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Tante Grete
Toni hasste Familienfeiern, mindestens genauso wie alle anderen Jungs und Mädchen in seinem Alter. Umso mehr störte es ihn, dass er morgen mit seiner Familie bei Tante Grete eingeladen war. Ausgerechnet Tante Grete! Schlimmer hätte es ja nicht kommen können.
Tante Grete war eine ältere Frau mit hoch toupierter Frisur und hässlich altmodischen Kleidern. Meistens in den Farben grau oder schwarz – wenn man da überhaupt von Farben sprechen konnte. Sie wohnte am Rande der Stadt in einer Reihenhaussiedlung. Der einzige Lichtblick bei so einem Besuch war, dass Toni im Garten spielen konnte, wenn das Wetter schön war. Doch leider war es bereits Winter geworden und wenn es morgen genauso stürmisch und kalt wie heute werden würde, konnte er das vergessen. Ihm gruselte jetzt schon vor ihrem Kuss, der immer so nach Mottenkugeln schmeckte. Brrr...
"Muss ich morgen wirklich mitkommen?", fragte er beim Abendessen seine Eltern.
"Natürlich, was glaubst du denn?" Seine Mutter sah ihn vorwurfsvoll an. "Tante Grete ist eine arme alte Frau. Sie hat niemanden mehr seit ihr Mann letztes Jahr gestorben ist."
"Ahhh..." Toni nahm ärgerlich einen Bissen von seinem Schnitzel. "Ich hoffe, es gibt nicht wieder diesen eigenartigen Zimtkuchen. Der war ja widerlich."
"Toni!", fuhr ihn seine Mutter an. So etwas wollte sie nicht von ihrem Sohn hören, auch wenn sie den Kuchen insgeheim auch schrecklich fand. Doch nachdem sie ihn letztes Mal gegessen und gelobt hatte, war sie zufrieden über sich selbst gewesen. Ja, sogar ein wenig euphorisch, musste sie zugeben.
Am nächsten Morgen fuhr die Familie Jäger gleich am Vormittag los, damit sie rechtzeitig zum Mittagessen bei Tante Grete sein würden. Davor gab es noch einen kleinen Streit um den Gameboy, den Toni mitnehmen wollte, was ihm seine Mutter jedoch verbot.
"Papa, sag doch auch einmal etwas!", jammerte Toni, als sie alle schon in Mänteln vor der Haustür standen und seine Mutter den Gameboy in seiner Manteltasche entdeckt hatte.
"Tu, was deine Mutter sagt und bring ihn wieder in dein Zimmer." Das hatte er davon. Sein Vater war ihm auch keine Hilfe. Er seufzte laut auf und tat, was seine Eltern von ihm verlangten.
Dann ging es los. Nach einer halben Stunde konnte Toni bereits die Siedlung erkennen. Dann sah er das alte Häuschen und wie üblich verspürte er eine Abneigung, als er aus dem Auto aussteigen musste.
Wie immer klopften sie leise an die Tür, um Tante Grete nicht zu erschrecken. Kurz bevor sich die Tür öffnete und sie in das dunkle Haus gingen, fiel Toni der neue Wagen vor dem Nachbargrundstück auf.
"Hallo, mein Kleiner!", flötete Tante Grete mit ihrer heiseren Stimme und gab Toni den üblichen mottenkugeligen Schmatz auf die Wange, knapp vorbei an seinen Lippen. Zumindest war ihre Treffsicherheit heute nicht so gut, wie sonst, dachte Toni und fügte sich seinem Schicksal, als er seinen Eltern ins Wohnzimmer folgte.
Der Tisch war bereits gedeckt, jedoch für fünf Personen, wie Toni feststellte. Wahrscheinlich hatte seine Tante sich verzählt. Er sah seine Mutter an, der es ebenso aufgefallen war.
"Tante Grete", begann sie vorsichtig, "kann es sein, dass du dich beim Gedeck verzählt hast?"
"Ach", kam es aus der Küche. "Ich habe noch jemanden eingeladen." Die Familie Jäger sah sich verwundert an.
"Für Toni." Tante Grete kam aus der Küche. Im gleichen Moment schrillte die Türglocke. "Mach doch bitte auf, mein Schatz", sagte Tante Grete, während sie einen grünlichen Saft in die Gläser füllte.
Widerwillig ging Toni in den Vorraum und öffnete dem Überraschungsgast die Tür. Ein Junge in seinem Alter stand vor ihm. Er musste sich wohl an der Tür geirrt haben.
"Hallo, du musst Toni sei." Er reichte ihm die Hand und lächelte. "Ich bin Michi. Ich bin erst vor einem Monat neben deiner Tante eingezogen."
Toni wusste nicht, was er sagen sollte oder was er von dem Jungen halten sollte, dem es anscheinend überhaupt nichts ausmachte, bei Tante Grete eingeladen zu sein. Er schien sich sogar darüber zu freuen.
Während des Essens erzählte Michi Tonis Eltern, wer er war und wo er zuvor gewohnt hatte. Toni hatte immer noch kein Wort zu ihm gesagt.
Als das Essen abgeräumt wurde und die Sonne durch die Ritzen der Jalousien drang, die Tante Grete immer geschlossen hatte, als hätte sie etwas zu verbergen, fragte Michi, ob Toni mit ihm hinaus gehen wollte. Toni nickte, denn es roch wieder verdammt nach Zimt, jedoch gemischt mit dieser eigenartigen Note, die er nicht beschreiben konnte.
"Wieso gehst du freiwillig zu Tante Grete ins Haus?" Toni hatte seine Stimme wieder gefunden. Sie trippelten vor dem Haus mit einem alten Ball, den sie vor der Scheune entdeckt hatten.
"Wieso nicht?" Es klang tatsächlich verwundert. "Tante Grete ist doch eine coole Frau für ihr Alter."
Tonis Augen weiteten sich vor Erstaunen. Sprachen sie wirklich von derselben Person?
"Es stimmt, heute war sie etwas verändert", fuhr Michi fort. "Vielleicht liegt es an deinen Eltern."
"Wieso an meinen Eltern? Tante Grete ist immer so..." Ihm fiel kein passendes Wort ein.
"Also ich kenne sie ganz anders."
"Wie meinst du das?" Jetzt wurde Toni neugierig.
"Normalerweise hat sie pinkfarbene Jogginghosen an. Außerdem leitet sie eine Yoga-Gruppe." Er lachte als er sah, dass Toni vor Erstaunen der Mund offen stand. "Wir unterhalten uns oft miteinander, weißt du? Sie kennt nämlich auch einige Zauberrezepte."
Langsam begann Toni zu glauben, dass er von Michi bloß auf den Arm genommen wurde.
"Doch, es ist die Wahrheit." Michi hatte Tonis Misstrauen bemerkt. "Du kennst doch diesen Zimtkuchen, den sie öfter macht, oder? Heute hat es auch danach gerochen."
"Genau, der schmeckt doch ekelhaft, findest du nicht? Gut, dass wir uns davor gedrückt haben."
"Doch, das stimmt. Aber er macht glücklich. Ist dir das noch nie aufgefallen?"
Toni dachte nach. Bis jetzt waren sie nach dem Kuchen immer bald darauf nach Hause gefahren. Natürlich war er da sehr glücklich gewesen. Somit konnte er die Wirkung des Kuchens nicht wirklich bestätigen.
"Und warum ist sie bei mir immer so eigenartig?" Toni war beinahe etwas verletzt.
"Das musst du sie schon selbst fragen."
Als sie zurück ins Haus gingen, nahm sich Toni vor, dass er seine Tante fragen würde.
"Stimmt es, dass du eigentlich gar nicht so bist, wie du bist?", fragte er und handelte sich sofort ein "Toni, was soll das denn?" von seiner Mutter ein.
Tante Grete sah ihn erstaunt an, dann blickte sie zu Michi und nickte, als würde sie verstehen.
"Michi hat es dir erzählt, nicht wahr?" Tonis Eltern sahen sich fragend an. Toni erkannte Angst in ihren Gesichtszügen.
"In Ordnung", begann Tante Grete. Ihre Worte waren an Tonis Eltern gerichtet. "Es geht mir gut." Plötzlich war ihre Stimme nicht mehr so heißer sondern fest. "Ihr erwartet von mir, dass ich die alte einsame Witwe spiele, doch das bin ich nicht." Tonis Eltern zuckten erschrocken zusammen. "Eigentlich ist es mir noch nie besser gegangen. Endlich muss ich nicht mehr Tag für Tag jemandem eine fürsorgliche Ehefrau ohne eigene Bedürfnisse sein, also warum soll ich trauern. Ich habe es satt, mich mein Leben lang verstellen zu müssen. Ich habe es satt, seit dem Tod von Onkel Fritz immer schwarze Kleidung tragen zu müssen. Bis auf dieses Kleid, habe ich alles verschenkt." Erst jetzt fiel Toni auf, dass seine Tante bei den letzten paar Besuchen immer dasselbe Kleid getragen hatte. Er beobachtete, wie seine Eltern sich bei der Hand nahmen, ein entsetzter Ausdruck lag auf ihren Zügen.
"Genau davor hatte ich Angst", sprach Tante Grete weiter. "Ich möchte gerne so sein, wie ich bin, wenn ihr mich das nächste Mal besucht. Auch wenn ich dadurch ein Bild in euren Köpfen zerstöre. Doch es ist ein falsches Bild von mir." Langsam begannen Tonis Eltern zu nicken. "Vielleicht hätte ich es schon viel früher tun sollen", sagte sie nachdenklich.
Auf dem Nachhauseweg begann Toni sich plötzlich zu freuen, doch diesmal war es nicht, weil sie wieder nach Hause fuhren, sondern er freute sich auf ihren nächsten Besuch bei Tante Grete. Er war gespannt auf die Frau, die er bis jetzt nie kennen lernen durfte. Und es war ganz bestimmt nicht der Zimtkuchen, denn er hatte kein einziges Stück davon gegessen.