- Beitritt
- 08.11.2001
- Beiträge
- 2.833
Tara, Mutter und ich
Tara, Mutter und ich
Natürlich, ich weiß. Jede Mutter sagt über ihr Kind, es sei etwas Besonderes. Das hat – trotz allem – sogar meine Mutter von mir gesagt. Wie sie es gemeint hat, wenn sie mit diesem leidgeprüften, vielgeübten Seufzer von sich gegeben hat "Ja, Lisa ist schon etwas ganz Besonderes", naja, das ist wohl keinem verborgen geblieben. Aber immerhin. Ich meine: Sie hat es erkannt. Wenn schon nicht verstanden.
Dass meine Tara etwas Besonderes ist, versteht sich wohl von selbst. Die Meinung meiner Mutter? Ihr Seufzen hat einen hilflos-resignierten Unterton bekommen, würde ich sagen.
Ich sehe ein, wenn ich jetzt nur sage, dass es so ist, dann sagt das alles und nichts über meine Kleine. Dabei gibt es so viel zu erzählen.
Tara hat zuerst einmal ein Problem: Sie kann nicht lesen. Selbstverständlich noch nicht, sie ist ja erst vier, aber sie hält es nun mal für ein Problem. Also ist es eins.
Da sind Menschen und Geschichten in Bücher eingesperrt und ohne mich kommt sie nicht heran. Wenn sie die Bücher aufschlägt, kann sie sie einfach nicht rauslassen.
Neulich hat sie mir erzählt, wie sie das Märchenbuch geschüttelt hat, damit sie rausfallen. Aber sie hatte wohl den Eindruck, dass alle sieben Zwerge entweder Angst hatten, oder irgendeine Tür nicht aufbekamen. Denn sie sind ja so klein und da ist das mit den Klinken und Griffen schwierig. Auch so ein Problem für Tara. Deshalb versteht sie Zwerge.
Seit diesem Gespräch verstehe ich auch den Zustand des Märchenbuches. Sie hat wohl versucht, sie hinten rauszulassen und dabei wenig Mitleid mit dem Buchrücken gehabt. War ein Geschenk von meiner Mutter. Deshalb hat Tara auch geweint. Ein wenig. Wegen des zornigen Blicks und der lauten Stimme. Meine Mutter versteht sie nie. Es hätte doch funktionieren können. Und nichts weiter hat Tara doch gewollt.
Abends, als Mutter gegangen war, haben Tara und ich vor dem Buch gesessen. Es hat schon bedrohlich ausgesehen, mit der offenen Hintertür mitten auf dem Wohnzimmerteppich, aber Tara war immer noch einfach nur neugierig. Ich hab sie dann gefragt, ob wir die Tür wieder zumachen sollen. "Nein!", fröhlich, trotzig, entschieden, Tara eben.
Schließlich hab ich entscheiden, dass wir es dann wieder ins Krankenzimmer legen sollen. Und ich hab sie für ihren Mut bewundert, weil sie einfach "Ja" gesagt hat. So, als wäre nichts dabei.
An den bösen Wolf, die Räuber und die Knusperhexe hat sie da bestimmt noch nicht gedacht. Dann hat sie sich aber doch Sorgen gemacht, ob die nachts nicht doch losmarschieren. Und was dann alles passieren könnte. Auch den Zwergen und dem Wolf und so.
Schließlich haben wir zusammen entschieden, dass man es denen nicht so leicht machen sollte. Also haben wir das große Klebeband geholt und die Tür wieder ganz fest zugemacht.
Zur Sicherheit haben wir das Buch dann in der ersten Nacht noch mitten auf den Küchenboden gelegt und eine Mehlspur drumrumgezogen. Am nächsten Morgen war nicht ein Fußabdruck darin und seitdem liegt das Buch wieder im Kinderzimmer.
Wegen der ganzen Sache bin ich unheimlich stolz auf meine Kleine, das ist ja wohl klar. Ich hatte in ihrem Alter viel mehr Angst. Auch vor dem bösen Wolf. Und natürlich vor meiner Mutter. Die hat mir vom Wolf vorgelesen. Lange her. Ab und zu. Aber Tara hat vor keinem von beiden wirklich Angst. Sie denkt nur nach über sie.
Mit Tara zu reden, ist als ob man auf einmal ganz große Augen bekommt und dann ergießt sich die ganze Welt auf einmal da hinein. Und dann rudert man in allem herum und fischt etwas heraus, das ganz anders ist, als man bisher gedacht hat. Das liegt daran, dass sie dieselben Dinge sieht, wie ich. Nur manchmal genauer. Letzte Woche zum Beispiel, das war so:
Meine Mutter hatte uns zum Essen eingeladen. "Damit das Kind mal was Anständiges kriegt. Nicht immer dieses Zeug..." Niemand auf der Welt sagt "Zeug" mit so viel Abscheu, wie meine Mutter. Dabei ist das doch nichts schlechtes, beim Bio-Laden einzukaufen. "Geldverschwendung", "Pseudokram", "Kräuterkekse". Meine Mutter kennt manchmal komische Worte, wenn’s ums Essen geht.
Als sie dann diese niedlichen Kleckse auf unsere Teller gezaubert hatte, fing Tara plötzlich erst an zu kichern, dann schob sie es von sich weg.
"Aber Kindchen, jetzt iss doch das feine Gemüse!" "Schmeckt nicht!" Meine Mutter behielt ihre Nerven nur, weil sie nach dem Wasserglas griff und sich zuvor den Mund abtupfte. Vor dem Essen. "Probier es doch erst!" "Nein!" Jetzt drückte sie die Servierte zu fest.
"Was bringst Du diesem Kind bloß bei?" Gar nichts, liegt mir auf der Zunge. Aber das wird sie gegen mich verwenden. Sie verwendet alles gegen mich. Egal, wie ich es gemeint habe. Tara ist da anders.
Sie grinst über ihren Teller zu mir rüber. "Warum?", frage ich. "Weil das Fabrik-Erbsen sind", sie ist sich da ganz sicher. "Was sind Fabrik-Erbsen?", ich bin nicht so sicher. "Das sind solche, die nicht einfach wachsen, die werden von einer Maschine gemacht." Sie macht mit ausgestreckten Armen so eine Bewegung wie eine große Presse, die anschließend etwas Kleines ausspuckt. "Woher weißt Du das?", ich bin wirklich begeistert von meiner Kleinen. "Sie sind alle gleich. Rund, glatt, und alle so grün." Natürlich. Das hätte ich schon vor langer Zeit sehen müssen. Bei meiner Mutter ist alles aus der Fabrik. Steaks haben alle dieselbe Form, so wie Schuhsohlen, Bratkartoffeln in geraden Scheiben wie kleine Schallplatten, Speckwürfel sind wirklich Würfel, nur kann man die Zahlen nicht erkennen und Tara kann das sowieso noch nicht so gut.
Meine Mutter legt glatt und sauber ihre Servierte zusammen und verlässt für ein paar Minuten das Zimmer. Ich hoffe sehr, dass sie ausrastet, sobald sie im Bad ist. Aber ich hab da so meine Zweifel.
Währenddessen erklärt mir Tara, wie man diese Erbsen herstellt. Und dann reden wir darüber, dass Taras Bauklötze so ähnlich aussehen, wie das Essen bei meiner Mutter. Als sie zurückkommt, machen wir beide die Pressenbewegung. Dann schaufeln wir das Essen in uns rein, als wären wir Roboter. Denn die essen wohl Maschinenfutter.
Manchmal ist meine Mutter wirklich humorlos. Sie konnte nicht mal lachen. Nur ein Kopfschütteln. An ihrer Stelle lachen wir.
"Wo soll all das bloß hinführen, Kind?" "Warum?", will ich fragen. Aber das wird sie gegen mich verwenden.
[ 08.08.2002, 07:43: Beitrag editiert von: arc en ciel ]