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Teenagerliebe
Sie saßen auf der Lehne einer Bank und blickten hinunter auf die Stadt, die wie ein Teppich aus bunten Lichtern vor dem violett-blauen Horizont lag. Es roch nach Lagerfeuer und Bier. Das Lachen der Freunde mischte sich mit dem Sound eines Autoradios.
Ein Hauch abendlicher Frische ließ Steffi frösteln. Sie drückte sich an seinen Körper, suchte seine beschützende Wärme. Tief sog sie seinen Duft ein und schloss die Augen.
Schon seit dem ersten Tag, als ihr Tom mit seinen dunklen Augen und seiner lässigen Coolness aufgefallen war, wusste sie, da war etwas Besonderes an ihm. Die Art wie er sprach, wie er lächelte und sich dabei die brauen Locken aus dem Gesicht strich und seine tiefe, männliche Stimme. Vor zwei Jahren neu auf die Schule gekommen - er kam ursprünglich aus Berlin - wurde er schnell beliebt bei seinen Mitschülern. Für Steffi hatte er nie Augen gehabt. Warum auch? Sie spielte einfach nicht in seiner Liga, war nicht besonders hübsch oder stylisch. Eher ein Mauerblümchen eben. Doch dann war es passiert. Ihr Herz war fast stehengeblieben, als er sie am Freitag gefragt hatte.
„Wir treffen uns heute am Turm. Hast du Lust auch mitzukommen? Würde mich echt freuen!“
Und nun saßen sie da. Es hatte sich einfach so ergeben. Sie flog, spürte weder Boden noch Zeit, durchlebte heiße und kalte Schauer in ungewohnter Weise. Ihr einziger Gedanke galt der bedingungslosen Hingabe an das Gefühl: Nie wieder allein, nie wieder einsam sein müssen. Diesen Moment, das wusste sie, würde sie immer und immer wieder von neuem durchleben. Er war nun ihr Maßstab geworden, ihre Idee vom großen Glück.
Sie blickte in seine Augen. Zwei dunklen Teiche eingefasst in kupferfarbene Regenbogen. Ihre Köpfe kamen sich näher und näher. Die Welt um sie herum verblasste und löste sich auf in Bedeutungslosigkeit.
Als sich nun ihre Lippen das erste Mal trafen, als nun das eintraf, was sie sich so oft ersehnt hatte, wich alle Träumerei der Wirklichkeit des Schmeckens. Ihre Zungen, nun zwei selbstständige Wesen geworden, als wäre es ihre eigentliche Bestimmung gewesen nur dies zu tun, fanden sich, schmiegten sich aneinander, erforschten gegenseitig die zur Einheit verschmolzenen Mundhöhle. In ihrem Innern entbrannte die Sehnsucht, ihm immer näher sein zu wollen. Berauscht von der Vorstellung, tief in sein Herz einzutauchen, erschienen ihr Schlösser und Gärten einer anderen Welt. Sie hatte einfach losgelassen, sich verloren in ihm.
„Kommst du noch mit zu mir, Steffi?“
„Ein andermal. Ich sollte schon längst zuhause sein.“
Er löste seine Umarmung. Aber ihr war, als schwebte sie noch immer. Die Gedanken unsortiert, zog sie ihren Pulli zurecht, strich durch ihre langen Haare, zog das Handy aus der Tasche.
„Verdammt, schon elf durch“, schoss es ihr durch den Kopf. Sie sprang auf und sagte:
„Also, ich muss jetzt. Bist, bist du morgen in der Schule?“
Tom lächelte. „Ja sicher, wir sehen uns. War echt schön mit dir, Steffi!“
Sie grinste verlegen und fuhr sich nochmals durchs Haar. Sie ging ein, zwei Schritte rückwärts, dann drehte sie sich um und lief los.
Es waren nur fünf Minuten zu den Blocks, ihrem Zuhause. Sie schloss die Tür auf, fuhr mit dem Aufzug noch oben - alles wie in Trance. Das Gleichgewicht ihrer kleinen Welt war ins Wanken geraten, alle Bedeutungen verschoben. Sie kannte das Vorher, doch wer war sie jetzt geworden?
Die Wohnung roch nach kaltem Rauch und Alk. Steffi lebte hier zusammen mit ihrer Mutter und ihrem älteren Bruder Kai. Aus seinem Zimmer dröhnte die dumpfe Bassline eines Rapsongs. Sie ging den Gang weiter Richtung Wohnzimmer und öffnete die Türe einen Spalt. Wie erwartet lief der Fernseher und die Mutter schnarchte. Ein paar leere Flaschen standen auf dem Tisch. Ihre Mutter hatte sich die letzten Jahre einen Dreck um sie geschert, warum auch sollte sie ausgerechnet heute auf sie warten? Steffi ging ins Bad und war froh, dass sich niemand für sie zu interessieren schien. Auf dem Bett liegend simste sie mit ihrer besten Freundin, wollte ihre Freude mit jemanden teilen. Danach blieb sie noch lange wach liegen und dachte an Tom.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, zauberte die Erinnerung ein Lächeln auf ihr Gesicht. Wie würde sie nun in den Tag starten! Wie würde sie alle und jeden umarmen!
Schnell schlüpfte sie in ihre Sachen, machte sich fertig und lief in die Küche. Ihr Bruder saß mit aufgestütztem Kopf am Tisch, in der anderen Hand die Tasse Kaffee. Im Aschenbecher vor ihm glühte die Kippe vor sich hin.
„Wo bist du gestern gewesen?“, murmelte er ohne dabei aufzusehen.
Steffi verschränkt die Arme. „Was geht’s dich an?“
Kai musterte sie prüfend, nahm einen Zug und blies den Rauch in ihre Richtung.
„Bernd hat mir geschrieben, dass du mit Tom rumgemacht hast, stimmt das?“ Steffi war sichtlich genervt. Sie hatte noch nie ein gutes Verhältnis zu ihrem Bruder gehabt und dass er ihr hinterher spionierte, ging für sie gar nicht.
„Und wenn schon. Kann dir doch scheißegal sein!“
„Ich kenne Tom, er will dich sowieso nur flachlegen“, sagte er mit einem süffisantem Lächeln.
„Arschloch!“
Die Mutter kam im Bademantel herein. Ihre Haare standen in alle Richtungen.
„Müsst ihr morgens schon so einen Krach machen? Mein Schädel explodiert gleich“, sagte sie gleichgültig und setzte sich an den Tisch.
Steffi nahm sich einen Apfel, sagte „ich geh dann mal, bin spät dran“ und verließ auf direktestem Wege die Wohnung.
Sie verspürte heute keine Lust, sich die Laune verderben zu lassen. Und Kai wollte sie erst recht keine Chance dazu geben. Wer weiß, vielleicht konnte sie bald ihr eigenes Ding machen, ohne die beiden. Mag sein, dass Tom sie von ihrem jämmerlichen Dasein erretten konnte und eine sonnigere Zukunft auf sie wartete. So lief sie also in den Morgen hinaus, ihrer Liebe, ihrem neuen Leben entgegen.
Aber nicht nur Steffis Leben, die ganze Welt schien sich verändert zu haben. Sie sah alles in einem besonderen Glanz, und das seltsame daran war, dass ihre Mitmenschen es auch wahrnehmen konnten.
Da war die ältere Frau im Bus. In ihren Augen spiegelten sich die Erinnerungen ihrer Jugendliebe. Wissend nickte sie Steffi zu. Selbst der mürrische Alte aus der Nachbarschaft grüßte sie heute. „Morjen, Kleenes. Wat strahlst'n so?“
Doch sie ging ganz nach hinten und nahm Platz bei den Freundinnen, die natürlich schon von der Neuigkeit wussten. Gemeinsam durchlebten sie jede Einzelheit der von Steffi geschilderten Momente, versuchten einander zu übertreffen mit Fragen und Gekicher. Endlich waren sie an der Schule angekommen, dem Ort des Wiedersehens.
Es dauerte auch nicht lange und sie entdeckte Tom von weitem. Lässig wie immer stand er bei den anderen. Mit ihrem strahlenden Lächeln ging sie auf ihn zu.
„Hi!“, grüßte sie ihn.
„Oh, hallo Steffi! Wie geht’s?“
Am liebsten hätte sie „wundervoll“ oder „fantastisch“ gesagt, es kam ab er nur ein gedehntes „gut“ aus ihr heraus.
Er nahm sie an der Hand und küsste sie auf den Mund. Es war nur ganz flüchtig, doch Steffi war, als fließe ein Welle Strom durch ihren Körper.
„Hast du heute abend schon was vor?“, fragte er und blickte sie seltsam ernst an.
„Ich will nur bei dir sein“, sagte Steffi.
„Dann nehm ich dich mit zu mir!“
„Willst du auch ne Cola?“
Steffi nickte. Sie saß auf Toms Bett. Zwischen ihren Beinen brannte es, doch es war ihr gleich. Eigentlich fühlte sie gar nichts.
Das erste Mal konnte nicht wirklich schön sein. Sie hatte sich auch nichts anderes erhofft. Ob ihr junger Körper noch nicht bereit dafür war? Nein, bei ihren Freundinnen hatte es ja auch geklappt. So lief das nun mal.
Aber vielleicht hätte Tom ihr mehr Zeit lassen, etwas zärtlicher sein können. Zuerst hatte ihr ja seine stürmische Art gefallen, wie er ihre Kleider regelrecht vom Leib gerissen und ihren Körper gierig liebkost hatte. Doch dann wurde er immer grober. Steffi hatte es über sich ergehen lassen. Schließlich war es doch aus Liebe geschehen.
Jetzt fühlte sie sich, als wäre sie nur benutzt worden. Ganz nüchtern betrachtet, hatte er sich an ihr vergangen. Ihre Angst hatte er schlichtweg ignoriert, eigentlich all ihre Gefühle. Und nun? Wieso umarmte er sie jetzt nicht? Wieso ließ er sie allein?
„Hier, deine Cola!“
Er hatte ihr noch nicht einmal „ich liebe dich“ oder so was gesagt.
„Tom, ich will heim.“
„Wieso denn jetzt? Gefällst dir bei mir nicht mehr? Na ja, ich bring dich, wenn du willst.“
„Geht schon, ich nehm den Bus.“
Hatte Kai recht gehabt?
Steffi stellte die Dose ungeöffnet auf den Nachtisch und zog sich an. Im Grunde wollte sie nur noch weg von hier. Tom hatte sich Shorts angezogen, den Fernseher angemacht und saß nun mit dem Rücken zu ihr. Es lief irgendeine Comedy-Sendung.
„Der Typ ist der Beste, … ich lach mich kaputt“, hörte sie Tom wie von weitem. Ihre Beine fühlten sich taub an. Ein Kloß drückte in der Kehle.
„Ich geh dann jetzt mal.“
Tom stand auf und trat auf sie zu. Er umarmte sie und blickte sie an, so wie er es schon vorher getan hatte. Aber da war nichts mehr von Vertrautheit, Zärtlichkeit oder Magie.
„Es war echt schön mit dir, Steffi! Das müssen wir bald wieder machen.“
„Klar.“
Sie roch seinen Atem, den beißenden Geruch seines verschwitzen Körpers. Ganz sachte begann sie ihn wegzudrücken. Er schien es nicht zu merken. Sie drehte sich um und wollte endlich gehen.
Als sie in der Tür stand rief er: „Steffi, warte!“
„Ja?“
„Du hast deine Cola vergessen. Hier!“
Sie betrachtete traurig die Dose und sagte:
„Danke.“