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Tara, Mutter und ich

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08.11.2001
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Tara, Mutter und ich

Tara, Mutter und ich

Natürlich, ich weiß. Jede Mutter sagt über ihr Kind, es sei etwas Besonderes. Das hat – trotz allem – sogar meine Mutter von mir gesagt. Wie sie es gemeint hat, wenn sie mit diesem leidgeprüften, vielgeübten Seufzer von sich gegeben hat "Ja, Lisa ist schon etwas ganz Besonderes", naja, das ist wohl keinem verborgen geblieben. Aber immerhin. Ich meine: Sie hat es erkannt. Wenn schon nicht verstanden.
Dass meine Tara etwas Besonderes ist, versteht sich wohl von selbst. Die Meinung meiner Mutter? Ihr Seufzen hat einen hilflos-resignierten Unterton bekommen, würde ich sagen.
Ich sehe ein, wenn ich jetzt nur sage, dass es so ist, dann sagt das alles und nichts über meine Kleine. Dabei gibt es so viel zu erzählen.

Tara hat zuerst einmal ein Problem: Sie kann nicht lesen. Selbstverständlich noch nicht, sie ist ja erst vier, aber sie hält es nun mal für ein Problem. Also ist es eins.
Da sind Menschen und Geschichten in Bücher eingesperrt und ohne mich kommt sie nicht heran. Wenn sie die Bücher aufschlägt, kann sie sie einfach nicht rauslassen.
Neulich hat sie mir erzählt, wie sie das Märchenbuch geschüttelt hat, damit sie rausfallen. Aber sie hatte wohl den Eindruck, dass alle sieben Zwerge entweder Angst hatten, oder irgendeine Tür nicht aufbekamen. Denn sie sind ja so klein und da ist das mit den Klinken und Griffen schwierig. Auch so ein Problem für Tara. Deshalb versteht sie Zwerge.
Seit diesem Gespräch verstehe ich auch den Zustand des Märchenbuches. Sie hat wohl versucht, sie hinten rauszulassen und dabei wenig Mitleid mit dem Buchrücken gehabt. War ein Geschenk von meiner Mutter. Deshalb hat Tara auch geweint. Ein wenig. Wegen des zornigen Blicks und der lauten Stimme. Meine Mutter versteht sie nie. Es hätte doch funktionieren können. Und nichts weiter hat Tara doch gewollt.

Abends, als Mutter gegangen war, haben Tara und ich vor dem Buch gesessen. Es hat schon bedrohlich ausgesehen, mit der offenen Hintertür mitten auf dem Wohnzimmerteppich, aber Tara war immer noch einfach nur neugierig. Ich hab sie dann gefragt, ob wir die Tür wieder zumachen sollen. "Nein!", fröhlich, trotzig, entschieden, Tara eben.
Schließlich hab ich entscheiden, dass wir es dann wieder ins Krankenzimmer legen sollen. Und ich hab sie für ihren Mut bewundert, weil sie einfach "Ja" gesagt hat. So, als wäre nichts dabei.
An den bösen Wolf, die Räuber und die Knusperhexe hat sie da bestimmt noch nicht gedacht. Dann hat sie sich aber doch Sorgen gemacht, ob die nachts nicht doch losmarschieren. Und was dann alles passieren könnte. Auch den Zwergen und dem Wolf und so.
Schließlich haben wir zusammen entschieden, dass man es denen nicht so leicht machen sollte. Also haben wir das große Klebeband geholt und die Tür wieder ganz fest zugemacht.
Zur Sicherheit haben wir das Buch dann in der ersten Nacht noch mitten auf den Küchenboden gelegt und eine Mehlspur drumrumgezogen. Am nächsten Morgen war nicht ein Fußabdruck darin und seitdem liegt das Buch wieder im Kinderzimmer.
Wegen der ganzen Sache bin ich unheimlich stolz auf meine Kleine, das ist ja wohl klar. Ich hatte in ihrem Alter viel mehr Angst. Auch vor dem bösen Wolf. Und natürlich vor meiner Mutter. Die hat mir vom Wolf vorgelesen. Lange her. Ab und zu. Aber Tara hat vor keinem von beiden wirklich Angst. Sie denkt nur nach über sie.

Mit Tara zu reden, ist als ob man auf einmal ganz große Augen bekommt und dann ergießt sich die ganze Welt auf einmal da hinein. Und dann rudert man in allem herum und fischt etwas heraus, das ganz anders ist, als man bisher gedacht hat. Das liegt daran, dass sie dieselben Dinge sieht, wie ich. Nur manchmal genauer. Letzte Woche zum Beispiel, das war so:
Meine Mutter hatte uns zum Essen eingeladen. "Damit das Kind mal was Anständiges kriegt. Nicht immer dieses Zeug..." Niemand auf der Welt sagt "Zeug" mit so viel Abscheu, wie meine Mutter. Dabei ist das doch nichts schlechtes, beim Bio-Laden einzukaufen. "Geldverschwendung", "Pseudokram", "Kräuterkekse". Meine Mutter kennt manchmal komische Worte, wenn’s ums Essen geht.
Als sie dann diese niedlichen Kleckse auf unsere Teller gezaubert hatte, fing Tara plötzlich erst an zu kichern, dann schob sie es von sich weg.
"Aber Kindchen, jetzt iss doch das feine Gemüse!" "Schmeckt nicht!" Meine Mutter behielt ihre Nerven nur, weil sie nach dem Wasserglas griff und sich zuvor den Mund abtupfte. Vor dem Essen. "Probier es doch erst!" "Nein!" Jetzt drückte sie die Servierte zu fest.
"Was bringst Du diesem Kind bloß bei?" Gar nichts, liegt mir auf der Zunge. Aber das wird sie gegen mich verwenden. Sie verwendet alles gegen mich. Egal, wie ich es gemeint habe. Tara ist da anders.
Sie grinst über ihren Teller zu mir rüber. "Warum?", frage ich. "Weil das Fabrik-Erbsen sind", sie ist sich da ganz sicher. "Was sind Fabrik-Erbsen?", ich bin nicht so sicher. "Das sind solche, die nicht einfach wachsen, die werden von einer Maschine gemacht." Sie macht mit ausgestreckten Armen so eine Bewegung wie eine große Presse, die anschließend etwas Kleines ausspuckt. "Woher weißt Du das?", ich bin wirklich begeistert von meiner Kleinen. "Sie sind alle gleich. Rund, glatt, und alle so grün." Natürlich. Das hätte ich schon vor langer Zeit sehen müssen. Bei meiner Mutter ist alles aus der Fabrik. Steaks haben alle dieselbe Form, so wie Schuhsohlen, Bratkartoffeln in geraden Scheiben wie kleine Schallplatten, Speckwürfel sind wirklich Würfel, nur kann man die Zahlen nicht erkennen und Tara kann das sowieso noch nicht so gut.
Meine Mutter legt glatt und sauber ihre Servierte zusammen und verlässt für ein paar Minuten das Zimmer. Ich hoffe sehr, dass sie ausrastet, sobald sie im Bad ist. Aber ich hab da so meine Zweifel.
Währenddessen erklärt mir Tara, wie man diese Erbsen herstellt. Und dann reden wir darüber, dass Taras Bauklötze so ähnlich aussehen, wie das Essen bei meiner Mutter. Als sie zurückkommt, machen wir beide die Pressenbewegung. Dann schaufeln wir das Essen in uns rein, als wären wir Roboter. Denn die essen wohl Maschinenfutter.
Manchmal ist meine Mutter wirklich humorlos. Sie konnte nicht mal lachen. Nur ein Kopfschütteln. An ihrer Stelle lachen wir.

"Wo soll all das bloß hinführen, Kind?" "Warum?", will ich fragen. Aber das wird sie gegen mich verwenden.

[ 08.08.2002, 07:43: Beitrag editiert von: arc en ciel ]

 

hi svart!

lieben Dank für Dein Lob. Ich hatte ganz dringend das Gefühl, ich müßte ma wieder etwas Positives schreiben, und nicht immer Mord und Mißhanldung und sowas...

Die Bindestriche hab ich rausgenommen. Natrlich waren sie keine Absicht. ;)

Lieben Gruß,
Frauke

 

guten morgen, frauke. eine geschichte, die wirklich aufbaut. richtig. kinder sehen zwar die gleichen dinge wie wir, aber nicht nur genauer, sondern auch ohne vorurteile und klischees. man sollte als erwachsener wirklich mehr darüber nachdenken, statt immer gleich (und gedankenlos) den mahnfinger zu erheben. das werde ich mir selber zu herzen nehmen im umgang mit meinen enkeln.

Einige dinge hast du wirklich toll formuliert, z.b.

Zur Sicherheit haben wir das Buch dann in der ersten Nacht noch mitten auf den Küchenboden gelegt und eine Mehlspur drumrumgezogen
- nette idee, finde ich.

Dabei ist das doch nichts schlechtes, beim Bio-Laden einzukaufen. "Geldverschwendung", "Pseudokram", "Kräuterkekse". Meine Mutter kennt manchmal komische Worte, wenn’s ums Essen geht.
weil sie nach dem Wasserglas griff und sich zuvor den Mund abtupfte. Vor dem Essen.
insgesamt kann ich sagen, dass mir so eine positive geschichte von dir sehr gut gefällt. liebe grüße. ernst

 

Hi Frauke,

deine Geschichte ist sehr einfühlsam erzählt. Man spürt die Liebe zu deiner Tochter und den Generationenkonflikt, den niederzulegen deine Mutter nicht wirklich in der Lage ist. Einiges davon kam mir bekannt vor beim Lesen und ich musste bei einigen Sätzen lächeln, aber auch nachdenken.
Super gemacht von dir.

Liebe Grüße - Aqualung

 

hi Ihr beiden!
lieben Dank für Euer Lob.

Ich weiß, ich schreibe sonst oft so, als gäbe es nur schlechtes auf diesem Planeten ... kann ja noch nicht mal eine "Romantik-Story" ohne Sad End schreiben...
desalb - wie gesagt - mal was ganz anderes.
Ich würde gern öfter mit Kinderaugen sehen, was so um mch rum vorgeht.

@Aqualung:
Verstehe ich Deine Formulierungen richtig? meinst Du mit "Deine Tochter / Mutter", daß es wirklich u MEINE Familie geht? oder bezieht sich das auf die erzählten Charaktere? :D

Also: meine Mutter ist ganz anders. Ich bin leider auch nicht so, wie das "Ich" der KG. Und eine Tochter (oder überhaupt Kinder) habe ich auch nicht.

Das hier ist mal wieder nur "ausgedacht". Wahr ist aber, daß ich Kinder mag und bestimmt eher die Mutter wäre, die das Mehl in die Küche kippt, als die, die alles mißbilligt ;)

Ich finde es schön, wenn man Kinder wirklich ernst nimmt und ihre Welt als mindestens ebenso real akzeptiert, wie die der "Erwachsenen"...

Außerdem fragt Taras Mutter genau das, was wohl eigentlich Tara fragen müßte ( Warum? Wie? Wieso? ) ... und sofort übernimmt Tara die Rolle, ihre Welt zu erklären... interessantes Experimen, daß sich da in meinem Kopf ausgebreitet hat.
Ich sollte das dringend mal mit den kindern meiner Freunde und Freundinnen ausprobieren... geht nur nicht von heute auf morgen... :D

Lieben Gruß,
Frauke

 

HI Arc,

wunderschöne Geschichte! Man sollte viel mehr versuchen, die Welt mit Kinderaugen zu betrachten, dann bieten die Dinge noch eine ganz andere Faszination!

Schöne Formulierungen hast Du drin, besonders schmunzeln musste ich u.a. auch bei:

Als sie zurückkommt, machen wir beide die Pressenbewegung. Dann schaufeln wir das Essen in uns rein, als wären wir Roboter. Denn die essen wohl Maschinenfutter.
viele grüße,
philipp.

 

hi Philipp!

danke für Dein Lob.
Ja, ich habe versucht, wieder ein wenig mehr mit Kinderaugen um mich zu sehen, seit ich festgestellt habe, daß ich furchtbarerweise sowas wie erwachsen werde. Ich will das nicht wirklich. also schreibe ich dagegen an. ;)

Schön, wenn die Geschichte den ein oder anderen sowohl zum Schmunzeln als auch zum Denken anregt..

Lieben Gruß,

Frauke

 

Hallo Frauke,

diese Story ist einfach wunderschön. Sie ist erheiternd, aber gleichzeitig sehr sensibel erzählt. :)

Man spürt das Einverständnis zwischen Mutter und Kind sehr gut – während Tara`s Oma von diesem ausgeschlossen bleibt.

Etwas iss mir aufgefallen:

"Wo soll all das bloß hinführen, Kind?" "Warum?", will ich fragen.

Das „Warum“ passt irgendwie auf diese Frage nicht.

Liebe Grüße!
Liz

 

hi Liz!

ja, ich hatte beim Schreiben auch Spaß. ;)
das mit dem Warum ist schon so gedacht. Aber ich war schon davon ausgegangen, daß es keinem auffällt, weil es noch niemand kommentiert hat.
Ich weiß schon, daß die Gegenfrage nicht paßt. Aber es ist genau die Frage, die Kinder stellen, oder nicht?

Und weil Tara's Mutter eben auch sehr "kind-haft" ist, stellt sie solche Fragen eigentlich. Nur kennt sie ja auch schon die Reaktion ihrer Mutter. Also verkneift sie sich die Frage diesmal ;)

Schön, daß Dir der Text gefallen hat und vielen Dank für Dein Lob.

Lieben gruß,

Frauke

 

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