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Tanz mit dem Wind
Tanz mit dem Wind
1
Der Wagen rüttelte und bockte auf dem dunklen Waldweg.
Dunkel wie meine Gedanken, dachte Karin.
Bauarbeiter hatten den Boden neben dem Weg aufgerissen. Die ausgehobene Erde lag aufgetürmt zu einem unkrautbewachsenen Damm.
"Die Anschlüsse sind alle verlegt", sagte der Makler.
Karin wusste nicht genau, wieviele Häuser sie in der vergangenen Woche besichtigt hatten. Irgendwann war es ihr zuviel geworden und sie hatte das Zählen aufgegeben.
"Weshalb wurde der Graben nicht wieder zugeschüttet?", fragte ihr Mann. Der Makler antwortete nicht.
Karin starrte aus dem Fenster. Eine orangegelbe Baumaschine stand schräg zwischen zwei Bäumen. Kleine, junge Büsche wuchsen zwischen den Rädern.
Der Wagen folgte einer Kurve. Der Wald weitete sich zu einer Lichtung.
"Wir sind da." Der Makler fuhr auf die Seite und stoppte. Zögernd öffnete er die Tür.
Karin stieg aus. Sie blickte in den Himmel über ihr. Schwarze, wasserschwere Gewitterwolken bedeckten ihn ohne Lücken. Ein Frösteln überzog Karin. Sie schloss die Knöpfe ihrer Jacke und versteckte ihre Hände tief in den Taschen. Alleine stand sie neben dem Wagen. Die beiden Männer waren gegangen, ohne auf sie zu warten.
Die Lichtung war groß. Auf einer Anhöhe stand der kleine Bungalow, ein grauer Schatten vor dem düsteren Himmel des Nachmittags.
Karin ging nicht auf das Haus zu. Ihr Ziel war der Himmel neben ihm. Sie folgte dem sanften Anstieg, der bis in die Unendlichkeit zu reichen schien - und plötzlich senkrecht nach unten abfiel. Vierzig, fünfzig Meter hoch war die Klippe. Der Ausblick war überwältigend. Im Westen die geschäftige Stadt, im Norden ... das Meer.
Am Horizont zuckte der erste Blitz hinunter.
"Karin!"
Sie drehte sich. Der Rand des Waldes war ein großer Halbkreis, der sie als Mittelpunkt hatte. Mehrere Felsblöcke bildeten eine Sitzgruppe, zwischen ihnen, in der Erde eingelassen, eine Metallplatte. Karin kniete nieder und wischte den Sand zur Seite.
Nur ein Wort stand dort: "Danke!"
Sie erhob sich und sah erneut hinaus auf das Meer.
"Karin!", rief ihr Mann, ungeduldiger und fast befehlend.
"Ich komme", murmelte sie als Antwort.
Dicht trat sie an den Abgrund. Tief unten schlugen die ersten Vorboten des Sturms die Wellen schaumig an den Strand. Ein Windstoß zerrte an Karins Kleidern.
Nein, dachte sie, dieser Ort ist nicht gut für mich. Er ist mir zu ähnlich.
Abrupt wendete sie sich ab und ging auf den Bungalow zu.
Das Haus war erst ein paar Jahre alt, die meiste Zeit hatte es leer gestanden. Die Fenster waren blind, die Wände kahl und schmutzig.
Richard zog missbilligend die Augenbrauen zusammen, als sie neben ihn trat.
"Die Lage ist ideal", sagte er. "Fast genau in der Mitte zwischen der Stadt und der Fabrik."
Karin nickte schweigend. Er würde seine Entscheidung treffen, ohne auf ihre Meinung Rücksicht zu nehmen.
"Aber weshalb ist es so billig?", bohrte er nach.
Der Makler wand sich.
"Aberglaube. Die Einheimischen nennen es die Geisterklippe oder auch Selbstmörderklippe." Er sprach sehr schnell. "Natürlich gibt es hier keine Selbstmörder. Genauso wenig, wie es Geister gibt. So weit ich weiß. - Es gibt allerdings Berichte von einigen, die sich tatsächlich hier oben das Leben nehmen wollten und es nicht fertigbrachten."
Danke!, hallte es in Karins Gedanken.
"Es sind alles nur Ammenmärchen. Überreizte Phantasie oder was weiß ich."
2
Karin war immer stolz auf ihr handwerkliches Geschick gewesen. Und es gab viel zu tun in ihrem neuen Heim. Sie begann systematisch und der unübersehbare Erfolg ihrer Bemühungen trieb sie weiter an. Oft hielt sie in ihrer Tätigkeit inne und sah aus einem der Fenster hinaus auf das blaue, ruhige Meer. In den ersten Tagen half Richard ihr. Aber dies war nicht die Arbeit, die er mochte. Bald verschwand er früh am Morgen in der Fabrik und kam erst spät am Abend wieder. Deshalb hatte sie Zeit, genügend Zeit für sich selbst.
Es dunkelte, als sie einen der letzten Umzugskartons öffnete. Eine unfertige, tönerne Vase fiel ihr entgegen. Die Vase war das Geschenk eines Jungen. Nicht sie war die Beschenkte gewesen, sondern ihre ältere Schwester.
Sie war zwölf gewesen, als ihre Schwester ihren ersten Freund mit nach Hause gebracht hatte. Karin hatte ihn mit großen Augen angestarrt und sich in ihn verliebt. Doch er hatte sie, die kleine Schwester, nicht beachtet. Er war freundlich gewesen, gewiss, aber ... Eifersüchtig hatte sie das Paar beobachtet und belauscht, und sie hatte dabei vor innerem Schmerz geweint. Ihr hätten die Zärtlichkeiten gelten müssen, nur ihr, denn sie hatte sich nach ihnen gesehnt.
Sie war hübscher, und trotzdem waren die Freunde ihrer Schwester immer die Besseren gewesen. Ohne darüber nachzudenken hatte sie eines Tages die Vase aus dem Zimmer ihrer Schwester gestohlen und versteckt.
Zu viel Zeit war seitdem vergangen, als dass sie sie einfach hätte zurückgeben können. Aber sie wegzuwerfen, war auch nicht der richtige Weg. Die Vase begleitete sie als immerwiederkehrende Mahnung an ihre Schuld.
Sie hatte nie verstanden, weshalb ihre magere, eckige Schwester diesen Erfolg bei den richtigen Männern hatte, während sie, die doch viel jünger und weiblicher war, abseits stand oder von ihren schnell wechselnden Freunden getreten wurde.
Karin schloss die Augen. Sie kannte die Vorzeichen ihrer Traurigkeit nur allzu gut. Sie kannte den Teufelskreis der Gedanken, und sie kannte die Unmöglichkeit, ihn zu durchbrechen. Ein kühler Luftzug streifte sie.
Ihre Schwester war intelligenter, zielstrebiger, selbstbewusster und traf immer die richtigen Entscheidungen. Auch Karin hatte viele Entscheidungen in ihrem Leben treffen müssen. Mit traumwandlerischer Sicherheit waren es ausnahmslos die falschen gewesen. Ihre Heirat ...
Karin lauschte in sich hinein. Sie wusste, dass sie sich auf dem Kreis weiterbewegen würde, ohne die winzigste Aussicht, ihn verlassen zu können. Es war sinnlos, sich dagegen aufzulehnen. Es war sinnlos, zu versuchen, sich aufzulehnen.
Bitte ... bitte lass es diesmal schnell vorbeigehen!
Nicht, dass ihrer Schwester alles in den Schoß gefallen wäre. Sie büffelte für die Schule, genauso wie sie, aber es fiel ihr leichter. Ihre Beurteilungen waren immer besser gewesen, während Karin ... Ich war, ich bin einfach nur dumm. Dumm. DUMM!
Ein kalter Wind umwirbelte Karin. Eine Gänsehaut überzog sie. Ihre Zähne klapperten. Sie zog die Schultern zusammen und verschränkte die Arme wärmend vor ihrer Brust. Sie öffnete ihre traurigen Augen. Ihr Blick fiel auf die Vase. Ihre Schwester hatte das hässliche Ding nie vermisst.
Irgendwann muss es ein Ende haben, dachte Karin. Sie warf die Vase in den Mülleimer.
3
Karin liebte die Klippe. Oft saß sie auf dem Felsen und sah stundenlang auf das Meer hinaus. Sobald es dunkelte, sobald die Kühle der beginnenden Nacht sie umstreichelte, begann sie mit ihm zu reden. Am Anfang nur in ihren Gedanken, dann laut. Das Meer war ein guter Freund. Es bedauerte sie, litt mit ihr, munterte sie auf und schwieg und lachte rauschend an den richtigen Stellen. Immer später wurde es, bevor sie ins Haus zurückkehrte. Zu Richard, der sich auf sie legte, sich befriedigte, sich von ihr abwendete und einschlief.
Sie träumte. Sie träumte von einem Mann in der Ferne, der langsam näherkam. Zuerst dachte sie, es sei Richard, denn er hatte sein Gesicht. Aber sie zweifelte. Sie war sich sicher, dass er es nicht sein konnte, und das Gesicht verschwamm, formte sich neu und es wurde ein anderes. Karin wusste, dass sie dieses Gesicht nie zuvor gesehen hatte, und es kam ihr doch bekannt und vertraut vor.
Sie ging dem Mann entgegen. Sie waren beide nackt, in ihrem Traum. Der Mann lächelte. Karin lächelte. In einem absoluten Gleichklang hoben sie ihre Arme und ihre Fingerspitzen näherten sich. Irgendetwas floss zwischen ihnen. Irgendetwas schönes, intensives. Karin träumte einen Namen.
Dicht standen sie zusammen und berührten sich nicht und waren sich näher, als Worte beschreiben konnten. Karin schloss in ihrem Traum die Augen. Sie fühlte ihn. Ganz. Seine kühle Hand streichelte ihre Wange. Sie ergriff die Hand, presste sich in sie hinein und küsste sie. Dann, mit kaum gebremster Ungeduld, lenkte sie die Hand tiefer an ihrem Körper hinunter. Jede Berührung der Finger auf ihrer Haut ließ sie schwerer, schneller atmen.
Sie erwachte. Sie starrte in die Dunkelheit des Schlafzimmers.
"Ich will gar nicht wissen, was du geträumt hast", sagte Richard bissig und mit nur schwach verhaltener Wut.
4
Ich bin verrückt, dachte Karin.
Sie hatte es schon immer gewusst. Die Ärzte hatten auch nicht mehr herausgefunden. Sie benutzten nur andere Worte. Das große Übel.
Sie hatten ihren Kopf untersucht, ihn mit Kabeln an einer Maschine angeschlossen und wild gezackte EEGs betrachtet. Sie hatten ihren Kopf durchleuchtet, von vorn, von hinten, von allen Seiten, und am Ende hatten sie ihr Tabletten gegeben, die sie jeden Tag schlucken sollte.
Immer, wenn sie etwas sagte oder tat, das er nicht verstand oder nicht verstehen wollte, fragte Richard: "Hast du deine Pillen genommen?" Und wenn sie mit ja antwortete, glaubte er ihr nicht.
Die Ärzte hatten ihr ein Video gezeigt, in dem sie hilflos zuckend auf dem Boden lag. Sie erinnerte sich nicht daran. Sie erinnerte sich, dass sie aufgewacht war - ohne eingeschlafen zu sein.
Ich bin verrückt, dachte Karin. Mein Kopf tut nicht das, was ich will, sondern nur das, was er will.
Das Fenster in dem kleinen Raum, den sie als ihr Arbeitszimmer eingerichtet hatte, stand wie immer offen. Die Nacht war angenehm warm, und Karin konnte ungehindert auf das Meer hinaussehen. Eine kühle Brise umschmeichelte sie. Karin schloss ihre Augen. Ein Windhauch berührte ihre Lippen. Sie hielt den Atem an, um ihn nicht zu vertreiben. Der Hauch wanderte tiefer. Er fand die Öffnung zwischen den Knöpfen ihrer Bluse, strich an ihrem Körper entlang, liebkoste sie, um am Ende zurückzukehren zu ihrem Gesicht. Karins Brustwarzen wurden hart und rieben sich unter ihrem Atmen an ihrem Hemd.
Ich bin verrückt, dachte sie zitternd.
Sie nahm ein Blatt Papier und schrieb eine Geschichte. Sie handelte von einem jungen Mann, der von zu Hause ausriss, weil seine Eltern ihn belogen hatten, und den es in die Fremde verschlug, um dann Jahre später, hier, in dieser Stadt, in der Nähe des Hafens, falsche Freunde zu treffen. Es kam zu einem Streit, sie schlugen ihn, lange und schwer, bis er blutend auf dem Boden lag. Sie luden ihn in einen Wagen und warfen ihn außerhalb der Stadt hinaus in die Wildnis. Mit seinen letzten Kräften taumelte, kroch der junge Mann durch den Wald, die Anhöhe hinauf, die in den Himmel führte. Sein Blick war unverrückbar auf den Horizont gerichtet, auf das dunkle, rauschende Meer in der sternenlosen Nacht, als er - starb .
Karin weinte, und der Wind umarmte sie tröstend.
5
An diesem Tag war sie in der Stadt gewesen. Erst nach Einbruch der Nacht hatte sie die Rückkehr angetreten, trotz der steigenden Unruhe und der Sehnsucht in ihr. Der Taxifahrer weigerte sich, den Waldweg hinaufzufahren. Karin stieg aus und ging zu Fuß durch die Dunkelheit. Sie hatte keine Angst. Jeder Schritt brachte sie ihrem Heim näher.
Zwischen den dichten Sträuchern, versteckt, fast unsichtbar, schimmerte es weiß hervor. Zusammengekrümmt, die Knie krampfhaft umarmend, kauerte Richard zwischen den Wurzeln eines Baumes. Panikerfüllte Augen sahen Karin an.
"Es hasst mich", murmelte er. "Das Haus hasst mich."
Sie strich durch sein Haar und half ihm auf. Sie stütze ihn auf dem Weg zurück zum Haus.
"Was ist passiert?", fragte sie leise.
"Nichts!", antwortete er barsch und stieß sie von sich. "Vergiss es!"
Karin spürte einen eiskalten Wind vorbeiwehen. Angst, reine, pure Angst kroch in ihr empor. Sie sah sich um. Richards Haare flatterten in der plötzlichen Bö. Er wich zurück. Sein Blick sprang gehetzt hin und her. Der Ausdruck in seinen Augen war unmenschlich.
"Nicht!", flüsterte Karin flehend. "Bitte nicht!"
Der Wind legte sich.
6
Immer länger blieb Richard in der Fabrik. Immer später kam er nach Hause und schließlich mietete er eine Wohnung in der Stadt. Er stellte Karin vor vollendete Tatsachen, wie er es immer schon getan hatte und wie immer folgte sie seinen Wünschen.
Früh am Morgen begannen sie mit dem Packen. Richard drängte ungeduldig. Er warf, was er greifen konnte, wahllos und rücksichtslos zusammen. Am Mittag waren die Schränke leer und die Kartons verladen. Karin sah ein letztes Mal auf das Haus und das Meer, bevor sie in den Wagen stieg. Sie verabschiedete sich leise. In ihr hatte sie das bohrende, sichere Gefühl, einen unwiederbringlichen Verlust zu erleiden.
"Keiner hat es bisher so lange ausgehalten wie Sie", sagte der Makler.
Es heißt, dass in den folgenden Nächten das Jaulen einer gepeinigten Kreatur von der Klippe weit hinaus auf das Meer klang.
7
Was macht es schon aus, dachte Karin. Es ist nur eine falsche Entscheidung mehr.
Zwei Wochen - dann hatte sie ihren Koffer gepackt und ihren Mann verlassen. Er hatte nicht versucht, sie zurückzuhalten.
"Du bist verrückt", hatte er gesagt. "Verrückt und dumm."
Langsam stieg sie die Anhöhe hinauf. Sie stand vor dem Abgrund und schloss die Augen. Das Meer rauschte, doch es sprach nicht zu ihr. Der Wind wehte, aber er berührte sie nicht. Nach einer kleinen Ewigkeit öffnete sie die Augen. Sie stolperte zum Haus. Sie ging in den Wohnraum und stellte sich in seine Mitte. Sie breitete ihre Arme aus. Sie wartete. Vergeblich. Alle hatten sie recht gehabt. Die Ärzte, Richard, ...
Ich bin verrückt, dachte sie verzweifelt. Verrückt und dumm. Dumm. Dumm.
Tränen flossen über ihre Wangen. Einsam und verloren stand sie in dem leeren Raum. Sie konnte es nicht verhindern, sie wollte es nicht einmal, als ihre Gedanken in den endlosen, schmerzenden Kreis eintraten.
Ein kühler Luftstrom streichelte ihre Wangen. Sanft blies er ihre Tränen trocken. Für einige wenige Augenblicke verharrte Karin bewegungslos. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Vielleicht war sie verrückt, vielleicht war sie dumm ... Es war nicht mehr wichtig.
Sie umarmte den leeren Raum. Sie wiegte sich zu einer einfachen Melodie, die nur sie hören konnte. Sie wippte, sie drehte sich.
Erst langsam, dann schneller.
Sie tanzte mit dem Wind.
(c) by StarScratcher, May 2000