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Tausend ihrer Tränen

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22.06.2002
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Tausend ihrer Tränen

Grauer Nebel schlich über den Hügel hinauf zum Kopfsteinpflaster des kleinen Schulhofes, auf dem bereits einige helle Gestalten in ihre Gespräche vertieft waren.
Es war ein Montagmorgen unter vielen, doch so, wie er für die Einen der Anfang des ersehnten Endes war, stellte er für mich den Anfang meiner letzten Woche dar, die ich in meiner Schule haben sollte. Drei Tage - was waren drei Tage im Vergleich zu den tausenden Tagen, an denen ich diesen Ort frühmorgens gesehen und geliebt hatte? Ein kurzer Abschied, mehr konnte es nicht sein. Ein kurzer, schmerzvoller Abschied von ihr.
Ich betrat die letzte Bastion meiner Erinnerungen und Gedanken an den Menschen, der mich verlassen hatte und nie wieder zurückkehren würde. Noch, als sei es gestern gewesen, stellte ich mir vor, wie sie an jeder Stelle dieses Ortes gestanden hatte, mit ihrer noch nicht leblosen Schönheit.
Während ich mich von jeder Einzelheit des Gebäudes verabschiedete, traten mir die Tränen in die Augen. Was diese Schule für mich war, stand in keiner Dimension mit der normalen Bedeutung des Begriffs. Bei jedem Schritt glaubte ich ihren Duft wahrzunehmen, als ob sie Seite an Seite mit mir die leere Aula durchschreite. Während ich sie in der Stille suchte, nahm ich meine Hände aus den Taschen und bemerkte, wie sehr ich zitterte. Ich stürzte mit meinem verschwommenem Blick auf die Knie, als ich sie von oben herab sprechen hörte.
"Wieso weinst du nur soviel?" war es, was ích hörte und obwohl ich die Lippen nicht bewegte, vernahm ich meine schluchzende Antwort in der Weite.
"Ich habe den Menschen, den ich liebe und mein eigenes Leben verloren."
Nach einer Sekunde der Stille hörte ich, wie ich in die Halle schrie.
"Warum bist du nur gegangen? - Wieso hast du es getan?"
Ihre Augen begannen im Licht zu glitzern und, nachdem sie geblinzelt hatte, lief eine schillernde Perle ihre weiche Wange hinab. Sie begann leise zu weinen. Wie gern hätte ich sie in meine Arme genommen und ihr gezeigt, wie sehr ich sie liebte, doch ich wusste, dass es nicht möglich war. Wieder schluchzte ich meine Frage wie einen Hilfeschrei ihren Tränen entgegen.
"Warum hast du es getan?"
Sie hörte auf zu weinen und wischte mit ihren makellosen Händen die Tränen aus ihrem Gesicht. Es schien, als könne ich die Wand hinter ihr erkennen und erst jetzt sah ich, dass sie nicht im Stande war, mich zu berühren. Ich spürte einen kühlen Lufthauch, als sie mit ihrer Hand durch meine hindurchfuhr und bekam eine Gänsehaut, während ich auf ihre Lippen starrte. Sie bewegten sich, aber sie sagte nichts.
Ein zweites Mal wiederholte ich meine Frage.
"Warum hast du es getan?"
Nächtelang hatte ich mir diese Frage gestellt und jedesmal war ich verzweifelt zusammengebrochen, weil es keine gab. Mit traurigen Augen sah sie mich an und bat um Vergebung. Sie schienen als einziges an ihr nicht durchsichtig zu sein und baten mich mit ihrer unendlichen Traurigkeit um Verzeihung.
Verloren drehte sie sich um und ging mit langsamen Schritten von mir, als sie sich ein letztes Mal umwandte: Während sie mich anlächelte, fiel eine ihrer Tränen auf den trockenen Steinboden, über dem sie schwebte. Ihr Lächeln verblasste vor meinen Augen und als sie völlig verschwunden war, richtete ich mich wie betäubt auf und ging zu der Stelle, wo ich sie das letzte Mal gesehen hatte.
Ich sah den nassen Punkt am Boden und bekam eine Gänsehaut, die mich erschaudern ließ.

Manche Montage zeigen, was die Woche bringt - andere sind nur der falsche erste Eindruck. Jener Montag zeigte, was die Woche und mein restliches Leben bringen sollte. Denn noch heute - Jahre später - wache ich nachts auf und höre mich weinen, während sie sich mit ihren makellosen Händen die Tränen abwischt und mich stumm um Verzeihung bittet. Und noch immer frage ich mich: "Warum hast du es getan?" Und noch immer verzweifle ich, wenn ich die Antwort nicht finde.
Doch das Schrecklichste ist, wenn ich völlig unvorbereitet einen kühlen Lufthauch spüre und eine Gänsehaut bekomme, die mich erschaudern lässt, - weil ich sie in meiner Nähe fühle und berühren will - aber weiß, dass ich es nicht kann.
Alles, was ich in diesen Momenten sehen kann, ist die Trauer in ihren, um Vergebung suchenden Augen und alles, was sie mir hinterlässt ist eine Träne, die von ihrer weichen Wange fällt und mich tausend ihrer Tränen weinen lässt.

DWGM
23.7.2000

 

Der Text sollte weniger logische Zusammenhänge erschliessen lassen, sondern vielmehr wollte ich eben jene mystischen Stellen herausnehmen und üben, diese besser darzustellen. Das wichtigste an der Geschichte ist der letzte Absatz, alles andere ist eigentlich Vorgeplänkel um Stimmung aufzubauen.
Selbstlob stinkt natürlich gewaltig, aber wenn ich in der richtigen Stimmung bin und die Geschichte lese, dann bekomme ich am Schluß wirklich eine Gänsehaut ;)
Geplant war/ist, das ganze als Teil eines größeren Textes zu verarbeiten. Wenn ich damit fertig bin, lass ich euchs wissen :)

 

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