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Teezeremonie
Abigail sitzt schief. Den rechten Winkel des Ohrensessels ignoriert sie. Ungesund krümmt sie den Rücken und zieht ihre zierlichen Beine zum flachen Bauch. Die Arme ruhen halb hier, halb dort. Tief sitzt sie zwischen den Polstern, als gäbe das Material keinen Halt. Der ockerfarbene Sessel wirkt alt. Sie betrachtet die Kratzspuren einer Katze. Diese befinden sich selbst am Holzrahmen. Neben sich im Wandschrank sieht sie auf ein loses Katzenfoto, das dort seinen Platz gefunden hat. Auf dem Beistelltisch ist dafür kaum Platz für die massige Teetasse und den Teller. Der Tee dampft nicht mehr. Mit der Hand fasst sie die Tasse an und zieht sie enttäuscht zurück. Das Aufrichten macht etwas Mühe. Die Haare sind ungewaschen und spröde. Am Kinn fühlt sie einen leichten Fettfilm. Nicht zum ersten Mal heute fällt ihr Blick auf den Himmel. Seit dem Vormittag ist er durchgängig grau. Ihr fällt ein feiner Unterschied zu vorher auf; wie das Grau immer dunkler wird. Nur Erinnerungen halten sie derzeit wach.
„Erwartet habe ich nicht viel von Ihnen, um ehrlich zu sein.“
Es ist Herr Balthasars tiefe Stimme und dessen brummiges, zugartiges Pusten. Selbst nach vierzehn Jahren hört sie ihn in der Nähe sitzen, in ihrer Diplomarbeit blätternd. Richtig gute Erinnerungen hat sie von ihm, solange dieser Satz nicht auftaucht. Die Augen bekommen Druck. Der Tränenkanal macht sich bereit und nun drängt sich weiteres nach oben. Ihr wird heiß. Der Unternehmer von neulich mit den vielen Vorwürfen erscheint ihr wieder. Er steht vor ihr wie im Büro, ganz dicht am Schreibtisch. Abigail denkt an seine kräftige Stimme und den penetranten Blick. Selbst wenn sie ihre zuckenden Augen schließt, ist er immer noch da. Er erzählt von seinen Eindrücken, wie unprofessionell die Hygienekontrolle mit ihr abgelaufen sei. Die Meinung werde er ihr geigen. Auch ihr Chef steht dicht bei ihr, so plötzlich, wie er an jenem Nachmittag erschien. Er lobt sie erneut für ihre Geduld. Sie habe nichts falsch gemacht, versichert er ihr. Vermutlich sei der Typ mit sich selbst im Unreinen. Doch ist, was er macht, ein Kopfschütteln? Schaut er dem Mann fest in die Augen, um ihm ein Zeichen zu geben? Der Unternehmer hält ihm die amtliche Bekanntmachung mit Abigails Unterschrift hoch.
Sie greift auf einmal die Tasse und nimmt einen gut hörbaren Schluck. Dann spürt sie den lauwarmen Tee ihren Magen füllen. Die Stirn glättet sich. Weder Wolken noch Vögel sind am Himmel. Kein Luftballon, den ein Kind versehentlich losgelassen hat. Kein Blatt, das frei davonflattert. Es ist eine Zeit, die geschaffen ist für zwei Dinge: Regen und ein Klavier. Sie richtet sich auf und stellt die Tasse sorgfältig zurück. Dabei schaut sie auf einen Teller mit einer großen Orange und einem kleinen Schneidemesser. Das Messer wartet auf seinen Einsatz. Augenblicklich dreht sie den Kopf weg und zieht die Hand wieder zum schmächtigen Körper. Die Orange schafft es kurz, sie von den Gedanken abzulenken, bis die Erinnerungen wieder um ihre Aufmerksamkeit ringen.
„Wenigstens das kannst du.“
Mit der Zeit formt sich ein müdes Lächeln und verschwindet alsbald wieder. Sie geht die Art, wie es Doro gesagt hat, immer wieder durch. Die Betonung liegt auf das, nicht auf du. Dabei wird ihr bewusst mit welcher Lässigkeit die Freundin es vor den Kommilitonen sagte. Für Doro sucht sie noch ein passendes Wort. Sie geht die Tiere des Bauernhofs durch. Als sie ihre Starre bemerkt, lenkt sie den Blick ruckartig auf den Himmel ohne alles zurück. Das Grau des Himmels ist noch dunkler geworden.
Er wolle nächste Woche die Sache klären. Er sehe sie dann bestimmt. Immer wieder wendet Abigail den Kopf und als sie aufhört, versucht sie ungeschickt mit dem Handrücken die Haare von der Stirn zu kämmen. Morgen muss sie auf der Matte stehen. Wann er kommt, ob er kommt. Sie stellt sich das Gespräch vor. Dann kämen von ihrer Seite die Schimpfworte. Plötzlich findet sie Ausdrücke und Gesten wie an einem Obst- und Gemüsestand. Die Worte gehen ihr durch den Kopf und schießen aus dem Mund. Sie verliert sich schneller und schneller in ihrer Rage und entwickelt eine Energie, die sie nicht mehr halten kann. Es kribbelt in den Zehen, doch aufstehen möchte sie nicht. Ein kurzer Moment des Schweigens entsteht. In ihren Gedanken mustert sie sich und wundert sich darüber, wie übermütig dieses Ich auftritt. Sofort sieht sie den Unternehmer in seiner ganzen Größe. Doch es ist, als würde kein Abstand zwischen ihnen sein. Er könnte sie leicht umarmen. Hektisch schnappen Abigails Augen nach Eindrücken aus dem Zimmer. Das Foto ihrer Eltern. Das Foto der Katze. Eine Büchse mit schwarzem Tee. Ein Bund Fahrradschlüssel in einer Schale. Der Fernseher. Eine halb geöffnete Schublade. Die schiefe Teetasse, eine selbstgemachte Teetasse. Sie nimmt noch einen Schluck. Gleich wird nichts mehr übrig sein. Trotz Anstrengung senkt sich der Brustkorb sanfter. Langsam hält sie sich davon ab, aus dem Fenster zu schauen. Ihre Augen richten sich stattdessen nach der Büchse im Regal. Es ist eine Blechdose mit einem kitschigen Chinamotiv, wo mit Goldfarben nachgeholfen wurde. Gekauft hat sie das Teil im Teegeschäft, an jenem Nachmittag. Die Quittung müsste in der Nähe liegen.
Der Laden Teegeschäft liegt auf dem Weg zwischen der Wohnung und der Dienststelle. Geschäftsführerin ist eine Dame mit pechschwarzen Haaren, die ausschließlich Kleider mit der gleichen Silhouette trägt. Keiner kennt das wahre Alter dieser Frau. Weder die relativ schlanke Figur noch die gute Haut noch die pünktlich gefärbten Haare geben viel preis. Der Hals ist oft von einem eleganten Tuch bedeckt. Abigail weiß von Gesprächen zwischen ihr und einigen Kunden, dass sie erwachsene Kinder hat, die ihr mit Absicht das Leben schwer machen sollen. Kurz vor Ladenschluss erfährt man am meisten. Nach jenem Feierabend bekam Abigail ein verächtliches Lachen zu hören, als sie die Teedose mit dem Goldmotiv kaufen wollte.
„So fleißig! Sie holen immer nach. Dabei haben Sie schon viel Tee zu Hause, ja?“
Abigail denkt an ihre kräftige Zustimmung in der Sekunde, die Freude, damit angeben zu können und die Teemischung, nach der sie fragte.
„Selbst wenn Sie hundertmal fragen, es gibt den Tee nur so. Da hinten ist etwas mit Zimt. Hier ist Oolong light und da schwarzer Tee. Aber zusammen geht nicht. Warum so kompliziert, immer?“
Schmunzelnd nimmt sie wieder einen kräftigen Schluck Tee. Die Tasse ist leer. Die letzten Zuckerkrümel und Zimtreste kitzeln ein wenig im Hals. In der Küche könnte sie sich etwas nachholen. Lange starrt sie jedoch auf die Orange. Die Farbe ist kräftig und eindeutig. Sie sticht selbst im Zimmer heraus. Schließlich beginnt sie mit dem Schälen. Abigail denkt an die Einstellung der Leute zu solch fröhlichen und lebensbejahenden Farben. Ihr persönlich sagt es nicht zu. Sie konzentriert sich eher auf die Orangenschale, die sie an ihre Beine erinnert, an die Ankündigung des Todes in Der Pate und daran, dass sie eigentlich keinen richtigen Orangentee bekommen kann, weil das unkonzentrierte Aroma einer einzelnen Orange unzureichend im Wasser bestehen würde. Spritzer des Orangensaftes landen im Gesicht und reißen zurück ins Hier und Jetzt. Erschrocken und amüsiert wischt sie das Kinn sauber. Den ersten Teil der Schale legt sie ab.
Sie kommt durcheinander. Woran dachte sie gerade? Morgen muss sie die nächste Bekanntmachung abschicken. Wieder sind es zu viele Verstöße und der Betrieb wird vorläufig eingestellt. Doro landete in der Forschung und erzählt immer von vielen Abhängigkeiten. Doch hat sie die auch mit den vielen Paragrafen. Endlich sind die Schale ab und die Reste unter den Fingernägeln weg. Abigail nimmt ein kernloses Stück der Orange in die Hand. Sie hält das Stück eine Weile und isst es. Etwas säuerlich, aber saftig ist das Fruchtfleisch. Draußen wird es so dunkel, dass die ersten Nachbarn die Gardinen zuziehen, um sich vor den Blicken anderer zu schützen, während sie ihre Lichter anmachen. Sie sitzt fest im Sessel und nimmt bereits das dritte Stück. Ein Grundriss vom Teegeschäft kommt ihr in den Sinn. Sie erinnert sich an einen Tag, wo sie einen kurzen Blick ins überschaubare Lager erhaschen konnte. Mit Verlangen isst Abigail den Rest der Orange und spürt ihren Magen mehr Säure produzieren. Es ist kein Wunder. Denn außer Tee ist fast nichts darin. Innerlich streichelt sie sich selbst über den Arm als würde sie ihren Fehler einsehen und es wieder gut machen wollen. Sie überlegt, ob sie nun weiter essen werde oder zuerst duschen gehe. Schließlich entscheidet sie sich für ein langes Bad und einen heißen Oolongtee mit Zimt. Bevor sie aufsteht, atmet sie tief durch. Doch ist es kein Seufzen, nicht dieses Mal. Es ist eine Erkenntnis, die sich in ihrem Körper niederschlägt. Erleichterung strahlen ihre Augen aus. Sie erhebt sich aus dem Sessel und nimmt grinsend den Weg zum Badezimmer.