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Tanz in der Nacht (Gustaf IV)
Der Weg lag weiß schimmernd da, und kurz überlegte Gustaf, ob er hier, alleine im Mondschein, einen Schatten warf. Aber da war keiner, als er sich umsah, und für Gustaf schien darin eine tiefere Bedeutung zu liegen, denn er nickte kurz, und dieses Nicken war wie ein Achselzucken, wie ein: Achso, ein: Na, wenn das so ist, doch schon im nächsten Augenblick ging ein Ruck durch den bis dahin so schlafwandlerisch daherschreitenden Körper: Die Hände ballten sich zu Fäusten, die Adern auf den Unterarmen traten hervor, die Stirn stemmte sich gegen die Dunkelheit, als schwebte ein unsichtbares Hindernis in der Luft, eine Mauer, die es zu durchbrechen galt, und von jetzt an zählten andere Dinge, jetzt hieß es: Vorangehen, der Zukunft entgegen, und von Halm erzählte man sich, dass sie dort zu finden war.
Doch da tat sich die Nacht auf. Aus den Baumreihen drang Geraschel. Ein Reh, dachte Gustaf noch, aber bevor der Gedanke ganz zu Ende gedacht war, stolperte schon ein schwarzer Fleck auf den Weg: Vornübergebeugt, wie im Fallen stürzte er sich auf Gustaf, nahm ihm die Sicht und die Luft, dreckstarre Finger legten sich um Gustafs Hals und drückten zu. Gustaf schlug um sich. Schlug ins Dunkel, schlug ins Nichts, ein Schlag traf wohl auch sein Ziel, ein dumpfer Ton, ein kurzes Zusammensacken des Flecks, aber der Griff blieb, wo er war, und da spürte Gustaf, dass es bald vorbei sein würde. Jetzt verblassten auch die Sterne am Himmel. Verschwammen, wurden doppelt, Gustaf ließ sich fallen in die warme Umarmung des Fremden, dachte an das, was mal war …
Oh. Und wieder: Oh, nur ein schwacher Ton ins Dunkel. Wie ein Erkennen diesmal, wieder wie ein: Achso, ein: Wenn das so ist, und jetzt nahmen auch die Sterne wieder Form an, jetzt warfen auch die Bäume wieder Schatten, jetzt löste sich die Zwinge um Gustafs Hals. Und an seiner Hand lief warmes Blut hinab.
Irgendwie hatte er wohl sein Messer zu greifen bekommen. Hatte fest zugedrückt, als er auf Widerstand stieß. Hatte die Faust, die das Messer umschloss, im Kreis gedreht, geschüttelt und durchgebogen, als wollte er mit einem stumpfen Spaten den Acker umgraben, nur dass der Acker ein Mensch war und die Wurzeln Knochen. Und jetzt röchelte der Fremde genauso stumm, wie er eben noch über ihn hergefallen war, sein Leben aus. Lag in Gustafs Armen wie ein alter Kneipenfreund, so, als wollte er ihm, nach Schnaps und nach Bier stinkend, noch verraten, was da eben eigentlich geschehen war, und Gustaf hörte ganz genau hin, um auch ja nichts zu verpassen. Legte sein Ohr an die Lippen des Dahinraffenden, spürte den feuchten Atem, den Sabber, den Rotz, nur verstehen konnte er nichts, dazu war er jetzt selbst zu erschöpft. Und so fielen beide in ihren wohlverdienten Schlaf, zwei schwarze Flecken auf dem weiß schimmernden Weg.
Das Reh sah ihn an. Ausdruckslos, mit hohlen, schwarzen Augen. Jede Sehne sprungbereit: Weiter, fort hier, nur der Kopf verharrte noch in Gustafs Richtung, während die Ohren schon nervös zuckten.
Mörder. Das war das erste Wort, das ihm in den Sinn kam. Er hatte einen Menschen umgebracht, einen Fremden. Der ihn überfallen wollte, der ihn selbst fast umgebracht hätte, und jetzt stürmten die Bilder der Nacht wieder auf ihn ein: Der weiße Mond, die verblassenden Sterne, und immer wieder das Messer und der Fremde – warum bloß hatte der seinen Weg gekreuzt? Warum hatte er sich Gustaf ausgesucht, einen Landstreicher mit einem an einen Stock gebundenen Tuch über der Schulter und sonst nichts? Warum hatte er keine Postkutsche überfallen, eine prachtvollen Wagen, auf dem es sonst was zu holen gab? Er wollte ihn schütteln und ohrfeigen, anschreien, dass er ihm eine Antwort schuldig war, dass sie noch nicht fertig waren, aber er war ja tot, abgestochen, von ihm, von Gustaf. Vom Mörder-Gustaf.
Gustafs Atem überschlug sich. Stockte, setzte ganz aus, nur, um im nächsten Augenblick wieder loszuwirbeln: Er merkte jetzt ganz deutlich, wie er die Kontrolle verlor. Über seinen Körper, seine Gedanken. Wie sich etwas gefährlich abzulösen begann, das unbedingt an seinem Platz bleiben musste, damit die Welt sich weiterdrehen konnte, und da sprang er auf, und auch das Reh sprang davon, verschwand im Wald.
Jetzt war er allein. Aber wo war der andere? Wo war der Fremde? War es nicht hier gewesen? Ist es nicht genau hier, an dieser Stelle passiert, dass er zum Mörder-Gustaf wurde? Die Welt hatte noch anders ausgesehen in der Nacht, aber Gustaf meinte, sich genau erinnern zu können: An den kleinen Busch am Wegrand, daran, wie der Fremde fast drübergestolpert war, als er auf ihn zugestürzt kam … Aber da war keiner, als er sich umsah. Nur ein Schatten, eingebrannt in die Erde. Nicht schwarz, sondern rot, rot-braun, rost-braun, der Pfad hatte das Blut aufgesaugt, getrunken und geschluckt, mit ein wenig Stiefelscharren würde nichts mehr von dem Fleck übrig bleiben, nichts mehr auf das hindeuten, was in der Nacht geschehen war.
Vielleicht hatte er sich in den Wald gerobbt. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Vielleicht konnte Gustaf seiner Spur folgen: Plattgedrücktem Moos und zerbrochenen Ästen, vielleicht konnte er ihm helfen und vielleicht konnte der andere ihm helfen zu verstehen – doch wozu? Wozu für Gewissheit sorgen? Wozu das Glühwürmchen einfangen, wo doch jeder weiß, wie hässlich es aus der Nähe ist? Und was waren schon Gedanken, jetzt, heute, würden sie ihn wohl noch ein wenig plagen, aber morgen würden sie dann schon blasser erscheinen, das wusste er, das hatte er schon oft beobachtet, und übermorgen … und danach … fast vergessen … nur ein schlechter Traum, eine nächtliche Fata Morgana … ein Taschenspielertrick … ein Witz … nicht der Rede wert … jetzt zählten andere Dinge. Halm … Halm … immer wieder kam ihm jetzt Halm in den Sinn: In Halm lag die Antwort, in Halm würde er Ruhe finden … in Halm lag die Zukunft … und so ging er dahin.