleunigte seinen Schritt bis er schließlich lief. Immer weiter und weiter durch den Tunnel und dem rätselhaften Licht entgegen, das ihn berauschte und zu sich hin zog. Das Licht kam näher und er rannte nun so schnell er konnte. Es wurde immer heller um ihn herum und schließlich befand er sich in einem Meer von Lichtern die um ihn herum tanzten und ihn vollkommen umschlossen. Der Boden unter seinen Füßen begann nachzugeben, oder, war er es etwa der zu schweben begann? Er spürte wie er immer leichter wurde und empor zu schweben schien; immer höher und höher. Er legte den Kopf in den Nacken und breitete die Arme aus. Wärme strömte durch seinen Körper und ein Gefühl des Glückes und der Zufriedenheit, wie er es noch nie zuvor verspürt hatte. Dann begann das strahlende Licht langsam zurück zu gehen, verblasste immer weiter, bis es schließlich nur noch schwächlich von oben auf ihn herunter schien.
Der Mann sah sich um und bemerkte dass er etwa drei Meter über dem Boden schwebte. Zu seinen Füßen sah er ein kleines Feld welches schließlich an einem kiesigen Weg endete und hinter dem sich eine ganze Stadt erstreckte. Exakt unter dem schwebenden Mann tat sich ein kleines Loch in der Erde auf. Das Licht, welches von oben auf ihn herunter schien wurde von einem prächtigen, vollen Mond geworfen. Langsam kam die Erde wieder näher, bis seine nackten Füße schließlich kalte Erde spürten. Nun stand er da, vor der Stadt in der er einmal gelebt hatte, welche ihm nun jedoch seltsam fremd vorkam, atmete die kühle Nachtluft ein und sah eine Welt vor sich, die er so voller Schönheit nicht kannte.
»Prachtvoll, nicht wahr?«
Eine raue, vertraute Stimme erklang hinter ihm.
»Keine Sorge, ihr werdet euch bald wieder erinnern, Meister. Wenn die Zeit gekommen ist.«
Der Vampir legte die Hand auf die Schulter des Mannes und blickte nach vorn auf die Stadt.
Doch nun war der Mann es, der zu lächeln begann.