- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 18
Tanz mit dem Teufel
Tanz mit dem Teufel
01
Das stark zerklüftete Gebirge der schottischen Highlands war wegen des dichten Nebels kaum mehr zu erkennen. Die von Nordosten verlaufenden und von tiefen Schluchten durchschnittenen Bergketten bedeckte die dichte Decke eines Tiefausläufers aus Skandinavien.
Der sonst so schnell fließende Bach schien in lähmender Starre zu verharren, als ob er darauf wartete, dass etwas passieren würde. Ein Rabe, der sich am Ufer des Baches aufhielt, wurde durch die ungewöhnliche Hektik der alten Frau aufgescheucht. Sein Flügelschlagen durchbrach die Stille nur für einen kurzen Moment, dann wurde sein als Eindringen empfundener Lärm und er selbst vom Dunst verschluckt. Das Moor war wegen des unerwarteten Besuchers gebannt und zugleich in Erstaunen versetzt.
Sie war in Eile, trotz ihres Alters.
Die alte Frau blickte gehetzt hinter sich. Es war ihr dicht auf den Fersen.
Nicht nur ihre Schritte klangen durch das Aufschlagen ihres Krückstocks ungleichmäßig und holprig, auch der Weg, den sie beschritt, war ungleichmäßig und voller Stolperfallen. Sie war wegen der schlechten Sicht vom Weg abgekommen und lief nun so schnell sie konnte – ohne zu wissen wohin, weg. Einfach nur weg.
Sie stöhnte, als sie mit dem rechten Fuss gegen einen Stein stieß und keuchte, als sie eine kleine Anhöhe überwand. Ihre alten Lungen hatten die Grenzen ihrer Fähigkeiten erreicht. Ihre Beine fühlten sich saft- und kraftlos an. Wie weit würde sie noch laufen können?
Sie brauchte eine Pause – eine kleine Verschnaufpause -, doch sie spürte, dass es nur darauf wartete. Abermals lag eine kleine Anhöhe vor ihr, nicht mehr als zwanzig Fuss weit und nicht höher als die zuvor überwundene. „O Gott“, stieß sie hervor. Dann blieb sie stehen. Sie wusste, sie hatte den Kampf verloren. Als sie sich umdrehte, blickte sie in die Fratze einer Höllengeburt und stieß einen Schrei aus, der den Nebel durchdrang und tief ins Tal hinunter hallte – bis zu den Vororten von Forrest Hill.
02
„Seht da vorne!“, stieß John Clark hervor. „Ist der nicht prächtig?“
Patrick und Sharon sahen sich an und verzogen genervt ihr Gesicht. Es war mittlerweile der eintausendste Hügel, den ihr Vater ihnen unbedingt zeigen wollte und das obwohl ein Hügel dem anderen bis aufs letzte Grasbüschel glich.
„Das ist der Ben Nevis“, erklärte John Clark weiter, „der wohl höchste Berg ganz Großbritanniens.“
Patrick hatte seinen Mund an die Seitenscheibe gedrückt und Luft durch die Wangen gepresst. Von außen sah er sicherlich wie ein Frosch aus oder wie eine riesige Kaulquappe.
Susan legte ihrem Mann eine Hand aufs Bein und sah ihn beschwichtigend an. „Es war eine lange Fahrt.“
„Aber ich möchte...“, begann John.
„Ich weiß“, sagte Susan, „ich weiß, aber es sind noch Kinder. Gib ihnen Zeit sich daran zu gewöhnen.“
Hilfesuchend blickte John nach oben. „Ich möchte, dass sie die neue Heimat genauso mögen wie ihre alte.“
Er sah wieder nach vorne und kämpfte mit den Erinnerungen. Susan betrachtete ihren Mann und hoffte, dass ihr Gefühl sie täuschte. Als vor zwei Monaten die Nachricht vom plötzlichen Ableben der alten Dame eintraf, wusste sie mit diesem Gefühl nichts anzufangen. Es war wohl die Todesnachricht, die sie durcheinander gebracht hatte. Sie hatte mit John auf dem Sofa gesessen und gemeinsam den Brief gelesen und plötzlich war sie in Tränen ausgebrochen, obwohl sie die alte Dame nie kennengelernt hatte und John kaum ein Wort über sie verlor. Sie wusste nur, wie sehr er an ihr gehangen hatte. Er verband mit ihr seine Kindheits- und Jugenderinnerungen. Sie war so etwas wie eine Tante und hatte ihn damals groß gezogen, nach diesem schrecklichen Unfall.
Während John sich an der wunderschön anzusehenden Landschaft weidete, war Susan ins Grübeln geraten.
Vielleicht hätten sie nicht gleich ihre Wohnung aufgeben und hier hinziehen sollen. Vielleicht hätten sie nur mal ihre Ferien hier verbringen sollen, anstatt gleich ihr Haus zu verkaufen und in dieses Abenteuer zu stürzen. Aber dafür war es wohl jetzt zu spät.
„Seht da vorne!“, stieß John hervor.
Patrick und Sharon runzelten nur noch die Stirn.
„Elms-End“, sagte John, „das Landhaus unserer Vorfahren.“
03
Das Landhaus im viktorianischen Stil erbaut, bot einen riesigen Garten, der von mannshohen Büschen eingezäunt war und Platz für wenigstens einen Fußballplatz bot. Außerdem befand sich auf der Südseite des Hauses ein Gewächshaus, in dem allerlei tropisches Gewächs gezüchtet wurde. Ansonsten war es in einem ziemlich erbärmlichen Zustand und dringend reparaturbedürftig. Eine Aufgabe, die John zufiel.
Patrick und Sharon tollten im Garten, während Susan ins Dorf gefahren war, um ein paar Einkäufe zu erledigen.
„Glaubst du, dass wir hier bleiben?“, fragte Sharon ihren Bruder. Patrick kauerte auf dem Boden und nahm einen Grasbüschel genauer unter die Lupe. Sharon, die ein wenig älter war als ihr Bruder, ging auch in die Knie und tat interessiert. „Glaub´ schon.“, sagte Patrick und begann den Boden ein wenig vom Dreck zu säubern. „Tante Gregor ist tot und wir sind hier.“ Patrick schien gefunden zu haben, wonach er suchte und erschauderte.
„Was ist?“, fragte Sharon, „Was ist los?“ Patrick stand auf und rannte fort. Er lief davon und ließ Sharon stehen, die ihm ungläubig hinterhersah.
04
Forrest-Hill war ein verschlafenes Nest am Fuße des Ben Nevis. Die Einwohner redeten nicht viel von anderen Dingen als von denen, die sie unmittelbar betrafen und wenn Fremde in ihre Ortschaft kamen, dann waren sie stets höflich, hilfsbereit, jedoch nicht so sehr an ihnen interessiert wie an den Clarks aus dem Clan der MC-Clarks. Einige von Ihnen kannten John Clark als er noch ein kleiner Junge war, und sie erinnerten sich an das tragische Geschehen, welches seine Eltern traf. Die Zeit vor dem Unglück war ihnen so lebhaft in Erinnerung, dass sie Stunde um Stunde von Grag und Olivia Clark reden konnten, als wäre es gestern, als er und seine Eltern regelmäßig im Ort waren, um Einkäufe zu erledigen und Grag den dark-Ale in Arthurs Pub genoss. Nur wenig oder gar nicht jedoch konnten sie sich an die Zeit nach dem Unglück erinnern. Seltsam und mysteriös war es gewesen, dass die Bewohner des Landhauses von Elms-End so gar nicht mehr ins Dorf kamen und wunderlich war es, als die neue Herrin von Elms-End, man munkelte sie sei eine Schwester des verstorbenen Graig gewesen, sämtliches Dienstpersonal entließ und sich scheinbar allein um Haus, Hof und John kümmerte.
Damals entstanden Sagen und düstere Geschichten um Elms-End und seine Bewohner. Man flüsterte sich Geschichten zu, die um jeweils ein Detail erweitert wurde, je öfter sie erzählt wurde.
Mit dem Eintreffen der Kunde über Elms-Ends neue Bewohner konnten die alteingesessenen Leute des Dorfs ein Aufleben der alten Gerüchte um den Clan der MC-Clarks erleben.
Es war nicht verwunderlich, dass Tory Amish, die Betreiberin des gut gehenden und einzigen Tabakladens im Ort, vor Schreck eine Tabakdose fallen ließ, die sie in ihre Auslage legen wollte, als Susan Clark den Laden betrat.
Sie strich ihren Arbeitskittel glatt und begrüßte den neuen Kunden überschwenglich mit einem: „Hallo Frau Clark, es ist mir eine Freude, sie hier begrüßen zu können. Womit kann ich ihnen helfen?“
Susan hob verwundert die Augenbrauen. „Guten Tag.“, antwortete sie, wobei ihr überraschter Gesichtsausdruck verriet, dass sie nicht damit gerechnet hatte, hier, in einer fremden Stadt, erkannt zu werden.
„Ich habe davon gehört, dass sie Elms-End neu bezogen haben.“ Ihre Stimme klang wie das hysterische Klappern eines Storchs beim Anblick eines brunftbereiten Storchweibes. „Jeder hat davon gehört. Wissen Sie“, plapperte sie weiter, „es ist lange her, dass John sich hier blicken ließ. Damals war er sehr oft hier unten, müssen sie wissen. Und sehr oft war er auch in diesem Laden. Damals verkauften wir nicht nur Tabak, müssen sie wissen. Geht es ihm gut?“
„Aber ja doch.“, sagte Susan schnell, da sie fürchtete, sonst gar nicht mehr zu Wort zu kommen. „Und ich hätte gern...“
„Ja, und zwei prächtige Kinder hat er jetzt, nicht wahr? Ein Junge und ein Mädchen, habe ich gesehen. Und schon beinahe erwachsen.“
Susan stöhnte leise auf. Sie kam um dieses Gespräch wohl nicht herum, dabei hatte sie genug mit ihrem Zwiespalt zu kämpfen, die Finger von diesen elenden Zigaretten sein zu lassen.
Tory beugte sich vor und flüsterte ihr vertraulich zu: „Ist es denn wahr?“
Susan stutzte und sah sie verwirrt an.
„Na, das mit der alten Dame?“, setzte sie nach.
„Ich weiß nicht, was sie meinen.“
„Also, dann stimmt es.“ Tory rieb sich die Hände und freute sich, da sie wusste, dass sich jemand genau so wie Susan verhielt, der verhindern wollte, dass etwas bekannt würde.
„Nein!“ Susans Stimme war etwas lauter, als sie wollte. „Nein. Was meinen Sie überhaupt damit? Ich verstehe sie nicht.“
Torys Hände hörten auf einander zu reiben. Ungläubig wanderte ihr Blick über Susans Gesicht, als suche sie nach der Wahrheit. „Bitte halten sie mich nicht für Aufdringlich, aber diese Gerüchte kursieren, seitdem sie...nun ja, verstorben ist.“
„Was für Gerüchte?“
„Was ist los, Weib. Bist du wieder am Palavern?“ Susan war zusammengezuckt, als sie die Stimme hinter sich hörte, die hinter ihr plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war. „Bitte verzeihen sie, Lady, aber manchmal ist meine Frau sehr redselig.“
Sie blickte in die mit wuschigen Augenbrauen überhangenen Augen eines großen, breitschultrigen Mannes, dessen rötliche Nase von zuviel Ale kündete. „Ich bitte, Sie. Das ist doch kein Problem.“, versuchte Susan, die Situation herunterzuspielen. Gleichwohl Susan neugierig geworden war und sie noch gerne mehr über diese Gerüchte erfahren hätte, unterband der Mann, der es offenbar satt hatte, seine Frau ständig zur Arbeit zu ermahnen, jegliche weitere Gespräche, indem er zunächst Tory, die mit den Tränen rang, nach oben schickte und dann Susan ein Päckchen Zigaretten verkaufte.
„Hören Sie nicht auf dieses alte Waschweib“, verabschiedete er Susan schließlich, „Sie sieht viel zu häufig fern und trinkt zuviel Ale. Da verschieben sich schonmal die Realitäten.“
Ich glaube, dass Sie zuviel Ale trinken, dachte Susan und ging aus dem Laden und war froh, wieder frische Luft zu atmen.
05
Das Gewächshaus hatte ein Spitzdach und war wie ein kleiner botanischer Garten angelegt. Über eine winzige Holzbrücke konnte man einen Teich überqueren, in dem etliche Gold-Fische schwammen; Palmen und exotische Pflanzen säumten den liebevoll angelegten Pfad, den Patrick entlang gegangen war, bis zu dieser Stelle. Jetzt stand er da und wimmerte leise in sich hinein. Er hatte seine Fäuste geballt und schimpfte und fluchte. Er war doch schon acht Jahre alt und beinahe erwachsen und immer noch schaffte er es nicht, die Tränen zurückzuhalten. Deshalb war er vor Sharon weggelaufen. Sie sollte nicht sehen, wie er wieder heulte. Wenn sie es sehen könnte, würde sie über ihn Witze machen und es garantiert Mum und Dad erzählen. Heulsuse oder Jammerlappen oder noch Schlimmeres wären die Titel, die er bekäme. Earl of Jammerlappen. Earl of Jammerlappen heult, weil er schlecht geträumt hatte .
Er konnte die Häme seiner Schwester hören, noch bevor sie von ihr ausgesprochen war. Das Schlimme daran, war, dass er das Gefühl hatte, dass es die Wirklichkeit war. Dass es eben kein Traum war, was er erlebt hatte, sondern dass es eine Warnung war und er es unbedingt jemanden erzählen musste. Er war dem Hinweis seines Traumes nachgegangen und hatte das entdeckt, wovon er geträumt hatte. „Da steckst du ja“, hörte er Sharons grelle Stimme. Schnell wischte er sich die Tränen mit dem Ärmel seines Pullovers weg und legte ein Lächeln auf. „Ist das nicht toll hier?“, tönte er zurück.
Bevor Sharon ihn erreichen konnte, hatte Patrick sich auf den Boden gekniet und den Kopf in den Teich gesteckt. Tränen waren sehr verräterisch und nicht einfach wegzuwischen. Das eiskalte Wasser schmerzte sein Gesicht so sehr, dass er es kaum aushalten konnte. Seine Augen hatte er zu schmalen Schlitzen zusammen gekniffen. Er wollte nur einen Moment lang seinen Kopf im Wasser halten, bis er sicher war, dass keine Träne mehr sichtbar war, doch etwas hielt ihn auf. Zuerst war es, als verändere sich die Umgebung. So, als würde das Wasser um ihn herum lebendig werden. Dann verlor das Wasser an Eigendynamik und schien in der Stille zu verharren. Sein Herz setzte einen Schlag aus. Aus dem Nichts tauchte plötzlich ein Augenpaar auf - nicht mehr, nur ein ihn boshaft fixierendes Augenpaar. Patrick wollte den Kopf aus dem Wasser ziehen, doch das Wasser schien ihn mit aller Kraft an sich binden zu wollen. Er schaffte es nicht, den Kopf aus dem Wasser zu bekommen. Vielleicht waren das im Wasser ja seine Augen und er war schon tot. Die Augen kamen ein Stück näher. Patrick versuchte zu schreien. Wasser füllte seine Wangen und lief in seine Lungen. Die grausamen Augen schienen erfreut darüber und es war, als höre Patrick ein grauenhaftes Gelächter.
Auf einmal ergriffen ihn Hände an Kopf und Schulter und zogen ihn mit einem Ruck aus dem Teich. Endlich konnte er wieder frische Luft atmen. Sharon sah hinab zu ihrem Bruder, der auf dem Boden hockte, die Beine an die Brust zog und heftig nach Luft schnappte. Sein ganzer Körper zitterte. „Bist du total übergeschnappt?“, schrie sie ihn an. „Wenn Mum und Dad davon erfahren, kannst du was erleben. Du weißt genau, dass wir hier nicht rein dürfen.“
Patrick hustete und schluckte und versuchte ihr zu sagen, was ihm passiert war, doch alles, was er herausbekam, war: „Da ist etwas drin. Etwas Böses.“ Sharon verschränkte die Arme. Patrick war und blieb ein Idiot, soviel stand fest. Was sollte in diesem Teich anderes drin sein, als ein paar harmlose Fische. Ihr Blick überflog den Teich und erkannte, was ihr ohnehin schon klar war: Da war nichts. „Vielleicht solltest du dir eine bessere Ausrede einfallen lassen, Patrick. Wenn du mit so ner Geschichte bei Mum Eindruck schinden willst, solltest du dich auf Stubenarrest gefasst machen. Wenn nicht sogar: Klapsmühle. Du bist ja total daneben.“ Sie packte ihren Bruder, half ihm auf die Beine und stützte ihn, damit er nicht gleich wieder zu Boden ging. Als sie noch einmal kurz zurückblickte, war es, als sähe sie ein paar Augen, die sie vom Grund des Teiches böse anfunkelten. Doch als sie näher hinsah, war da nichts.
06
Die Küche entpuppte sich als wahres Paradies für leidenschaftliche Köche. Es gab beinahe nichts, was diese Küche nicht hatte oder konnte. Susan öffnete schwungvoll eine der zahllosen Schubladen, um diese gleich darauf wieder zu schließen, weil es die falsche war. Ihre alte Küche in der Dreizimmerwohnung in Edingburgh war wesentlich kleiner und überschaubarer. Dort hatte sie alles im Griff gehabt. Aber jetzt fühlte sie sich wie ein Kochlehrling, der in einer Großküche eines Viersterne-Hotels den ersten Tag hatte. Eine kleine bescheidene Frau, die mit der Dreizimmerwohnung zufrieden gewesen war und der das hier alles zuviel war. Zu groß, zu weitläufig und vor allen Dingen zu abseits gelegen. Bis Forrest-Hill waren es zwanzig Minuten mit dem Auto. Ihre Kinder müsste sie jeden Morgen mit dem Auto zur Schule fahren und selbst wenn diese zu ihren Freunden und Freundinnen wollten, würde sie ihre Kinder mit dem Auto hinbringen müssen.
In der nächsten Schublade fand sie schließlich den Kochlöffel. Dieses Haus hatte alles, was man sich wünschen konnte. Und wenn John ersteinmal alles repariert hatte, wäre es eine wahre Luxusunterkunft. Garage, Garten, vier Schlafzimmer, sogar eine eigene Bibliothek und drei Badezimmer. Das Glück einer jeden Hausfrau. Putzen, Wischen und Reinemachen von morgens bis abends. Sie würde gleich mit John darüber reden. Sie brauchten eine Haushaltshilfe, einen Gärtner und einen Koch.
Sie hob ihren Blick von dem Topf mit Hühnersuppe, der vor ihr auf der Kochstelle dampfte und sah zum Fenster hinaus. Susan war, als würde alles Blut, was sich in ihrem Körper befand nach draußen drängen. Ihre Beine begannen zu zittern. Ihr war, als hätte sie in einem vorbeihuschenden Moment eine Gestalt am Fenster ausmachen können. Doch im nächsten Moment war wieder alles normal. Ein weiterer Blick aus dem Fenster offenbarte ihr, dass das Land von Elms-End und vermutlich der ganze südliche Teil Schottlands von einem schweren Unwetter heimgesucht wurde. Es regnete ohne Unterlass und grollender Donner ließ das Tal erzittern. Aber nichts – nicht das Geringste deutete darauf hin, dass eine alte Frau um ihr Haus schlich. Susan schüttelte sich und ermahnte sich, nicht diesen verrückten Gedanken nachzuhängen. Es würde auch ohne sie die nächste Zeit schwer genug werden.
Mit dem dampfenden Topf Hühnersuppe – mehr war am ersten Tag wirklich nicht drin – ging sie ins Esszimmer, wo der Rest der Familie sie bereits mit hungrigen Augen erwartete. John saß an dem einen Kopfende des ovalen Tisches und Patrick an dem anderen. John war aufgefallen wie schlechtgelaunt Patrick von draußen reingekommen war und auch Susan schien nicht bester Stimmung. Das war alles andere, als das, was er sich gewünscht hatte. Für ihn stand fest, dass es kein zurück mehr geben würde. Dies hier war ab jetzt ihr Zuhause. Es war seine Geburtsstätte, die seiner Eltern und Großeltern und es würde auch die nächste Generation der Mc Clarks beherbergen.
„Ist es nicht toll hier?“ John hatte eine für ihn unnatürliche Fröhlichkeit in die Stimme gelegt. „So viel Land um uns herum und niemand, der uns stören wird.“
„Ja!“, murmelte Sharon, „und niemand, der mit uns spielen wird.“
„Aber, das ist doch kein Problem. Wir haben doch ein Auto, oder?“
Patrick sah kaum von seinem Teller hoch, erhaschte nur flüchtig einen Blick auf den verzweifelten Ausdruck in Dad´s Gesicht. Mum schien sich heraushalten zu wollen, doch ein grimmiger Blick von Dad genügte und Mum beteiligte sich an der Diskussion.
„Seht mal. Wir haben das Haus in Edingburgh verkauft und können nicht mehr zurück. Versuchen wir doch das beste daraus zu machen.“, sagte sie und ihr Gesicht verriet, dass sie genausowenig erfreut war über die Aussicht, hier zu wohnen wie ihre Kinder nur dass sie es mit der Gleichmütigkeit eines Erwachsenen ertrug.
„...und ich bin sicher, dass es großartig wird. Gleich morgen werden wir uns gemeinsam daran machen, das Haus wieder in Schuss zu bringen. Das wird bestimmt ein riesen Spass.“
Patrick und Sharon sanken noch tiefer in sich zusammen. Susan erkannte es und versuchte John davon abzubringen: „Ich denke es wäre besser, wenn ihr gleich Morgen eure Zimmer einrichtet. Habt ihr die überhaupt schon gesehen?“
Patrick beobachtete, wie Dad´s Gesicht in sich zusammenfiel, als würde eine Welt zusammenbrechen.
„Was ist los, Su?“, fragte er sie und Patrick wusste, wenn er sie Su nannte, dann wollte er mit ihr ein ernstes Wörtchen reden. Sie blickte nach oben und schien nach Worten zu suchen. „Weißt du...es ist...ich war doch heute in Forrest Hill...“
„Ja.“
„...und ich habe eingekauft.“
Dad sah sie an, als würde sie mit einer fremden Sprache reden.
„Es sind mindestens 20 Meilen bis nach Forrest-Hill. Wusstest du das?“
„Worauf willst du hinaus?“
Susan wollte es ihm nicht sagen – auf jeden Fall nicht so – aber die Worte kamen ihr aus dem Mund, als hätte sie eine innere Hand nach draußen geschleudert – John direkt vor die Füsse.
„Wir sind hier am Arsch der Welt, John.“
John zuckte zusammen und funkelte Susan nicht böse aber sichtbar enttäuscht an.
Patrick ahnte, dass es jetzt gleich richtig losgehen würde und hielt seinen Kopf gesenkt über den Teller mit Hühnersuppe. Er begann die wenigen Nudeln darin zu zählen. Als er bei 35 oder 45 – genau konnte er es nicht mehr sagen – angekommen war, war Mum den Tränen nahe und Dad schaufelte bewusst rechthaberisch den Teller Suppe in sich hinein. 36 oder 46 Nudeln und ein Fettauge, was ihn unverhohlen anstierte.
Susan wollte nicht, dass ihre Kinder sahen, wie ihre Mutter weinte, daher ging sie ans Fenster und sah hinaus. Hinaus in die Dunkelheit, die gelegentlich von gleißenden Blitzen durchbrochen wurde. Sie fand, dass dieser Ort etwas Unheimliches hatte. Sie hatte mal einen Sherlock-Holmes-Film gesehen, der an einem Ort wie diesen gedreht worden sein musste. Die Nebel hingen so tief und so undurchdringlich im Tal, dass Susan glaubte, diesen Schmierstreifen am Fenster beseitigen zu können, den der Nebel darstellte. Dann sah sie wieder diese Frau. Sie ging am Fenster vorbei, das Gesicht von einem dunklen Cape verborgen und ihre Füsse schienen den Boden nicht zu berühren. Susan strengte sich an, die Frau zu erkennen und überlegte, ob sie nicht John ans Fenster rufen sollte, damit er es auch sehen konnte. Und plötzlich wirbelte diese alte Frau herum und offenbarte ihr Gesicht.
Ein endloser Schrei ließ das Haus erbeben und den Rest der Bewohner verstummen. Er war so laut und durchdringend, dass John die Stille, die dem Schrei folgte, unnatürlicher und beunruhigender empfand als den Schrei an sich. Alle blickten zu Patrick, der einen halben Meter vom Tisch entfernt in seinem Stuhl hing, so als habe er mit ihm einen Satz nach hinten gemacht. Mit weit geöffneten Augen fixierte er einen Punkt mitten im Raum. „Was ist los?“, fragte John, der von seinem Stuhl aufgesprungen war und zu ihm hineilte. „Was ist passiert?“
„Du fragst, was passiert ist?“, sagte er, wobei kleine Tränen seine Wangen benetzten. „Ihr glaubt mir ja sowieso nicht.“
John war jetzt bei ihm und hielt ihn fest. „Sicher glauben wir dir. Was ist denn? Was hat Sharon gemacht?“
Sharon wäre normalerweise wütend aufgesprungen und hätte sich gegen diese Vorwürfe gewehrt, doch ihr Blick war auf Mum gerichtet, die am Fenster stand und ihr Gesicht mit den Händen bedeckte. „Wer hat dir was getan?“, hakte John nocheinmal nach und rüttelte Patrick ein wenig.
„Ich habe es gesehen, Dad?“, wisperte er.
„Was?
„Ich habe es gesehen. Und es ist böse. Wir werden sterben, Dad. Oder? Das Haus ist böse.“
John atmete tief durch und schien fassungslos. Das ganze Gerede um dieses Haus hatte seinen Jungen total verängstigt und verwirrt. Daran war nur Susan schuld. Sie und ihr unbedachtes Gerede.
Er sah sich um und wollte Susan wütend anfunkeln, da sah er sie stehen. Sie stand am Fenster und war in Tränen aufgelöst.
„Sie hat es auch gesehen.“, flüsterte Patrick.
„Es war in der Suppe und in dem Teich.“
John schüttelte ungläubig den Kopf und drückte den Jungen fest an sich. „Niemand wird sterben, hörst du, niemand.“
„Frag doch Mum“, setzte er nach.
„Susan?“ John blickte sie fordernd an. „Stimmt das? Hast du das auch in der Suppe gesehen, dass wir jetzt alle sterben werden?“
Ihre Hände, die ihr Gesicht festgehalten hatten, ließ sie seitlich abfallen, als wären schwere Ziegelsteine darin. Aus toten Augen sah sie ihn an und beinahe hätte John das ganze Ausmaß ihres Entsetzens mit einem Blick erkennen können, wäre er nicht so sehr damit beschäftigt, die Sache so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen. „Nein, John. Das nicht.“
„Warum weinst du denn?“, fragte John. „Warum – zum Teufel – erschreckst du deine Kinder so?“
„Ich weiß nicht“, wimmerte Susan. „Ich ...ich...“ Ihre Stimme brach. „Sicher weißt du das nicht. Weil nichts gewesen ist. Alles ist in bester Ordnung. Es ist alles nur ein wenig neu für uns. Wir werden jetzt zu Bett gehen und Morgen sieht die Welt wieder ganz anders aus. Nicht war, Schatz?“
Susan nickte – zu mehr war sie einfach nicht imstande. Sie konnte ihm nicht sagen, was sie gesehen hatte. Er würde sie für verrückt erklären. Dabei wusste sie ja selbst nicht mehr, ob sie es gesehen hatte oder ob sie es sich eingebildet hatte. Es konnte einfach nicht sein. Das Gesicht der alten Frau war das eines Sekeletts mit herabhängenden Fleischfetzen und irren aus den Höhlen tretenden Augen. Sie hoffte, dass Patrick nicht dasselbe gesehen hatte. Es war ein so furchtbarer Anblick gewesen.
07
Nebel, der so tief im Tal hing, dass er den Boden berührte und ein Unwetter, wie ihn Forrest-Hill seit Jahrzehnten nicht erlebt hatte. Es schien, als wäre der Himmel erzürnt und Groll und Donner seien die Waffen, diesen Zorn zu besänftigen. Gleißende Blitze, die die Nacht erhellten, ohrenbetäubender Donner, der die Raben aufscheuchte und in dem weitabgelegenden Landhaus Elms-End geisterte die alte Dame umher, ruhelos ihren Schmerz nicht begreifend und voller Wut und Bitterkeit über das Geschehene. Die alte Uhr im Wohnzimmer des Landhauses erzitterte, als ein dumpfer Schlag die Erde erbeben ließ. Dann läutete sie zur halben Stunde und trug ihren Klang durchs ganze Haus – noch 30 Minuten bis Mitternacht.
Susan war nicht ganz wohl bei dem Gedanken gewesen, allein im Wohnzimmer zu sein, als John aufgestanden und in die Bibliothek gegangen war. Aber noch weniger wollte sie jetzt allein ins Schlafzimmer gehen, also hatte sie sich ein Buch geschnappt und begonnen es zu lesen. <Needful Things> schien ein verheißungsvoller Titel zu sein. Sharon war ohne Probleme ins Bett gegangen. Bei Patrick hatte es länger gedauert. Er hatte ihr richtig Angst gemacht. Ständig hatte er von diesen Augen gesprochen, die ihn angestarrt hatten. Doch mehr hatte sie aus ihm auch nicht herausbekommen. Nur diese Augen. Diese furchtbaren Augen. Und dass sie sterben würden.
Durch diesen Zwischenfall mit Patrick hatte sie ihr eigenes Erlebnis beinahe völlig in den Hintergrund verdrängt. Es war wie ein kurzes Dejavú gewesen – ohne Tiefgang. Ein kleiner Streich ihres Verstandes, der mit der neuen Situation überfordert war. Mehr nicht. Genau wie bei Patrick.
Sie hatte ihre Schuhe ausgezogen und ihre Füße in die Spalte zwischen Rückenlehne und Sitzkissen des Sofas geklemmt. Dann lehnte sie sich zurück und schlug das Taschenbuch mit dem dunklen Cover auf. Die ersten Zeilen überflog sie, ohne dass sie mitbekam, was sie las, da ihre Gedanken hin und her sprangen. Sie legte ihre Hand aufs Gesicht und begann ihre Augen zu reiben. Patrick hatte geschrieen wie am Spieß und seine Angst war beinahe greifbar gewesen. Was hatte er gesehen? Augen, wie die der Frau, die am Fenster vorbeigeschwebt war? Und was für Gerüchte hatte die Frau im Dorf gemeint? Was war mit der alten Dame passiert? War sie es, die sie gesehen hatte? Sie wünschte, John wäre jetzt bei ihr und würde sie in den Arm nehmen. Seltsam. Es war lange her, dass sie einen derartigen Wunsch hatte.
Ihre Augen überflogen die Zeilen des Romans, wobei ihr Gehirn nur die Wörter aufnahm, die ihre Angst zunehmend schürte: Schiefe Zähne, schwarz und dunkel, elend lange FINGER, die aus dem Nichts auftauchten um sie zu berühren. Susan fasste sich mit der linken Hand in den Nacken. Ihr war, als hätte sie einen leichten Luftzug gespührt, GLÜHENDE Kohlen, die ihre Haut zu einer einzigen weichen Masse zergehen ließ, FOLTER, unmenschliche Schmerzen, die zu erleiden sie erwählt war, AUGEN VON SO DUNKLER FARBE, die sie anstarrten tief in ihrem Innern. Vor ihr erschien wieder das Bild der alten Dame, wie sie an ihr vorbei schwebte. Ihre langen knöchernden Finger griffen das Cape, zogen die Kapuze mit einem Ruck nach hinten und entblössten ihr grauenhaftes Anglitz. Ein halb verwestes Gesicht funkelte sie feindselig an. Das wenige Fleisch, was ihr noch geblieben war, hing in Streifen lose herab, ihre Zunge war die einer Schlange und umzüngelte wild ihre Mundwinkel. Doch das Grausigste waren ihre Augen, die ihr feindliches Gemüt widerspiegelten. Es war als Blicke sie direkt in den Abgrund der Hölle. Ein spitzer Schrei entfuhr ihren Lippen. Sie schleuderte das Buch ans Ende des Sofas und atmete zitternd ein und aus.
Dann ein Geräusch. Nicht weit weg, sondern sehr nah. Ein Geräusch, was ein Gegenstand macht, das an eine Fensterscheibe gehauen wird. Susan zuckte zusammen. Wieder dieses Geräusch. Was, zum Teufel, war das? „John“ Ihre Stimme war wie das Krächzen eines altersschwachen Vogels, rauh und ohne Volumen. Sie räusperte sich. „John, bist du hier?“ Keine Antwort. Natürlich war er nicht hier. Er war in die Bibliothek gegangen. Wieder dieses Geräusch. Nur etwas lauter. Ihr war plötzlich so kalt. Sie zitterte wie Espenlaub. Es ist nur der Wind, dachte sie, nur der Wind. Er wirbelt Äste gegen die Scheibe, oder Laub, nichts weiter, es ist nicht die grauenhafte Frau, die dich holen will. Wenn du ans Fenster gehst und dich davon überzeugst, wirst du sehen, dass alles in Ordnung ist. Diese alte Frau, die du gesehen hast, ist tot. Sie kann es nicht sein. Sie setzte sich auf, schlüpfte in ihre Schuhe und wartete.
Das ganze Haus schien vor Erwartung in vollkommener Stille zu verharren. Dann, sie wollte gerade den Gedanken, zum Fenster zu gehen, verwerfen, hörte sie wieder dieses Geräusch, ein Stein oder ein sehr dicker Ast, der an das Fenster geschlagen wurde, wieder und wieder, ein wahres Trommelfeuer von aufeinanderfolgenden Schlägen. Susan sammelte all ihren Mut und ging ans Fenster, hoffte, dass alles in Ordnung sei, dass die Toten weiterhin ruhten. Die Dunkelheit der Nacht verriet ihre Schatten nicht, so blickte sie durchs Fenster und konnte nicht das Geringste erkennen. Beinahe wollte sie sich eine törichte Frau schimpfen, da war es wieder. Finger klopften an ihr Fenster. Ihr war, als schwinde ihr sämtlicher Mut. Sie sah die Fingerkuppen, die an ihr Fenster klopften und dann sah sie das GESICHT.
Sharon!
08
John war den endlos erscheinenden Gang entlanggegangen, der ihn zu dem Raum führte, der einmal ein separater Speisesaal gewesen sein musste, doch jetzt verwahrlost und leer nur einen einzigen langen Tisch beherbergte. An den Wänden waren von Spinnweben umwobene Gemälde mit adelig erscheinenden Personen in Reiterkostümen neben ihren Jagdhunden und im Hintergrund Elms-End oder die nähere Umgebung. An einem blieb er stehen und betrachtete es sich mit unbestimmter Neugier. Dieses Bild hatte etwas magisch Anziehendes, was ihn in seinen Bann sog. Er konnte nicht genau sagen, was es war, da es den anderen sehr ähnelte, aber der Ausdruck, den die Frau auf diesem Bild hatte, kam ihm so bekannt vor, als würde er sie schon eine Ewigkeit lang kennen.
Und der Ausdruck war es, der ihn neugierig gemacht hatte. Sie lächelte nicht, wie die Personen auf den anderen Bildern, noch umwehte sie diese aristokratische Arroganz einer gesellschaftlich höhergestellten Persönlichkeit. Nein, sie schien verwundert oder überrascht, als habe der Maler sie in einem ungünstigen Moment erwischt. Ihre Augenbrauen waren hochgezogen und der Mund ganz leicht geöffnet. Aber was ihn wirklich nachdenklich machte, war die Gestalt, die im Hintergrund im Schatten war, kaum zu erkennen ob Mensch ob Tier oder ein Tintenfleck. Es schien ihm weniger wie ein Gemälde, als eine Momentaufnahme – ein Polaroidbild zu sein, der eine Frau zeigte, die auf der Flucht vor irgendetwas war. Seine Pupillen weiteten sich und eine Woge des Grauens fasste sein Herz. Die Gestalt bewegte sich. Die Gestalt bewegte... Das konnte nicht...Das? Aber ja doch. Sie hatte sich bewegt. Nur ein winziges Stück.
Sie war aus dem Schatten des Baumes hervorgetreten, so dass er sie in seiner ganzen Gestalt – zumindest als Silhouette – erkennen konnte. Er hob seine Hand. Wollte das Bild berühren. Wissen, ob es an dem Gemälde oder an seinem Verstand lag. Er berührte es und in diesem Moment durchströmte ihn eine Welle des Glücksgefühls, als reite er auf einem hohen Ross einem strahlenden Sonnenuntergang entgegen. Es war wunderschön. Die Angst war wie verflogen. Er fühlte sich stark und unantastbar und seine Energie befähigte ihn zu einer ihm unbekannten Stärke und Macht. So viel Macht. So viel Stärke. Er war Gott!
Hätte dieses Gefühl ihn nicht übermannt und würden seine Sinne ihn nicht benebeln, hätte er festgestellt, dass er abhob – nicht im übertragenen Sinne – sondern wirklich. Er schwebte, als hätte die Gestalt ihn gepackt und zehn Zentimeter vom Boden angehoben. Dort ließ sie ihn einen Moment lang verharren, um ihn dann mit einem gleißenden Blitz begleitend zu Boden zu schleudern. Sein Kopf schlug hart auf die Tischplatte auf. Benommen blieb er auf dem Boden liegen.
„Weißt du, wer ich bin?“ John kannte die Stimme, sie war ihm vertraut, auch wenn ihre gemeinsame Zeit um einiges zurücklag. „Geh weg!“, schnaufte er, „geh weg!“
„Du bist zurückgekehrt. Das ist das einzige was zählt.“ Die Stimme hatte einen, wenn auch blechernen, weiblichen Klang, als würde sie durch einen Tunnel sprechen. „Du gehörst hierher.“
John, der seine Benommenheit ein wenig abgeschüttelt hatte, versuchte sich langsam in Richtung Tür zu schleppen. „Geh weg!“, jammerte John. Er spürte wie er der realen Welt entrissen wurde und immer tiefer in eine Art Traumwelt hinein driftete. Alles um ihn herum war von bleiernder Gelähmtheit, der Tisch, die Gemälde und die Wände des Raumes verschmolzen zu einer Art dickflüssigen Brei und die Gestalt hielt den Kochlöffel in der Hand und rührte in der Suppe herum, vermischte es und spie ihr gallenartiges Gift hinein. Ihre Stimme hörte sich an, als befinde sie sich auf einer Eclipse dieses Strudels und rauschte hin und wieder an ihm vorbei. „Du bist, was du bist! Ich will es von Dir hören.“ John fühlte sich wie ein kleiner Junge. Damals hatte er sich haargenau so gefühlt. Vollgepumpt mit Drogen. Ach, wäre es doch nur so. Aber er war bei vollem Verstand und spürte in der Komplexität seiner Gedanken, dass es das war, was er insgeheim schon immer gewusst hatte. „Sag es!“, dröhnte die Gestalt. „Sag´es!“ Johns Magen krampfte sich zusammen und Tränen rannen ihm übers Gesicht, benetzten seine Haut und fielen in diesen Sog aus Licht und Farben, Ton und Klang und dann sagte er es: „Ja. Mum. Ich bin hier.“
09
Gib´mir deine Hand, Sharon, und tanz´mit mir. Tanze mit mir, bis der Morgen graut. Sharon hatte ihr hübsches Kleidchen an, das, mit den Rüschen und bewegte sich Elfengleich zu einer wunderschönen Sonate.
Die Geigenspieler zupften ein lockeres Stakkato während sie auf Zehenspitzen tänzelnd ihr bestes Ballet vollführte. Der Zuschauerraum fasste fünfhundert oder mehr Menschen und war bis auf den letzten Platz ausverkauft. Sie war der Star des Abends, das Licht in der Finsternis und alle waren sie gekommen um ihr zu zujubeln. Sie klatschten und begleiteten die Dramatik der Darbietung mit ‚Ah‘s und ‚Oh‘s. Jetzt befand sie sich an der Stelle, wo der Held der Geschichte ihr seine Liebe offenbarte und dem Publikum ein langgezogenes ‚Oh‘ abrung.
Gleich würde sie die schwierigste Passage des Stückes angehen müssen und bereitete sich darauf vor, indem sie die Zehen noch ein wenig mehr dehnte und alle Muskeln anspannte. Es war eine Kombination von sieben Drehungen, welche am Schluss mit angewinkeltem Bein endete. Sie fühlte, dass es ihr heute zum ersten Mal gelingen würde. Sie spürte diese Energie und hörte den Applaus des Publikums. Sie nahm Anlauf und begann die erste Drehung. Oh, wie wunderbar. Ach, wie einzigartig. Sie war leicht wie eine Feder und bei der fünften Drehung angekommen. Sie lauschte dem Rausch ihrer Sinne. Es war, als könne sie ihre Flügel ausfahren, um hoch hinauszufliegen, fliegen, bis sie den Himmel erreichte, um auf einer Wolke platz zu nehmen. Doch plötzlich spürte sie, wie die Schwerkraft sie nach unten zog und nach einer missglückten Drehung auf dem Boden schleuderte, wo sie mit einem dämlichen Gesichtsausdruck liegenblieb.
Das Applaudieren der Leute verstummte, ebenso das Jubeln und sogar die Musik hielt inne. Erbarmungslose Stille. „Ach, Schätzchen!“, sagte die Frau, die plötzlich auf der Bühne erschienen war, „Ach, Schätzchen, das kannst du doch besser.“ Sharon blickte in die leeren Augen des Publikums. Es war, als hätte sich das Publikum gegen sie gewandt und würde hämisch grinsend auf ihren nächsten Fehler warten. „Steh auf!“, befahl ihr die Frau. „Steh auf und tanz´mit mir.“
Sharon spürte die Feuchtigkeit einer Träne auf ihrer Wange. Sie schniefte, stellte sich auf, holte tief Luft, aber ließ den Kopf hängen. Die Frau kam zu ihr hin, legte ihre Hand unter ihr Kinn und hob ihren Kopf. „Und jetzt tanzen wir.“ Sie gab ein Zeichen an das Orchester, was daraufhin das Musikspielen wieder aufnahm. Es war die Sonate von vorhin, doch waren plötzlich Zwischentöne enthalten, leiernd und schief, dass es sich grausig anhörte, wie eine Ode an den Clown.
Und sie fühlte sich zittrig und schwer, als sie die ersten Schritte wagte. Die Frau nahm sie bei den Händen und begann sich mit ihr im Kreis zu drehen. Schrecklich. Sie fühlte sich wie ein kleines Kind im Spielkasten und Ringel-Ringel-Reihen wir sind der Kinder zweien. Die Musik wurde immer schlimmer und schräger. Das Publikum johlte und höhnte, während sie sich weiterhin im Kreis drehten. Die Hände der Frau fühlten sich an wie kalter Pelz. Sharon wollte weglaufen, ihr entrinnen, dem Publikum entrinnen. Einfach weglaufen, doch die Frau hielt sie fest in ihrem Griff. Sie drehten sich jetzt so schnell, dass alles um sie herum wie ein einziges verzerrtes Bild erschien. Ihr war, als würde ihr jemand mit einer eisenbehandschuhten Faust in die Magengrube schlagen, wieder und wieder. Alles verschwamm zu einer Masse aus Hass und Ekel.
Als sie den Kopf hob und in das Gesicht der Frau blickte, war ihr, als stünde sie vor dem Abgrund eines schleimigen Eintopfs aus Fleisch, Knochen und Haaren. Und diese Masse begann sich langsam in seine Bestandteile aufzulösen. Nach und nach tropfte ein Klumpen von ihr herab und landete auf dem Boden, wo es zischend und dampfend liegenblieb. Sharons Schrei übertönte die Musiker, das Publikum und selbst die Frau blieb für einen Moment wie vom Blitz getroffen stehen. Sharon schlug die Augen auf und sah sich um.
Das spärliche Licht des Mondes flutete durch das Fenster in den Raum und öffnete Sharon die Augen. Es war nur ein Traum. Ein grauenhafter Alptraum. Ha...ha.
Sie schob die Bettdecke beiseite und setzte sich auf die Bettkante. Ihr war kalt und sie zitterte. Ihr Blick durchstreifte das ganze Zimmer, auf der Suche nach Sicherheit, Geborgenheit, irgendetwas, was ihr sagte, dass es tatsächlich alles nur geträumt war und sie nicht noch immer in diesem Traum gefangen war. Sie sah den Schrank, dessen großer Spiegel nur sie im schwachen Licht widerspiegelte und den kleinen Tisch. Das Bett. Das Fenster. Die Tür. Sie stand einen Spalt weit offen. Nicht schlimm. Es war nur, damit sie besser einschlafen konnte. Das Bett. Was, wenn sie unter dem Bett auf sie lauerte? Was, wenn sie darauf wartete, dass sie sich wieder hinlegte, um ungestört über sie herfallen zu können?
Sharon stand vom Bett auf und entfernte sich ein paar Schritte. Dann versuchte sie einen Blick unter das Bett zu erhaschen, doch der Spalt war zu klein und dunkel, dass sie nicht ganz drunter durchsehen konnte. Sie musste sich hinknieen, um alles erkennen zu können. Näher heran. Komm noch ein Stückchen näher heran. Das war sie. Das war nicht ich, dachte Sharon. Unsinn! Das bildest du dir ein, dachte Sharon. Es war so dunkel darunter. Sollte sie mit einem Arm darunterfahren, tasten, ob sich etwas darunter befand? Vielleicht sollte sie sich einfach wieder ins Bett legen und wieder schlafen. Warten, bis die Frau sie holen kommt.
Sharons Magen verkrampfte wieder. Schweiß rann ihr von der Stirn. Nackenhaare richteten sich auf. Der Arm tastete sich langsam unters Bett. Ihre Hand verschwand in der Dunkelheit. Sharon schluckte den dicken Kloß, der sich in ihre Kehle festgesetzt hatte, herunter. War da etwas? Sie fühlte die rauen Faser des Teppichs unter ihren Fingerkuppeln. Dreck. Staub. Nichts. Sharons Augen wurden groß und Adrenalin durchströmte ihren Körper. Etwas hielt ihren Arm fest. Sie war unter ihrem Bett. Sie kam sie holen. O,Gott. Hilf´mir. Sie stemmte ihre Füße gegen das Bett und versuchte sich aus dem festen Griff zu winden. Mit einem krachenden Geräusch, weich und durchdringend, konnte sie ihren Arm befreien. Sie hüpfte zwei Schritte nach hinten und fixierte einen unbestimmten Punkt unterhalb des Bettes.
Ein Stöhnen drang hervor. Sharon wartete keinen Moment mehr ab. Sie lief zur Tür, riss sie auf und spürte immer noch den Griff der Frau an ihrem Arm, so als würde sie ihn immer noch halten. Dann erst bemerkte sie die knöchernd weiße Hand, die ihren Arm umklammert hielt. Ein abgerissener Unterarmknochen an dem das tote Fleisch müde herabhing. Den Flur entlang laufend versuchte sie mit der anderen Hand sich von diesem ekel erregenden Zeugnis wahrhaft gewordenen Alptraums zu befreien.
Sie lief die Treppe hinunter und stürzte ins Wohnzimmer und schrie, so laut sie konnte.
10
„Sharon?“ Susann´s Stimme war zittrig. Was machte Sharon da draußen? Sie hatte sie doch ins Bett gebracht.
„Komm´sofort wieder rein“, schrie sie. Sharon lächelte. Sie schien zu singen und voll Fröhlichkeit zu sein. Sie machte eine Pirouette und der Wind umwehte ihr Nachthemd.
Sharon sah aus, als würde sie im Schlaf wandeln und in ihrem Traum tanzen.
Susann schlug mit der flachen Hand auf die Fensterscheibe. Doch Sharon reagierte nicht, stattdessen tänzelte sie weiter und entfernte sich Stück für Stück vom Fenster. Sie weitete ihre Arme, drehte sich um ihre eigene Achse und wurde immer weiter weggetrieben, wie Treibholz auf hoher See. Der Nebel öffnete seine Toren und empfing das willige Opfer. Susan war wie gelähmt. Sie stand am Fenster und beobachtete die Szenerie, wie jemand, der sich einen Horrorfilm im Fernsehen ansieht – beinahe teilnahmslos. Sie schüttelte sich und wischte diese Lethargie beiseite, wollte zur Tür stürmen. Da sah sie, wie aus dem Nebel die alte Dame emporstieg, sie kreischte und schrie vor Vergnügen und des Grauen furchtbare Steigerung - sie folgte ihrer Sharon. Mein Gott, steh ihr bei. Sie rannte in Richtung Tür, stieß mit dem Zeh an das Sofa und stolperte humpelnd und heulend die Tür hinaus.
11
Sharon stürzte ins Wohnzimmer. Nur einen Moment früher und sie hätte Susan noch sehen können. Doch jetzt war der Raum menschenleer. Hinter ihr vernahm sie das Poltern von Schritten. Sie war bereits auf der Treppe. Dicht hinter ihr. Wohin? Sie wirbelte herum und sah, wie die Tür sich bog, als wäre sie in den Schmelztigel eines Hochofens gefallen und jede ihrer Fasern drängte nach außen. Zunächst leuchtete sie blutrot auf. Dann sah sie das fingergroße Loch, was in sekundenschnelle an Größe gewann, um schließlich das Höllentor zu bilden, durch dass das Böse hindurchschreiten konnte. Das Holz war geschmolzen wie Metall. Unfassbar. Sie hatte keine Chance. Diese Frau war aus den tiefsten Ebenen der Menschheit empor gekrochen, nur um sie zu holen. Sharon stürzte zur Tür und rannte hinaus in den Nebel. Raus aus dieser Hölle.
12
Die nackten Füße Patricks machten leise klatschende Geräusche auf dem Holzboden. Er hatte sich von seinem Bett erhoben und ging nun den Flur entlang. Von Müdigkeit noch leicht benommen rieb er seine Augen. Seine Hände wurden ganz feucht. Er hatte wieder diesen Albtraum gehabt, der ihm einen furchtbaren Schrecken eingejagt hatte. Aber Mum hatte ihm gesagt, dass es nicht wirklich passieren konnte, dass es nur ein Traum sei. Doch in diesem Traum hatte er es sogar noch deutlicher sehen können. Diese Augen. Diese furchtbaren Augen. Und da war diese Frau. Sie flüchtete vor dem Nebel...oder vor etwas, was sich in dem Nebel verbarg. Sie rannte, trotz ihrer Krückstockes schneller, als ihr Alter es vermuten ließ. Und dennoch war sie zu langsam. Er hatte ihre Angst gespürt, als könne er in diesem traumhaften Moment alles in sich vereinen, als wäre er in der Lage die Angst zu greifen. Es war Panik gewesen. Panische Angst vor diesem Etwas. Beim ersten Traum hatte sie ihm die Stelle auf dem Boden gezeigt, eine Spur - nicht menschlich -, die er im Garten wiederfand. Aber in diesem Traum hatte sie nur diesen Ausdruck vollkommenen Entsetzens.
Sein Weg führte ihn an dem Wohnzimmer vorbei. Er passierte den Speisesaal und durchquerte den kleinen Raum, der nichts barg außer einem Tisch und einer Menge alter Bilder. Dann war er an der Tür angekommen, die den Raum von der Bibliothek trennte. Er öffnete sie. Dunkelheit. Ein schwaches Licht, das durch das Fenster schien. Es erhellte den Raum gerade eben. Auf beiden Seiten flankiert waren Regale mit Büchern, von denen er lediglich die Bücherrücken sehen konnte. Direkt vor ihm stand ein Schreibtisch und auf einem Stuhl dahinter saß eine Gestalt. „Komm´näher, Sohn.“, hauchte es, „ich muss Dir etwas Wichtiges über unsere Ahnen erklären.“
Patricks Herz wurde schwer. Sein Atem wurde hektischer. So hatte sein Dad noch nie mit ihm gesprochen. Alles wirkte so unheimlich.
„Die MC-Clarks haben immer schon die Einsamkeit des Hochlandes einem städtischen Leben vorgezogen. Sie sind die älteste Sippe. Vorher und auch danach gab es nie wieder eine stolzere und kämpferische Familie. Wir sind Krieger, Sohn.“ Patrick fiel auf, dass Dad´s Stimme seltsam fremd klang. Ein kehliger Ton schwang mit, wie ein boshaftes Knurren. Er stand von seinem Stuhl auf, als ein Blitz den Raum erhellte und Patrick ihn in einem sekundenbruchteil in seiner ganzen Größe sehen konnte. Er stand ein wenig vorgebeugt, die Haare wild nach allen Seiten stehend, eine Faust auf den Schreibtisch gestemmt. „Wir leben, um zu jagen. Wir sind stärker und mächtiger, als alles andere. Jeder Erstgeborene muss sich diesem Schicksal stellen.“ Eine Welle der Furcht packte Patrick beim Anblick seines Vaters. Er hatte das Gebiss eines Keilers und Augen...diese Augen...grausam und unerbittlich in ihrer Farbe und mit wuschigen Brauen überzogen. Patrick wandte seinen Blick von ihm ab und erhaschte einen zufälligen Blick auf sein Bild, was sich in einer Glasvitrine spiegelte. Das war also die Wahrheit. Das war es also, was er immer gesehen hatte. Seine Augen waren die seines Vaters. Sein Gesicht war zu einer grausamen Maske verzerrt.
„Es ist Zeit zu jagen, mein Sohn.“