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Taubenjagd mit dem Teufel
Boeing Hanson stand auf dem Dach des Empire State Buildings und tauchte einen Stiefel in seinen Tod, so wie ein Urlauber versucht, die Temperatur des Poolbeckens mit dem großen Zeh auszutesten.
Die Augen hingen ihm grau aus den Höhlen, dunkle Tropfen an einem Wasserhahn, fast so schwarz wie der Asphalt, der unter ihm vom Regen schäumte.
Auf den Straßen tummelten sich Autos in allerlei Farben und hupten, um den anderen Verkehrsteilnehmern das Leben schwer zu machen. Männer und Frauen wuselten, eng gedrängt wie winzige Scherentiere, seitwärts aneinander vorbei. Aus einem fragwürdigen Grund war er der einzige Besucher der Aussichtsplattform. Zumindest glaubte er das. Und ein gurrender Schwarm Tauben fegte über dem Mann im gelben Regencape vorüber.
„Hell“, flüsterte jemand dicht an Hansons Ohr.
Hanson erschrak, verlor das Gleichgewicht, kippte vornüber, sein Magen rutschte voraus in den Hals. Und im letzten Moment packte eine Hand ihn fest am Mantel.
„Fuck, fuck, fuck. Alright little Baumgartner. Got you. Don't worry. Just said hello!
Hanson hing wie ein Schiffsmast mit Schlagseite über dem Abgrund und wurde langsam zurück in die Senkrechte gezogen.
„You know a great response to hello? It's: Hello. For fucks sake.“
„Was zum?“, rief Hanson und fuhr herum.
„Almost hell there – fuck. – fell there, huh? My bad: Burned my tongue a while ago.“
Ein unerwartet ulkiger Anblick bot sich Boeing Hanson, denn ein halbnackter Mann stand genau vor seiner Nase und grinste ihn an. Barfuß, oberkörperfrei, lediglich eine verwaschene Jeans, die dem Mann zu groß war und mit einem Gürtel über dem Bauchnabel festgehalten wurde.
Hanson bestaunte die schmalen Hörner an den Schläfen des Mannes, die sehr verdächtig an die Form von langen Schlitzschraubenziehern erinnerten.
„Hell – fucking tongue again! – Well, my dear.“, sagte der Mann und lächelte. „Up for a little game?“
Hanson war so überrascht, dass er nicht wusste, was er antworten sollte. Außerdem sprach er nicht so gut Englisch. Selbst auf dem Pappkarton, mit dem er normalerweise am Bordstein kauerte, stand lediglich in rot leuchtenden Lettern: no foot, no money!, weshalb die meisten New Yorker glaubten, er würde gegen querschnittsgelähmte Kriegsveteranen demonstrieren und ihm keinen Penny da ließen.
„I am the devil, pleasure to meet you.“ Der Fremde streckte den rechten Arm aus, um Hanson die Hand zu schütteln.
Hanson gehorchte stoisch und schüttelte die warme Hand des Mannes.
„Nice day for a little jump, aye?“, fragte dieser.
Hanson kramte die wenigen Sprachkenntnisse aus seinem Hirn, die er aus der Grundschulzeit noch beherrschte.
„No, no, sorry. I do no jump. No jumping. I go.“
Der Mann mit dem Schraubenzieherschädel legte den Kopf in den Nacken und lachte laut. Seine Zunge glühte an der Spitze und feine Rauchfäden stiegen ihm wie Bleistiftlinien aus dem Mund.
„Never leave a winning table, pal. I asked you, if you're up for a little game? And i wont ask again.“
„German, german“, sang Hanson fast verzweifelt und fuchtelte mit den geschundenen, teils verbundenen Handflächen. „Not so English. More Germany.“
„Deutscher Tourist! Wo ist man eigentlich vor euch sicher?“, fragte der Mann und klatschte in die Hände.
„Sie sprechen deutsch?“, erwiderte Hanson erleichtert.
„Und ob der Teufel deutsch spricht“, antwortete der Mann. „Ich darf doch bitten. In der Hölle müssen schließlich alle Hochdeutsch lernen. Selbst diese Franzosen.“
„Tatsächlich?“
„Oh ja, wir legen wert auf humane Foltermethoden.“
„Sie sind der Teufel?“
„Gut verdammt – scheiß Zunge – gut erkannt!“
Boeing Hanson betrachtete den Mann noch einmal ausgiebiger als zuvor. Er trug tatsächlich einen schwach rosa Hautteint, der allerdings auch auf einen leichten Sonnenbrand oder starke Neurodermitis zurückzuführen sein könnte.
„Sie sind der Teufel“, flüstere Hanson leise und nickte.
„Genug davon. Hast du nicht Lust darauf, ein kleines Spiel mit mir zu spielen?“
Eine starke Windböe zog über das Dach des Empire State Buildings und die Hose des angeblichen Teufels flackerte wild.
„Was für ein Spiel …“, begann Hanson. Dann: „Sind das Schraubenzieher auf ihrem Kopf?“
„Nein“, antwortete der Teufel, leicht genervt über diese Frage, als wenn er sie nicht zum ersten mal hörte.
„Sie sind Cosplayer, hab ich recht?“
„Nein!“, antwortete der Teufel. „Ich bin der Höllenfürst.“
„Ich sehe den Thesafilm an den Schraubenziehern.“
„Und ich sehe den Stock in deinem Arsch, der dich daran hindert, hinunter zu springen.“
„Touché“, sagte Hanson, sank auf ein Knie und setzte sich auf die Brüstung. „Es ist angsteinflößender, als ich dachte.“
„Deshalb bin ich doch hier“, antwortete der Teufel und setzte sich mit einem Schwung neben Hanson, der ihn fast wieder das Gleichgewicht verlieren ließ.
Ein weiterer Schwarm Tauben flog über das Empire State Building und der Teufel schnappte sich eine von ihnen mit einer speerstoßartigen Handbewegung.
„Um Gottes Willen“, rief Hanson. Das Tier wand und wehrte sich mit schwachen Flügeln gegen die langen Finger des Teufels. Es kniff ihn mit dem Schnabel und quiekte laut.
„Hehe. Täubchen vielleicht?“, fragte der Teufel und hielt das arme Tier in Hansons Richtung.
„Danke“, lehnte Hanson angewidert ab.
Dann biss der Teufel der Taube den Kopf ab. Das Tier hörte auf zu quieken, schlug jedoch immer noch mit den Flügeln. Lange rote Fäden zogen sich wie heißes Plastik aus dem Hals des Vogels zu den Zähnen des Mannes. Eine Feder blieb an seinem Mund kleben.
„Nichtsch geht über Tauben“, sagte er mit vollem Mund und kaute sehr schnell.
„Sie müssen wirklich der Teufel sein“, antwortete Hanson, einen Brechreiz unterdrückend. „Mehr als widerlich.“
Dann öffnete der Teufel seinen Mund sehr weit, der Gestank von verbrannten Autoreifen stieß Hanson in die Nase, und der Rest des grauen Vogels verschwand im Rachen des Mannes. Sorgfältig leckte er sich die Finger.
„Also Boeing Hanson, Boeing ist ein ungewöhnlicher Name, nicht?“
Hanson nickte. „Meine Mutter benannte mich nach dem Flugzeug, in dem ich gezeugt wurde. Angeblich.“
„Ach was! Also schon von Kleinauf ein Höhenflieger? Gefällt mir.“
„Oder schon von Geburt an im Sinkflug.“
„Von Geburt an im Sinkflug“, äffte der Teufel ihn nach: „Dass ich nicht lache. Das ganze Leben ist nicht mehr, als ein gewaltiges Flaschendrehen. Jeder kriegt 'nen Kuss, Boeing. Es sei denn, du bist 'ne Flasche. Bist du etwa eine Flasche, Boeing?“
„Ich bin eine Flasche, Teufel.“
„Grundgütiger.“ Der Teufel klatschte sich mit der Hand an die Stirn. „Dann drehst du dich im Mittelpunkt von allen anderen. Was könnte es großartigeres geben, als eine Flasche zu sein? Jetzt lass mal den Kopf nicht so hängen, Boeing Hanson. Auch wenn dein Name trotzdem bescheuert klingt.“
„Mein Bruder, Wartburg Hanson, hat mich immer nur Boe genannt. Sie können mich gerne auch so nennen.“
Der Teufel überlegte kurz, nickte dann zustimmend.
„Woher kennen sie überhaupt meinen Namen?“, fragte Hanson.
„Der Teufel besitzt die Fähigkeit, jederzeit zu zweiundachtzig Prozent richtig zu raten.“
„Tatsächlich?“
„So sieht's aus, Boe.“
„Wie alt bin ich?“
„Einundvierzig“, antwortete der Teufel.
„Ich bin heute fünfzig geworden“, rief Hanson, den Zeigefinger auf die Nase des Teufels gerichtet.
„Die Zweiundachtzig Prozent“, wiederholte der Teufel nur und zuckte mit den Schultern.
Hanson hielt sich beide Hände vor den Mund und staunte.
„Zweiundachtzig Prozent von fünfzig. Einundvierzig. Da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt.“
Der Teufel legte sich stolz einen Finger an den rechten Nasenflügel und pustete Rotz über die Brüstung.
„Also, Boe. Warum willst du dich umbringen? Lass hören!“
Boeing Hanson schien lange Zeit über eine Antwort auf diese eigentlich einfache Frage nachzudenken.
„Das muss schneller gehen, Boe. Um einiges schneller. Tod durch Altersschwäche ist der Erzfeind der Suizidgefährdeten.“
„Ich weiß es gar nicht recht, Teufel“, antwortete Hanson. „Um ehrlich zu sein, bin ich einfach ratlos. Es ist eine Lücke in mir. Es ist kaum zu erklären, wenn man diese Lücke selbst nicht hat. So als wollte man einem Blinden die Farbe Grün beschreiben.“
Der Teufel schloss die Augen und atmete tief die frische Luft hier oben ein. „Dann beschreibe mir eben die Farbe Grün, Boe. Versuch es einfach mal.“
Und Hanson begann: „Nun ja, wohin man auch geht, alles ist grün, Teufel. In jedem Blickwinkel versteckt sich einfach irgendwo immer ein bisschen Grün. Und wenn man zu stark darauf achtet, dann geht es eines Tages nicht mehr aus den Augen raus. Man geht aus der Haustür und der Rasen ist grün, die Hecken, die Bäume. Man trifft Kollegen, Freunde, Verwandte. Manch einer trägt eine grüne Jacke, fährt ein grünes Auto, bindet sich die grüne Krawatte, die grünen Schnürsenkel. Dein Vater hat vielleicht nur grüne Augen, deine Ma einen grünen Klipp am Ohr. Oder etwas ganz Unbedeutendes, wie einen Fussel am Pullover. Aber es ist da. Wo man auch hingeht: Grün. Es war immer da, bevor man drauf geachtet hat. Darum geht es auch nie mehr ganz weg. Das ist Grün. Weißt du, was ich meine?“
Der Teufel öffnete die Augen. „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, Boe.“
„Fein“, antwortete Hanson, legte ebenfalls den Finger an einen Nasenflügel und schnaufte grünen Rotz in die Tiefe.
„Nicht übel“, sagte der Teufel und klopfte ihm auf die Schulter.
„Ich fühle mich, als gäbe es kleine Lücken in meinen Augenwinkeln. Kleine, grüne Lücken, die immer größer werden. Und ich habe es endgültig satt, nicht nur die Lücken, sondern auch den heilen Raum zwischen den Lücken sehen zu müssen.“
„Alles klar, Boe Hanson, du willst eine Rotgrünschwäche.“
„Teufel, das ist nicht, was ich meinte.“
„Und ich bin der Mann, der dir 'ne schöne Rotgrünschwäche besorgen kann. Wenn du dich wirklich unbedingt kalt machen willst, wollen wir deine letzten Minuten auf Erden nicht mit einem kleinen, stumpfsinnigen Unsinn verbringen? Dann rutscht das auch besser mit dem Springen, glaub mir.“
„Stumpfsinniger Unsinn?“, fragte Hanson.
„Ja! Ein Wettstreit auf dem Weg nach Unten. Quasi. Ein stumpfer, derber, humorloser Schwachsinn. Ein Nervenkitzel, der noch einmal alles aus dir raus holen wird, bevor du deinen ganzen Biss mit ins Grab nimmst.“
Hanson überlegte. Drehte Däumchen. Starrte auf den Boden.
„Was haben sie sich da vorgestellt?“
Der Teufel grinste. „Eine Taubenjagd, die sich gewaschen hat.“
„Taubenjagd?“ Er fürchtete bei diesem Begriff, dass der Teufel von ihm verlangen könnte, ebenfalls in so einen Vogel beißen zu müssen.
Der Teufel sprang mit den nackten Sohlen seiner Füße auf die Balustrade.
„Wir springen gleichzeitig hinunter, klar? Wer im Sturzflug mehr Tauben einsammelt, gewinnt den Contest. Alles ist erlaubt. Schummeln gehört zum Spiel. Beißen, kratzen, augenpiecksen.“
„Augenpiecksen?“
„Du wirst da unten sowieso zermatscht, Cowboy“, sagte der Teufel. „Und selbst wenn du den Wettbewerb verlierst, hast du ja nu nix wirklich zu verlieren oder? Frau, Kinder, Nein? Du kannst sogesehen doch nur gewinnen! Also los. Die Täubchen warten bereits auf uns.“
Und als ob der Teufel sie gerufen hätte, flog eine gewaltige Schar Tauben über die Brüstung in den Himmel und klatschte tosenden Beifall mit ihren Flügelschlägen.
Boeing Hanson war sich uneinig über diesen Wettstreit und er wusste nicht einmal genau warum. Der Teufel hatte schließlich recht. Er wollte sich ja sowieso umbringen. Wozu nicht mit einem Knall und mit einem Sieg gegen den Höllenfürsten abtreten, anstatt einfach nur als grünes Greenhorn zu sterben. Ein Spaß vor dem Tod? Ein Beweis, ob man noch lebt, um sterben zu können.
„Na los, ich erleichtere dir die Entscheidung“, sagte der Teufel. „Wenn du mit mir die Taubenjagd angehst, sorge ich dafür, dass du mal 'ne feine Rotgrünschwäche bekommst. Zumindest bis du unten aufkommst.“
Hanson ließ die Schultern hängen. „Warum nicht.“ Dann nickte er. Der Teufel hob fröhlich eine Hand in die Luft und rief: „Dann gib mir Fünf, mein Freund.“
Hanson bemerkte ein kleines schiefes Tattoo auf der Handfläche des Teufels. Dort stand: Jene, die hier einschlagen, lasst jegliche Hoffnung fahren.
Und Hanson gab dem Teufel eine Fünf, dass ein schallendes Klatschen über die Dächer von New York City hallte. Die Hand des Teufels war heiß wie eine Wärmflasche.
„Abgemacht“, sagte Hanson.
„Deal“, sagte der Teufel und lachte so laut, dass einige der Krabbentiere unten auf den Straßen aufblickten.
Ein Blitz schlug auf dem Empire State Building ein. Der Himmel verfinsterte sich. Ein Platzregen brach über der Skyline der Stadt, die niemals schlief, zusammen. Wind und Wasser peitschten Hansons ins Gesicht.
„Was soll das denn jetzt?“, rief er wütend.
Der Teufel schwang seine Arme über dem Haupt in konzentrischen Kreisen, als würde er einen Tornado über seinem Kopf ankurbeln. Vor seinen Füßen qualmte es heftig und spitze Streben stiegen langsam aus dem Rauch hervor.
„Das lockt die kleinen Täubchen Uptown und schränkt ihre Reaktionfähigkeiten ein. Außerdem beschert der Aufwind uns mehr Flugzeit.“
Hanson setzte seine Kapuze auf und drückte sich sein Regencape fest an die Brust.
„Und was wächst da vor dir aus dem Boden?“
„Das ist meine Mistgabel. Für die Taubenjagd!“
„Bekomme ich auch so eine?“
„Nein“, sagte der Teufel. Die schwarze Forke wuchs sehr dramatisch und unglaublich langsam aus dem Boden.
„Das ist unfair“, protestierte Hanson.
Der Teufel erwiderte nur: „Es gibt keine Regeln, Boe. Mecker nicht rum und nimm's, wie es kommt! Also, bist du bereit für die Taubenjagd?“ Seine Stimme war laut, wie das Horn eines Lastkraftwagens und übertönte das Brechen der donnernden Wolken.
„Warte“, rief Hanson. Eine Hand auf der Kapuze.
„Was noch?“, fragte der Teufel genervt.
„Es gibt keine Regeln, ja?“
„Du hast mich verstanden, Boe“, antwortete der Teufel, bleckte sich die Zähne und grinste ein diabolisches Dämonenlächeln in das helle Auge eines Orkans, welches sich genau über seinen Schraubenzieherhörnern öffnete.
Als der Teufel wieder hinabblickte, sah er Hanson, der gerade über die Brüstung des Empire State Buildings hopste. Nicht anders, als würde man über einen niedrigen Gartenzaun hopsen.
„Ich hab noch nicht Los gesagt!“, rief der Teufel fassungslos. Er starrte den Dreizack an, der immer noch unglaublich langsam und theatralisch aus dem Boden aufstieg. Rauch zischte wie das Zischen von hydraulischen Bustüren um den langen Stab. Der Teufel legte die Hände in die Hüften und tippelte ungeduldig mit dem Fuß. „Na los … komm schon hoch.“
Boeing Hanson raste mit einem Affenzahn in die Tiefe. Sämtliche Luft presste sich aus seinen Lungen und die dicken Regentropfen um ihn herum, schienen still zu stehen, da sie im gleichen Tempo wie er hinunterfielen. Er breitete schreiend Arme und Beine aus und der Wind ließ den Reißverschluss seiner Jacke wie die Ketten von heulenden Motorsägen knattern.
Der Boden rückte näher. Panik überkam ihn. Warum zur Hölle war er überhaupt gesprungen? Er hatte doch noch so viel vor sich gehabt. Mindestens zwanzig gute Jahre, solange er nicht Lungenkrebs, einen Schlaganfall oder den Frontspoiler eines Mercedes in die Hüfte gestoßen bekam.
Etwas hartes schlug ihm schmerzhaft ins Gesicht und Hanson wirbelte vom Aufprall wild herum. An den Federn im Mund, schmeckte er heraus, dass es wohl ein Vogel gewesen sein musste.
Du hast eine Entscheidung getroffen, Boe, dachte er. Hör auf dir so viele beschissene Gedanken zu machen und konzentrier dich auf den Fall.
Seine Augen tränten heftig vom Aufwind und es fiel Hanson immer schwerer, überhaupt seine Umgebung auszumachen. Nimm es wie es kommt! Ein weiterer harter Federball schlug ihm in die Magenkuhle, aber diesmal packte er das zappelnde Wurfgeschoss, in dem er seine Arme über Kreuz schnappen ließ.
„Ich hab eine!“, schrie er erstaunt. Eine Taube wand sich in seiner steifen Umarmung. Er hatte tatsächlich eine Taube gefangen. Nur wohin jetzt damit?
Mit aller Mühe stopfte er sich das flatternde Federvieh unter seinen Gürtel. Der Schnabel des Tiers kam seinem Schritt bedrohlich nahe. Aber der Gürtelriemen hielt den sich aufplusternden Körper fest an der Taille.
Hanson warf einen Blick nach oben. Der Teufel war noch nicht in Sichtweite. Er hatte sich einen ziemlich guten Vorsprung ergaunert und musste sich jetzt ran halten, um diesen auch nicht wieder zu verlieren. Der reißende Stoßwind schien wirklich vom Boden aus in den Himmel hinauf zu ziehen. Hin und wieder hatte er das Gefühl, dass er sich kaum noch dem Straßenverkehr dort unten näherte. Sobald er allerdings darüber nachdachte, fiel er wieder doppelt so schnell hinab, wie zuvor.
Ein grauer Schwarm flog knapp unter ihm hinweg und kämpfte verzweifelt darum, so etwas wie eine V-Formation aufrecht zu erhalten. Doch die V-Formation schlug wegen des Sturms eine stetige Schraube und erinnerte mehr an eine stahlgraue Helix mit Pfeilspitze. Boeing Hanson flog genau auf den Fischkopf des Schwarms zu und breitete seinen gelben Mantel aus. Ein Sperrfeuer aus Taubenschnäbeln trommelte auf seinen Körper ein, schlitze den Saum seiner Jacke auf, drehte sich durch seine Achseln in die Ärmel. Manche Vögel schossen durch das Regencape wieder in die Freiheit. Aber er erwischte mindestens vier Vögel, die sich direkt in seine schlackerndern Ärmel hineingruben und dort steckenblieben. In eine letzte verbiss er sich sogar mit den Zähnen, so wie es der Teufel zuvor auf dem Dach getan hatte.
„Zwei, drei, vier, fünf, sechs!“, pfiff er durch das feuchte Federkleid und durch die aufgeregten Flügelschläge hindurch, die ihm ins Gesicht klatschten.
Ein gleißend helles Licht zuckte auf. Donner krachte. Und im Augenwinkel sah er einen schwach rosaroten Blitz vorbeifegen. Der Teufel war Hanson endlich nachgesprungen. Er war splitterfasernackt, hielt seinen dunkle Forke in der Rechten und seine blassblaue Jeanshose in der linken Hand. Mit seiner Forke stieß er im Sekundentakt ins Leere, aber jedes mal wenn er das Ding wieder zu sich heran zog, zappelte eine Taube am Gabelende wie durch einen billigen Zaubertrick.
Die Vögel packte er sich in seine Jeanshose, deren Beine er zusammengeknotet hatte. Er lachte wie wahnsinnig und fing eine Taube nach der anderen ein.
„Verdammte Scheiße“, pfiff Hanson und sah sich verzweifelt um. Er sah im Getöse nirgendswo noch Vögel, die für ihn übrig blieben. Und wenn er einen sah, dann schnappte sich der Teufel das Täubchen direkt vor seiner Nase weg.
„Taubenjagd!“, schrie der Teufel entzückt. „Es ist die Taubenjagd, die die Fallenden fliegen lässt! Oh süße Taubenjagd.“
Boeing Hanson musste seine Taktik verändern. Er klemmte sich so viele seiner Tauben wie möglich unter den Gürtel. Zwei entwischten ihm dabei wieder, aber sein Genital, das von hackenden Vogelschnäbeln allmählich in die Enge getrieben wurde, dankte ihm dafür.
Boeing Hanson legte die Arme an und vervielfachte sein Falltempo dadurch, um sich dem nackten Teufel unter ihm zu nähern. Der Teufel selbst, war so im Bann seiner eigenen Vogelernte, dass er Hanson gar nicht kommen sah.
Er lachte immer noch, als Hanson wie eine Pistolenkugel mit dem Kopf voran in das Kreuz des Höllenfürsten donnerte. Alle Tauben flatterten Hanson aus der Hose. Der Teufel spie kurzzeitig Stichflammen aus dem Maul und hustete Rauch aus, als das Rückrad des Teufels durch Hansons Einschlag kurzzeitig die V-Formation der Vogelschwärme angenommen hatte.
Seine Finger spreizten sich krampfhaft und ließen sowohl Mistgabel als auch Hosenbund los.
„Bist du wahnsinnig, Boe?“, rief er zornig. „Das Kreuz ist die Schwachstelle des Teufels, verdammte scheiße! Das ist unfair.“
Hanson hörte nicht auf das Reden des fallenden, gefallenen Engels, drehte sich im Sturz und packte den Jeanshosensack des Teufel, der bis zum Überlaufen mit zappelnden Lebewesen gefüllt war. Die Hosenbeine richteten sich bereits auf wie die zuckenden Löffel eines blauen Stoffkaninchens.
„Das sind meine!“, grunzte der Teufel. „Schiebung! Schummelei! Auszeit, Auszeit!“ Er formte mit beiden Händen ein behelfsmäßiges T.
Hanson hielt sich mit beiden Armen an dem dicken Beutel fest. „Nix da!“
„Das ist doch unerhört.“
Autos hupten. Straßenlärm wurde unangenehm laut. Und jetzt, wo Boeing Hanson sich dem Boden näherte, schien die Straße gar nicht mehr so schwarz, wie noch vor kurzem von dort oben. Er konnte den Regenfall auf dem Asphalt aufschlagen sehen, wie weiße Gischt, die gespreizten Flügel von tausend winzigen weißen Schwänen, die in noch viel winzigere weiße Federschrapnelle zersprangen, sobald ihre weißen Schwingen den Asphalt berührten. Die Straße strahlte leuchtend weiß.
Das Spiel würde nur noch für wenige Sekunden so weitergehen. Aber er hatte dem Teufel sämtliche Tauben gestohlen und ohne den Dreizack, schien sein Kontrahent Schwierigkeiten damit zu haben, überhaupt noch eine der Tauben zu erwischen. Und jetzt, wo Hanson tatsächlich einmal in seinem Leben am Gewinnen war, wollte er irgendwie gar nicht mehr unten ankommen. Er hatte geglaubt, dass ihm der Sieg vielleicht ein gutes Gefühl mit in den Tod geben würde. Aber wo war dieses Gefühl nun, jetzt wo er mit dem Fullhouse auf der Hand in sein Grab fiel. Hatte er etwas erreicht? War er jetzt etwa ein Sieger geworden, nur weil er den Teufel höchstpersönlich besiegt hatte?
Die Antwort fiel ihm leicht und fiel ihm schwer:
Nein.
Boeing Hanson packte die ausgeblichene Jeanshose des Teufels an den zusammengeknoteten Beinen und öffnete den Sack. Er fiel rücklings in die Tiefe und sah zu, wie eine ungeheure Anzahl an Tauben wie eine losgelassene Staubwolke in den Himmel hinauf stieß. Die Wolkendecke brach entzwei und ließ eine Kerbe aus Sonnenlicht auf sie hinab scheinen. Er beobachtete, wie die Vögel ihre Farbe änderten. Von Schwarz zu Weiß, von Weiß zu Grau. Je nachdem ob sie in den Schein des Wolkenbruchs hinein oder hinausflogen. Er schloss die Augen.
Und Boeing Hanson landete auf dem Asphalt der Second-Fourth ohne auch nur eine einzige Taube dabei zu haben.
Der Teufel donnerte mit einem gewaltigen Knacken in den Straßenasphalt. Ein Geräusch, als wenn ein Riese in einen sehr großen Apfel hineinbeißt. Autos kamen mit quietschenden Reifen zum Stillstand. Menschen schrien erschrocken auf. Der Platzregen legte sich von der einen auf die andere Sekunde, als hätte sich ein gigantischer Schirm über den Köpfen der New Yorker gespannt.
Der Teufel lag nackt auf dem nassen Asphalt, der in einem Umkreis von zwei Metern um ihn herum, tiefer in den Boden hineingedrückt worden war. Sein Kopf löste sich langsam aus dem Straßenbelag, dampfte an den Schaubenziehern. Vom Sturz immer noch benommen, blickte er sich fragend um. Bestürzte Männer-, Frauen- und Kindergesichter gafften ihn an. Einige Mütter hielten ihren Söhnen eine Hand vor die Augen, als sie den blanken Hintern des Mannes erkannten. Der Teufel stöhnte.
„Was glotzt ihr so?“ Er stand auf und klopfte sich den Staub ab. „Keinen Sinn für stumpfen Nervenkitzel? Geht doch weiter, wenn's euch nicht gefällt. Meine Fresse.“ Er legte sich eine Hand an die qualmende Stirn. „Oh, halleluja.“
Aber als er sich weiter umsah, konnte er keinen weiteren Mann erkennen, der in den Erdboden eingeschlagen war. Weit und breit versammelten sich die Schaulustigen allein um ihn.
„Hat hier jemand einen deutschen Touristen gesehen? Leicht depressiv?“
Eine erschreckend hohe Anzahl deutscher Touristen mit Sonnenbrillen, die an Bändchen um den Hals hingen und viel zu kurzen, engen Hosen traten aus der Menge hervor.
„Nein, verdammt! Müsste kurz vor mir angekommen sein. Mit vielen Tauben im Gepäck. Hat ihn denn keiner gesehen?“
Die Deutschen sahen sich jetzt gegenseitig fragend an, ganz nach dem: Wir Deutschen müssen ja zusammen halten, wenn wir einen verlieren, gell? Ach was, sie sind auch Deutscher? Nein! - Motto. Einige nickten sich freundlich zu.
Der Teufel ließ sich zurück auf den Asphalt fallen. Am Himmel entdeckte er einen weit entfernten, winzigen Punkt, der genau so gut eine Taube wie ein Flugzeug hätte sein können. Sehr weit oben. Leuchtete leicht im Sonnenlicht.
„Looks like a fucking Boeing“, sagte er. Und dann musste der Teufel lange Zeit lachen.