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Tante Eleonore
24.10.00
Kurzgeschichte
Tante Eleonore
Es war wie vor einem Bungee-Sprung. Diese seltsame Todesangst, die eigentlich völlig unbegründet ist. Völlig ?! Ich war mir nie sicher. Irgendwie mochte ich das Gefühl. Ich verabscheute nur den Auslöser. Bald hatte ich mich an den Adrenalinstoß gewöhnt, der erst langsam von meinem rebellierenden Magen in Richtung meines Kopfes aufzusteigen schien, um meine Gedanken in eine Art Rauschnebel einzutauchen, der mich das Schreckliche vergessen ließ.
Nun gut, vielleicht steigerte ich mich etwas in die ganze Sache hinein, aber Besuche bei Tante Eleonore hatten für mich immer etwas Traumatisches an sich. Von frühester Kindheit an hat mich allein der Gedanke in einen Trancezustand versetzt, für mich die einzige Möglichkeit das Bevorstehende zu verdrängen. Ich weiß noch, wie einmal auf einer Klassenfete ein Joint herumging, aber ich brauchte keine Drogen, um in einen Zustand der Apathie zu fallen, der Gedanke an Tante Eleonore genügte. Mein ganzes junges Leben war geprägt von Kaffeekränzchen, Gartenparties, Beerdigungsessen, Nachmittagstees, Nachmittagstees und Nachmittagstees. So seltsam es klingt, Tante Eleonore war immer anwesend.
Mein Gesicht an ihren voluminösen Busen gepreßt, in eine riesige Wolke süßlichen Parfums gehüllt, hob sich ihre Stimme stets zu einer Tonlage jenseits der Hysterie, um mir und allen Anwesenden, auch denen, die am anderen Ende des Raumes standen, mitzuteilen „Mein Gott Junge, so klein habe ich dich in Erinnerung", während sie mit der Hand eine Bewegung auf Kniehöhe machte um ihre Aussage zu unterstreichen. Mein mühsam erkämpftes Lächeln - jegliches Sprechen war mir spätestens zu diesem Zeitpunkt unserer Treffen unmöglich - wurde meist mit einem äußerst feuchten, hingebungsvoll schmatzenden Kuß auf meine Wange belohnt, der stets einen klebrigen, runden Abdruck pinkfarbenen Lippenstifts hinterließ. Ich lernte schnell, dass jegliche Reaktion meinerseits eine derartige Belohnung zur Folge hatte, was mich bald zu einem fast autistisch wirkenden Begleiter meiner Eltern machte, die sich immer freuten, wie gut ich mich mit Tante Eleonore verstand.
In der Pubertät wurde mir plötzlich klar, daß Tante Eleonore nicht die einzige Frau neben meiner Mutter sein konnte und der leise Wunsch, meine Wochenenden sinnvoller zu nutzen, keimte in mir auf. Leider hatte Tante Eleonore ein Faible für autistische 14-jährige, ihre Einladungen wurden immer dringlicher. Freudestrahlend packten mich meine Eltern Wochenende für Wochenende auf die fleckige Rückbank unseres alten Kombis, um mich Tante Eleonores liebevoller Umsorgung auszuliefern.
Nachdem sie mich ausgiebig begrüßt hatte, führte Tante Eleonore mich stets in das große Speisezimmer, an dessen gedeckten, verschnörkelten Eichenholztisch meist schon Tante Frieda und Frau Freudenreich, eine Bekannte Eleonores saßen, die schon auf mein Erscheinen gewartet hatten. Es wurde für mich bald zur Gewohnheit, dass ich bei Beginn des unvermeidlichen Gesprächs über meine hervorragende Entwicklung eindöste, bis die Frage „Hast du nun schon eine kleine Freundin, junger Mann" kam, bei der im besten Falle sechs neugierige, von faltigen Hautbergen umgebene Augen, auf mich gerichtet waren, manchmal noch viel mehr. Bis ich etwa 15 war, lief ich puterrot an und schaute zu Boden, worauf Tante Eleonore mir freudig den Kopf tätschelte bis es weh tat und sagte: „So ist’s brav, lass dir nur Zeit. Du hast ja mich!", worauf alle Anwesenden jedesmal aus Neue gerührt grinsten und ich vor Scham am liebsten in den Boden versunken wäre.
Nachts träumte ich oft, ich wäre ein winziges Insekt, das sich im Irrgarten ihrer Stirnfalten verlaufen hatte und nicht mehr herausfand. Ihr ganzes Gesicht war durchfurcht von meterdicken Falten. Sogar auf ihrer riesigen, schnabelförmigen Nase wanden sich Falten in bizarren Formen. Am furchteinflößendsten waren die beiden senkrechten Falten, die von ihren Mundwinkeln bis hinunter zum Kinn liefen und sich, wenn sie Suppe aß, in zwei reißende Flußläufe verwandelten.
Das Schlimmste jedoch war Baltharsar, Tante Eleonores neurotischer Kleinspitz, in dessen Schlepptau ich mich zum Gespött sämtlicher Gleichaltriger machte, die mir unglücklicherweise hin und wieder auf unseren Spaziergängen begegnen. Er erinnerte mehr an ein überdimensionales Langhaarmeerschwein, als an den Nachfahren eines wildlebenden Wolfes. Er schien schien diesen Komplex jedoch kompensieren zu wollen, indem er mich oft bellend über mehrere Kreuzungen jagte, voll freudiger Erwartung, seine kleinen spitzen Zähne in mein Hosenbein rammen zu können. Wenn Tante Eleonore uns so sah, meinte sie stets lächelnd zu ihren Freundinnen : „Seht nur wie nett der Junge und der Hund miteinander spielen!".
Das Ganze war nur schwer zu ertragen.
Heute muß ich lächeln, wenn ich an sie denke. Vielleicht hat die Zeit mir nicht einmal geschadet. Immerhin hat sich mein Leben durchaus positiv entwickelt. Die Geschichte ist zu einer Art Anekdote geworden, die kaum noch Nervenzusammenbrüche und Herzrasen bei mir auslöst. Vielleicht werde ich sie meiner Frau heute Abend erzählen, wenn wir zusammen Essen gehen. Schön dass Hubert, unser Jüngster, bei Tante Gertraud so gut aufgehoben ist.
Claudia Lichtenwald