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Tante Anni
"Jungs, hört mal her, ich muss euch was sagen."
Martin horchte auf. Der Tonfall seiner Mutter verriet ihm, dass sie ein ernstes Thema ansprechen wollte. Normalerweise nannte ihre Mutter ihn und Stefan sonst nie Jungs. Stefan schien das nicht aufgefallen zu sein, er stocherte weiter in seinem Müsli herum, als hätte er seine Mutter nicht gehört. Aber er war schließlich auch erst sieben.
„Ich war gerade kurz bei Tante Anni oben“, sagte seine Mutter.
Martin nickte. Soweit nichts Besonderes. Das war der übliche Verlauf eines Samstagmorgens für seine Mutter: Erst ging sie einkaufen, anschließend brachte sie Tante Anni im oberen Stock ihre Lebensmittel. Sie nannten sie immer Tante Anni, dabei war sie in Wirklichkeit ihre Großtante.
„Ihr gehts heute nicht gut. Sie sagt, sie hat Kopfschmerzen und ihr ist schwindlig. Sie hat sich wieder ins Bett gelegt. Nehmt bitte Rücksicht darauf und seid ein bisschen leise heute.“
Jetzt blickte Stefan auf. Sonnenstrahlen schienen direkt in sein Gesicht, so dass er die Augen zukneifen musste. „Aber Tante Anni wollte mir heute aus meinem Buch vorlesen“, sagte er und sah seine Mutter mit trotzigen Augen an. „Sie hat mir gestern versprochen, dass sie mir heute Rumpelstilzchen vorliest.“
„Das kann sie aber heute nicht“, antwortete seine Mutter. „Du hast doch gehört, was ich gesagt habe. Sie hat sich wieder in ihr Bett gelegt.“
„Aber sie hats versprochen“. Stefan machte einen wütenden Gesichtsausdruck und sah aus, als hätte er am Liebsten mit dem Fuß auf den Boden gestampft.
Seine Mutter atmete geräuschvoll Luft ein und aus. Für Martin klang es wie eine Mischung aus einem Seufzen und einem Schnauben. Eine Mischung aus Niedergeschlagenheit und Wut. Er hasste dieses Geräusch.
„Du hast doch gehört, dass das nicht geht“, schaltete er sich in das Gespräch ein. „Also gib jetzt Ruhe und ess dein Müsli auf.“
„Danke, Martin“, sagte seine Mutter, doch es klang nicht erleichtert, sondern resigniert. Sie drehte sich zur Spüle um und begann, das Geschirr zusammenzuräumen.
Martin wusste, dass sie unglücklich war. Er hasste es, sie so zu sehen, weil es ihm das Herz brach. Er war erst zwölf Jahre alt, doch er fühlte sich verantwortlich für sie, weil er der Mann im Haus war. Sein Vater war vor einigen Jahren schwer verwundet aus dem Krieg zurückgekehrt und kurze Zeit später in einem Krankenhaus gestorben. In ihrer Verzweiflung hatte seine Mutter den Ärzten die Schuld am Tod ihres Mannes gegeben.
Der Krieg war inzwischen vorbei, und vieles hatte sich verändert. Das Meiste davon war positiv. So hing in ihrem Wohnzimmer nun kein Bild mehr des Führers, vor dem sich Martin immer gefürchtet hatte (die grimmigen Augen des Führers schienen ihn immer direkt anzusehen, egal in welchem Teil des Zimmers er sich aufhielt). Auch gab es nachts keinen Fliegeralarm mehr. Keine langen, kalten Nächte mehr im Bombenkeller, in dem sich sämtliche Bewohner des Hauses versammelt und schweigend und mit angsterfüllten Gesichtern auf die nahen Einschläge gelauscht hatten. Diese Nächte hatte Martin in den Armen von Tante Anni verbracht, hatte sich an sie gedrückt und sich auf ihre gleichmäßige Atmung konzentriert, während sein Herz wilde Rhythmen in seiner Brust geklopft hatte.
Doch nicht alles hatte sich zum Guten verändert. Seine Mutter war ausgebildete Krankenschwester, aber seit dem Tod seines Vaters hatte sie kein Krankenhaus mehr betreten. Sie weinte oft, selbst heute noch. Es kam nicht selten vor, dass sie abends stundenlang in ihrem Bett lag und sich in den Schlaf weinte. Vermutlich dachte sie, ihre Söhne würden das nicht mitbekommen, doch Martin hörte es jedes Mal. Sein Kummer darüber fühlte sich an wie ein heißer Stein, der auf seinen Magen drückte.
„Warte bis nächste Woche, dann kann sie dir bestimmt wieder vorlesen“, sagte Martins Mutter zu Stefan, ohne sich von der Spüle umzudrehen.
Stefan wandte sich ohne weitere Widerrede – doch mit enttäuschtem Gesicht – wieder seinem Müsli zu. Martin wusste, dass er auf ihn hörte, denn schließlich war er der große Bruder und damit automatisch der Mann im Haus.
Doch wie sich herausstellte, besserte sich Tante Annis Zustand keineswegs. Martins Mutter sah jeden Tag zweimal nach ihr, aber es schien nicht besser zu werden.
„Hat sie immer noch Kopfschmerzen?“, fragte Martin, als seine Mutter eines Abends aus ihrer Wohnung herunterkam.
„Ja, immer noch. Es wird einfach nicht besser“, antwortete seine Mutter. Sie wirkte erschöpft. „Außerdem ist ihr ununterbrochen schlecht, und ihre Haut juckt.“
„Vielleicht solltest du mal mit ihr zum Arzt“, schlug Martin vorsichtig vor. Er wusste, dass seine Mutter nicht gut auf Ärzte zu sprechen war.
„Ich denke, ich habe das ganz gut selbst im Griff“, antwortete sie kalt. Natürlich. Seine Mutter hatte die Dinge immer besser im Griff als irgendwelche Ärzte. Selbst als Stefan vor zwei Jahren bei über 40 Grad Fieber und einer vermuteten Lungenentzündung beinahe gestorben wäre, hatte sich seine Mutter geweigert, einen Arzt zu verständigen. Sie selbst hatte ihn damals gepflegt.
„Oder vielleicht kann Dr. Kranz mal nach ihr sehen“, sagte Martin etwas widerwillig. Normalerweise erwähnte er Friedrich Kranz nicht, weil er eine tiefe Abneigung gegen ihn verspürte. Er besuchte seine Mutter in unregelmäßigen Abständen, und sie selbst bezeichnete ihn als einen Freund der Familie. Was immer er war, Martins Freund war er nicht. Er hatte das Gefühl, dass seine Mutter ihn auch nicht leiden konnte; nichtsdestotrotz kam er immer wieder. Martin wusste, dass er seiner Mutter öfter Geld zusteckte. Geld, das sie dringend brauchten, seit seine Mutter nicht mehr arbeitete. Als er ihr einmal gesagt hatte, was er von Dr. Kranz hielt, hatte sie nur gemeint: „Er hilft uns, und das ist Hilfe, auf die wir angewiesen sind. Die Miete und das Essen müssen bezahlt werden, oder willst du auf der Straße schlafen?“ Das wollte Martin ebenso wenig wie seine Mutter, daher war er still gewesen.
„Es ist ganz sicher nicht notwendig, dass er das tut“, antwortete seine Mutter. Ihr Tonfall klang aggressiv. „Und wenn, dann entscheide ich das selbst.“
„Ich kann auch mal zu ihr hoch gehen und nach ihr sehen.“
„Nein, das lässt du bitte bleiben. Tante Anni ist krank, und das Letzte, was sie jetzt brauchen kann, sind irgendwelche Kinder um sie herum.“
Martin hasste es, wenn sie ihn Kind nannte.
„Ich muss ja nicht lange bleiben, es reicht ja schon, wenn ich ihr nur ihre Tabletten oder so bringe.“
„Ich habe nein gesagt, Martin, ist das klar? Ich will nicht, dass du zu ihr hoch gehst. Ist das angekommen?“
Zunächst hatte Martin gedacht, seine Mutter habe bei diesem Satz wütend geklungen. Als er später kurz vor dem Einschlafen noch einmal darüber nachdachte, kam es ihm so vor, als sei sie eher ängstlich gewesen. Als fürchte sie sich davor, dass er zu seiner Großtante hochgehen würde.
In dieser Nacht hatte Martin einen Alptraum.
Darin stand er mit Stefan in ihrer Wohnung, doch es war stockdunkel. Die Wohnungstür war angelehnt, und durch den Spalt drang etwas Licht aus dem Treppenhaus. Im schwachen Schein dieses Lichts konnte er Stefans Gesicht sehen. Seine Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Er starrte panisch auf die angelehnte Wohnungstür.
Martin konnte sich nicht bewegen. Auch er blickte jetzt auf die Tür, doch er wusste nicht, weshalb.
Plötzlich hörte er, wie jemand die Treppe herunterkam, und eiskaltes Grauen breitete sich in seinem Körper aus.
Er wusste nicht, wer es war, doch er hörte die Schritte, die sich langsam Stufe für Stufe herunter bewegten. Und er wusste, wer auch immer es war, er – es – durfte nicht in diese Wohnung. Martin wollte zur Tür rennen und sie schließen, doch er war wie gelähmt.
Die Schritte kamen immer näher. Das Ding stand jetzt schon beinahe vor der Tür.
Da spürte er, wie Stefan nach seiner Hand griff.
„Sind die Schnallen zu?“, fragte Stefan. Martin verstand nicht, was das bedeuten sollte.
„Was?“
„Sind die Schnallen zu?“, schrie sein Bruder, und Martin sah das Entsetzen im Gesicht seines Bruders, das er selbst verspürte. „Sind die Schnallen zu? Sind die Schnallen zu?“
Immer wieder schrie sein Bruder diesen einen Satz.
Die Gestalt war jetzt vor der Tür angekommen und verharrte dort.
Martin wollte schreien: „Ich weiß nicht, was das bedeutet“, doch kein Laut kam aus seinem Mund.
Die Tür wurde aufgerissen, und in diesem Moment wachte Martin auf.
Dr. Kranz kam einige Tage später.
Er war älter als seine Mutter und hatte sich gut in Form gehalten. Er hatte kurzes, grau meliertes Haar und kantige Gesichtszüge. Doch trotz seiner sportlichen Figur widerte allein schon seine Erscheinung Martin an.
Er hatte eine große Tasche dabei, in der sich Medikamente befanden. Seine Mutter hatte am Tag zuvor mit ihm telefoniert und ihm Anweisungen gegeben, was er mitbringen sollte. Tante Anni ging es immer noch nicht besser. Im Gegenteil, Martin hatte das Gefühl, seine Mutter sei immer blasser und irritierter, wenn sie aus ihrer Wohnung herunterkam. Sie sah inzwischen dreimal am Tag nach ihr, da sich Tante Anni ihr Essen nicht mehr selbst machen konnte.
„Und du bist sicher, dass du all das Zeug brauchst? Auch die Sachen gegen den Ausschlag?“, hörte er Dr. Kranz sagen. Er befand sich mit seiner Mutter in der Küche; Martin und Stefan waren in ihr Zimmer geschickt worden. Das passierte häufiger, wenn Dr. Kranz zu Besuch war. Dank der dünnen Wände konnte Martin jedoch jedes Wort hören.
„Ich bin mir nicht sicher. Aber irgendwas davon wird schon helfen.“
„Du weißt, dass ich dir das eigentlich nicht einfach so geben kann. Du brauchst Rezepte dafür. Ich sollte sie mir zumindest mal kurz selber anschauen, um beurteilen zu können, was das Richtige für sie ist.“
„Ich weiß schon, was gut für sie ist. Mach dir da mal keine Sorgen.“
„Gut, wie du meinst. Mir ist es im Prinzip auch egal.“
Er hörte, wie Dr. Kranz den Inhalt seiner Tasche auf dem Küchentisch ausleerte.
„Dass dich das etwas kostet, ist dir wohl klar, oder?“
„Ja, aber nicht heute“, antwortete seine Mutter. „Die Kinder sind da.“
„Damit habe ich kein Problem, ich kann auch leise sein“, sagte Dr. Kranz. Martin war nicht klar, worum es in dieser Unterhaltung ging.
„Friedrich, bitte, es geht heute nicht.“
„Na schön. Dann nehme ich die Medizin einfach wieder mit, was meinst du? Soll deine alte Tante doch sehen wo sie bleibt.“
Das schien zu wirken. Seine Mutter gab nach. Die beiden gingen in ihr Schlafzimmer, und Martin hörte eine Weile nichts. Gerade als er nachsehen wollte, ob die beiden überhaupt noch in der Wohnung waren, hörte er, wie das Bett seiner Mutter quietschte. Immer und immer wieder. Martin hatte das absurde Bild vor Augen, die beiden würden darauf wie auf einem Trampolin springen.
Dann hörte er Dr. Kranz laut schnaufen. Es klang bedrohlich, wie das Schnaufen eines Tieres.
Martin hatte nicht die geringste Ahnung, was dort vor sich ging. Doch er spürte vage, dass es etwas Erzwungenes war. Etwas Abscheuliches, das mit Verzweiflung und Schmerz zu tun hatte.
Nach wenigen Minuten war es vorbei, und er hörte die beiden wieder im Flur.
Die Stimme seiner Mutter klang leise und tonlos. „Du schuldest mir noch was.“
Dr. Kranz' Antwort klang bestimmt und ließ keine Widerrede zu. „Ganz bestimmt nicht. Du bekommst heute kein Geld. Was meinst du, was die ganzen Medikamente kosten?“
Damit verließ er ihre Wohnung.
Danach stellte sich seine Mutter lange unter die Dusche, obwohl zu dieser Zeit nur kaltes Wasser kam. Das tat sie oft, nachdem Dr. Kranz zu Besuch gewesen war. In dieser Nacht hörte Martin sie noch lange im Nebenzimmer leise weinen.
Auch das geschah häufiger nach Besuchen von Dr. Kranz.
Der nächste Abend war bitterkalt. Draußen kündigte sich einer der berüchtigten Novemberstürme an, welche die ganze Nacht um das Haus pfiffen.
Martin hatte sich in eine warme Decke eingewickelt und es sich mit einem Buch bequem gemacht, während seine Mutter Tante Anni das Abendessen brachte. Das war inzwischen zu einem festen Ritual geworden, und Martin beobachtete es mit wachsender Sorge. Noch immer war ihm nicht klar, worunter seine Tante eigentlich litt. Er wusste nur, dass es deutlich schlimmer als bloße Kopfschmerzen waren.
Als er auf einmal die Stimme seiner Mutter aus der Wohnung oben hörte, schreckte er hoch.
„Ich habe gesagt, du sollst dich in dein Bett legen, verdammt nochmal“, schrie sie.
Martins Herz begann zu rasen. Seine Mutter fluchte nur selten, und er hatte sie noch nie in diesem Tonfall mit Tante Anni reden hören. Dann geschah etwas Seltsames: Er meinte, eine Stimme zu hören, doch sie war zu leise, als dass er die Worte verstanden hätte. Und sie hörte sich ganz und gar nicht nach Tante Anni an. Wenn Martin es nicht besser gewusst hätte, hätte er vermutet, seine Mutter würde mit einer fremden Frau sprechen. Beim Klang dieser Stimme bekam er eine Gänsehaut.
„Nein! Geh in dein Bett!“ Das war erneut seine Mutter. Sie betonte jedes Wort.
Wieder hörte er diese andere Stimme. Sie klang, als würde die Person sehr langsam sprechen. Krächzend und schwach. Dann erklang ein dumpfer Schlag, als sei etwas Schweres auf den Boden gefallen. Danach war es lange still. Martin hörte sein klopfendes Herz, das als Echo durch seinen Kopf hallte.
Ein paar Minuten später kam seine Mutter wieder durch die Wohnungstür. Ihre Augen waren groß, ihr Blick verstört. Sie keuchte.
„Was ist denn los da oben?“, fragte er.
Seine Mutter schüttelte den Kopf. „Lass gut sein, Martin“, sagte sie.
„Mama, was ist mit Tante Anni?“
„Sie ist krank, das weißt du doch.“
„Ja, aber was fehlt ihr? Du hast gesagt, es sind Kopfschmerzen.“
Er wollte ihr nicht erzählen, dass er Dr. Kranz von einem Ausschlag hatte reden hören. Er wollte nicht, dass seine Mutter wusste, dass er ihre Unterhaltung belauscht hatte.
„Ja, Kopfschmerzen hat sie auch noch. Und es ist etwas ...“ Seine Mutter schien die richtigen Worte zu suchen. „Etwas mit ihrer Haut“, beendete sie den Satz schließlich.
„Mit ihrer Haut?“ Martin spürte, wie sich ein Kloß in seiner Kehle bildete.
„Ja. Vielleicht nichts Ernstes. Vielleicht geht es wieder weg.“
Seine Mutter war schon auf halbem Weg in die Küche, als ihr etwas einzufallen schien. Sie drehte sich um und senkte die Stimme, damit Stefan im Nebenzimmer sie nicht hören konnte.
„Hör zu Martin, ich will nicht, dass du oder dein Bruder in der nächsten Zeit nach oben gehen. Sie benimmt sich komisch. Und sie sieht nicht gut aus.“ Der Blick seiner Mutter war düster. „Das tun Menschen nie, wenn sie längere Zeit krank sind“, schob sie nach. „Ist das angekommen?“
Martin nickte, doch er hatte das Gefühl, als habe sie diesen letzten Satz nur gesagt, um ihn zu beruhigen. Ihm kam in den Sinn, dass es keine Nebenerscheinung der Krankheit war, dass sie nicht gut aussah. Es war die Krankheit selbst, die sie veränderte.
Es war dieser Abend, als Martins Sorge um seine Großtante in Angst umschlug.
In der nächsten Woche fiel der erste Schnee.
Martin und Stefan spielten auf der kleinen Wiese im Hof hinter ihrem Haus. Es war spät am Nachmittag, beinahe schon Abend. Die Dämmerung brach langsam über sie herein; trübes Winterlicht kündigte die bevorstehende Nacht an.
Sie hatten versucht, einen Schneemann zu bauen, doch der Schnee reichte nicht mehr für einen Kopf. Als sie gerade einen Klumpen aus dem Rumpf brachen, um daraus den Kopf zu formen, blickte Stefan nach oben. „Schau mal, da“, sagte er und zeigte mit dem Finger in Richtung Haus.
Martin drehte sich um. „Was ist da?“
„Tante Anni“, sagte Stefan und zeigte nach oben.
„Wo?“ Er folgte Stefans Blick zu einem kleinen Fenster im obersten Stock des Hauses, Tante Annis Küchenfenster. Martin konnte nur die Vorhänge erkennen.
„Ich seh nichts. Wo ist sie?“
„Sie hat gerade rausgeschaut. Glaube ich. Sie hat komisch ausgesehen.“
Martin spürte einen kalten Schauer. Er starrte angestrengt nach oben. Sah sie nicht. „Willst du mich verarschen?“
„Nein, sie war wirklich kurz da. Sie hat rausgeschaut.“
Martin ging zwei Schritte zurück, um leichter nach oben sehen zu können. Da war das Fenster. Die weißen Vorhänge. Und dahinter -
Er sah die vagen Umrisse einer Gestalt, doch er war sich nicht sicher. Konnte sich in dem Dämmerlicht auch täuschen. Stand da jemand hinter dem Vorhang?
„Warum hat sie komisch ausgesehen?“
„Ich weiß nicht.“ Stefan klang verunsichert.
„Ich glaube, du hast dich getäuscht. Hast dir das nur eingebildet.“ Er kniff die Augen zusammen, versuchte zu erkennen, ob es sich bei den Schemen hinter den Vorhängen um eine Person handelte.
Aus einem Impuls heraus winkte er nach oben. So hatte er Tante Anni im Sommer oft zugewunken, wenn sie von dem Fenster aus den Jungs beim Spielen zugesehen hatte.
Die Konturen hinter dem Vorhang bewegten sich und formten sich zu einer Gestalt. Martin sah, wie die Umrisse einen Arm hoben und das Winken erwiderten. Er schreckte jäh zurück, spürte, wie sich ein Schrei in seiner Kehle bildete, den er nur mit Mühe unterdrücken konnte.
„Was hast du?“, rief Stefan.
Martin zitterte. Er hatte das Gefühl, irgendwo in seinem Körper sei etwas explodiert, doch statt einer Hitzewelle verbreitete sich eisige Kälte.
„Ich weiß nicht“, sagte er. Da oben stand eine Gestalt, dessen war er sich jetzt sicher. Doch sie blieb hinter dem Vorhang verborgen. Stand einfach nur da und sah regungslos nach unten. Aber das konnte unmöglich Tante Anni sein. Die Person hinter dem Vorhang war zu schmal und zu klein. Wieder hatte er das Gefühl, es befinde sich jemand Fremdes in der Wohnung.
„Wer ist das?“, flüsterte er zu sich selbst.
Jetzt blickte auch Stefan wieder angestrengt nach oben.
Doch die Gestalt bewegte sich nicht mehr. Wenn sie sich überhaupt jemals bewegt hatte, und nicht nur ein Trugbild in der einbrechenden Dämmerung war.
„Ich glaube nicht, dass da jemand war“, sagte Martin schließlich, mehr, um sich selbst und seinen Bruder zu beruhigen, als dass er es wirklich glaubte. Er hatte keine Lust mehr, dem Schneemann einen Kopf zu spendieren. Die Kälte hatte sich in seinem Körper festgesetzt.
„Komm, lass uns wieder zurück ins Haus gehen.“
Die hereinbrechende Nacht wurde durch vereinzelte Schneeflocken begleitet. Martin und Stefan verließen den Hof, ohne noch einmal nach oben zu sehen.
Nur wenige Tage später erwachte Martin mitten in der Nacht.
Er hatte das Gefühl, wieder aus einem Alptraum aufgewacht zu sein, doch er konnte sich nicht mehr an den Inhalt erinnern.
Sind die Schnallen zu?
Dieser Satz löste ein tief verwurzeltes Unbehagen in ihm aus.
Draußen stürmte es. Er hörte, wie der Wind um das Haus pfiff.
Er drehte sich um und versuchte, wieder einzuschlafen, als er oben in der Wohnung Schritte hörte. Trotz des Sturms konnte er sie deutlich hören.
Das ist Tante Anni, sagte er sich. Sie läuft durch die Wohnung.
Er wunderte sich, warum sie das mitten in der Nacht tat. Vielleicht musste sie aufs Klo.
Noch ein Schritt. Und noch einer. Sie schienen unendlich langsam zu sein.
Wenn seine Mutter das hörte, würde sie vermutlich wieder wütend werden. So wie neulich, als sie Tante Anni angeschrien hatte.
Geh in dein Bett!
Er wollte nicht mehr daran denken. Wollte nicht mehr an Tante Anni denken, nicht mehr an seine Mutter, die selbst immer blasser und magerer wurde. Er wollte nur noch -
Seine Atmung setzte für einen Moment aus, als er hörte, wie oben die Wohnungstür geöffnet wurde. Es war nur ganz leise, doch er hörte es klar und deutlich.
Er schreckte hoch. Spürte, wie ihm kalter Schweiß auf die Stirn trat.
Er lauschte angestrengt nach oben. War Tante Anni eben aus der Wohnung gekommen?
Er versuchte, ihre Schritte im Treppenhaus zu hören. Fühlte sich in seinen Traum von neulich zurückversetzt, als jemand ebenfalls die Treppen heruntergekommen war. In seinem Traum hatte ihn nacktes Entsetzen gepackt, und das tat es auch jetzt wieder. Doch er hörte nichts.
Oder doch?
War da ein Schritt? Knarrte da eine Stufe? Oder war es der Sturm?
War da was?
Da war nichts. Er hatte sich alles nur eingebildet. Die Schritte, das Öffnen der Tür. Seine Gedanken hatten ihm einen Streich gespielt. Seine Alpträume hatten einfach nicht aufgehört, als er aufgewacht war.
Da war nichts.
Das sagte er sich immer wieder, bis er hörte, wie der Schlüssel ihrer eigenen Wohnungstür herumgedreht wurde.
Klack-klack.
Wie ein scharfes Schwert durchschnitt dieser Laut die Stille der Wohnung und bohrte sich direkt in Martins Kopf. Er schrie auf.
Die Tür seines und Stefans Zimmer war geschlossen, doch er hörte, wie jemand in den Flur ihrer Wohnung trat.
„Aaaaah“. Die Stimme war überraschend laut. Nur dass es nicht wirklich eine Stimme war. Es klang wie das Krächzen eines Toten, der seit vielen Jahren in seinem Grab geschwiegen und nun auf einmal aufgewacht war.
„Lena?“, rief diese Stimme. Sie hatte nichts mehr mit Tante Annis früherer Stimme gemein.
In diesem Moment wurde die Schlafzimmertür seiner Mutter aufgerissen, und Martin sah unter dem Türspalt, wie das Licht im Flur anging.
„Verdammt, was machst du hier?“, schrie seine Mutter.
Jetzt wachte auch Stefan auf. Er rieb sich die Augen. „Martin, was ist denn los?“
Doch Martin antwortete nicht.
„Geh wieder nach oben“, hörte er seine Mutter rufen. „Du hast hier nichts verloren. Geh wieder nach oben!“ Dann stieß Tante Anni einen Schrei aus, der wie eine Mischung aus Schmerz und Wut klang.
Martin rannte zur Zimmertür und riss sie auf. Er sah gerade noch, wie seine Mutter jemanden aus der Wohnung schob.
In diesem kurzen Moment hätte er unmöglich sagen können, ob es Tante Anni war. Er sah nur die Hand dieser Person, die sich an den Rücken seiner Mutter klammerte. Der restliche Körper wurde von seiner Mutter verdeckt.
Die Hand hatte Falten, die viel tiefer als die von Tante Anni waren. Und sie war grau. Sämtliches Blut war daraus verschwunden. Ihre Finger schienen gewachsen zu sein und krümmten sich wie Klauen in den Rücken seiner Mutter.
Martin sah diese Hand nur einen Augenblick, dann wurde ihre Wohnungstür von außen zugestoßen. Er hörte, wie seine Mutter Tante Anni durch das Treppenhaus zurück in ihre Wohnung drängte. Seine Tante schrie, als sie versuchte, sich zu wehren.
Als die Tür oben zugeschlagen wurde, hörte Martin, wie seine Mutter sie abschloss. Tante Anni schrie noch immer, doch es klang jetzt gedämpft.
Als seine Mutter zurück in die Wohnung kam, hatte sie zwei tiefe Kratzer auf der linken Wange. Sie bluteten nicht, noch nicht.
Martin weinte jetzt. „Mama, was ist denn los mit Tante Anni? Warum hat sie so schlimm ausgesehen?“
„Ich habe dir gesagt, sie sieht nicht schön aus. Das ist ihre Krankheit, aber die geht wieder weg. Ich weiß schon, was ich tue. Ihre Tür ist jetzt abgeschlossen, sie kommt nicht mehr runter. Geht zurück in eure Betten.“
Auch Stefan war aufgestanden und stand jetzt hinter Martin. Er war kreidebleich.
„Aber du musst doch was tun. Sie muss doch zu einem Arzt. Es muss uns doch irgendjemand helfen.“
„Herrgott, ich weiß, was ich tue.“ Ihr Ton war scharf, doch sie war jetzt selbst den Tränen nahe.
Ich weiß, was ich tue. Das hatte sie auch damals immer wieder gesagt, als Stefan so ernsthaft krank gewesen war. Damals hatte sich Martin große Sorgen um seinen Bruder gemacht, doch das war kein Vergleich zu seinen jetzigen Gefühlen. Jetzt hatte ihn nacktes Grauen gepackt.
„Geht jetzt wieder in eure Betten und schlaft.“
Ihre Mutter schob Martin und Stefan zurück in ihr Zimmer und schloss ihre Tür.
Martin lag in dieser Nacht noch lange wach, und er hatte das Gefühl, Stefan und seiner Mutter ging es genauso.
Er sah immer wieder diese Hand.
Diese graue Hand.
Ein paar Tage später war Dr. Kranz wieder zu Besuch. Seine Mutter benötigte Nachschub, was die Medikamente anging.
„Was hast du denn mit deinem Gesicht gemacht?“, fragte er.
„Sie war das“, antwortete seine Mutter. „Sie wird jetzt immer aggressiver. Ich musste sie in ihrer Wohnung oben einsperren.“
Dieses Mal bestand Dr. Kranz darauf, einen Blick auf sie zu werfen.
„Wie du willst“, sagte seine Mutter. „Aber mach dich auf etwas gefasst. Sie gibt kein schönes Bild mehr ab.“
Nach wenigen Minuten kam Dr. Kranz wieder aus der Wohnung herunter. Martin konnte kurz sein Gesicht sehen, bevor er sich mit seiner Mutter in die Küche zurückzog. Er wirkte verstört und gehetzt. Als habe er eben etwas sehr Anstrengendes erlebt.
„Mein Gott, Lena, sie muss in ein Krankenhaus.“
„Kommt nicht in Frage. Ich kann immer noch am Besten für sie sorgen.“
„Das stimmt doch nicht. Ich meine, sieh sie dir an. So etwas habe ich noch nie gesehen. Ihr Gesicht -“
„Ich habe das unter Kontrolle“, sagte seine Mutter. Sie klang stur, und Martin wusste, sie würde niemals auch nur einen Millimeter nachgeben.
„Aber du hast sie fixiert.“ Dieses Wort kannte Martin nicht. „Das kannst du nicht tun. Das ist unmenschlich.“
Noch nie hatte Martin Dr. Kranz so reden hören. Normalerweise war er ein gefühlskalter Mensch. Jetzt klang er ehrlich aufgewühlt.
„Ich musste das tun. Ich hab dir doch gesagt, sie ist immer aggressiver geworden. Gestern hat sie tatsächlich versucht, mich zu beißen.“
„Lena, das geht nicht. Sie ist ernsthaft krank. Entweder du bringst sie in ein Krankenhaus, oder ich tue es.“
Jetzt wurde seine Mutter wütend. „Niemals kommt sie in ein Krankenhaus. Ich hab gesehen, was sie mit Peter gemacht haben. Ich lasse nicht zu, dass das nochmal geschieht. Sie bleibt hier, basta!“
„Das kannst du doch überhaupt nicht vergleichen. Peter war schließlich schwer verwundet.“
„Aber er hat noch gelebt“ schrie seine Mutter. Martin wollte sich die Ohren zuhalten, wollte nichts mehr von diesem Alptraum hören, doch er konnte nicht.
„Wenn du sie meldest“, fuhr seine Mutter mit ruhiger, aber bedrohlich klingender Stimme fort, „wenn du einen Arzt herschickst, oder die Polizei, oder sonst eine Behörde, dann werde ich deiner Frau von deinen Besuchen hier erzählen. Was meinst du wohl, was sie dazu sagen wird?“
Dr. Kranz schwieg eine lange Zeit. Dann sagte er: „Mach, was du willst. Ich will mit dieser Sache hier nichts zu tun haben. Du kannst die Medizin behalten, aber ruf mich nicht mehr an. Tu, was du für richtig hältst.“ Martin sah, wie er die Küche verließ. Seine Mutter folgte ihm nicht.
Er drehte sich ein letztes Mal um und meinte: „Aber eins sag ich dir, das wird ein böses Ende nehmen.“ Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, verzichtete dann jedoch darauf.
Ohne ein weiteres Wort verließ er die Wohnung.
Eine unheimliche Stille breitete sich aus. Martin hatte schon seit Tagen kein Lebenszeichen mehr von oben gehört. Weder einen Schritt noch eine Stimme.
Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er geschworen, Tante Anni sei entweder verschwunden oder gestorben.
Es war kurz vor Weihnachten, als es zu Ende ging.
Der Tag begann trüb, und nachmittags bedeckten dunkle, schwere Wolken den Himmel. Die Wohnung war dämmrig und kalt, obwohl der Ofen lief.
Martins Mutter hatte sich in ihr Bett gelegt. Sie schlief sehr viel in letzter Zeit. Mittlerweile wirkte sie selbst krank, war blass und abgemagert. Meist stand sie nur kurz auf, um zu Tante Anni nach oben zu gehen.
Vermutlich hätte dieser Zustand noch lange angehalten, wenn Martin an jenem Nachmittag nicht zufällig den Schlüssel zu Tante Annis Wohnung auf der Kommode gesehen hätte.
Stefan war in ihrem Zimmer und spielte mit seinen Autos. Immer wieder ließ er sie gegeneinander fahren. Das hatte er früher nicht getan. Auch er sprach nicht mehr viel. Martin spürte, wie ihre kleine Familie langsam auseinanderbrach.
Er nahm den Schlüssel in die Hand und betrachtete ihn. Er wusste, er sollte einen Arzt rufen. Er hatte Tante Annis Hand gesehen und Dr. Kranz' Worte gehört. Diese ganze Situation brachte seine eigene Familie an den Rand des Zusammenbruchs.
Es sei denn, er konnte das verhindern.
Aber erst musste er sicher gehen. Er wollte nicht irgendeinen Arzt oder gar die Polizei verständigen, ohne selbst einen Blick auf seine Großtante geworfen zu haben. Alles, was er jetzt tun musste, war nach oben zu gehen und kurz in ihre Wohnung zu schauen. Vermutlich lag sie ohnehin in ihrem Bett. Seit Tagen schon hatte er sie nicht mehr gehört.
Das Treppenhaus war dunkel, und die schwache Glühbirne im oberen Stockwerk schaffte es kaum, diese zurückzudrängen. Überall waren Schatten.
Martin ging langsam die Holztreppe nach oben. Ihm war kalt, sein Oberkörper zitterte. Bebte beinahe. Sein Mund war trocken, und am Liebsten wäre er wieder zurück in die eigene Wohnung gelaufen.
Doch er erinnerte sich an die Schreie seiner Mutter. Er sah das Gesicht seines Vaters – sein verbundenes Gesicht im Krankenhaus, als er ihn zum letzten Mal gesehen hatte – und rief sich die Verantwortung zurück ins Gedächtnis, die er selbst für die Familie tragen wollte. Er durfte jetzt nicht kneifen, durfte kein Feigling sein.
Vielleicht waren es die Kälte und die Dunkelheit, die zu einem Gefühl der Fremdheit führten. Er hatte sein ganzes Leben in diesem Haus verbracht, doch nun kam ihm alles unbekannt vor.
Er stand jetzt vor Tante Annis Wohnung.
Ich bin in einem fremden Haus, stehe vor einer fremden Tür, und hinter ihr wohnt eine fremde Frau, dachte er unzusammenhängend. Er erinnerte sich an die schemenhafte Gestalt, die er hinter dem Vorhang gesehen hatte. Nichts an ihr erinnerte ihn an Tante Anni.
Er hörte sein lautes Atmen nicht, nahm seinen rasenden Herzschlag nicht wahr, als er den Schlüssel in das Schloss steckte und langsam umdrehte.
Was, wenn auf einmal eine fremde Frau vor mir steht?, fragte er sich. Eine entstellte Frau, mit grauem Gesicht?
Er zögerte. Überlegte. Zitterte.
Und öffnete die Tür zu Tante Annis Wohnung. Abgestandene Luft kam ihm entgegen, doch die Wohnung selbst war dunkel und still. Martin verzog das Gesicht, blieb zunächst auf der Schwelle stehen.
„Hallo?“, rief er in die Wohnung hinein, doch es kam keine Antwort.
Vielleicht war sie wirklich gestorben. Vielleicht war sie schon seit Tagen tot, und ihre Mutter ging dreimal am Tag zu einer Leiche nach oben.
Eisige Schauer jagten über seinen Körper.
Er betrat die Wohnung. Hier hatte er sich immer wohl gefühlt, hatte hier gemeinsam mit seiner Großtante gelacht und gespielt. Hier hatten sie zu Weihnachten gemeinsam Plätzchen gebacken und zu ihren Geburtstagen Kuchen gemacht.
Doch jetzt waren diese schönen Erinnerungen verblasst. Diese Wohnung war jetzt ein kalter, ein trostloser Ort geworden. Verlassen und einsam.
Langsam ging er durch den Flur.
„Tante Anni?“
Niemand meldete sich. Sein Herz pochte jetzt laut, doch er ignorierte es. Er hatte es soweit geschafft, jetzt würde er keinen Rückzieher mehr machen.
Er hatte vorgehabt, in ihr Schlafzimmer zu gehen. Bestimmt lag sie in ihrem Bett.
Doch dann sah er, dass alle Türen verschlossen waren. Bis auf die der Küche, die einen Spalt angelehnt war.
Wie in Trance ging er auf diese Tür zu.
„Tante Anni?“, sagte er jetzt leiser.
Er gab der angelehnten Tür einen Schubs, und sie schwang auf. Er wusste, dass sie in der Küche war, noch bevor er sie sah.
Sie saß auf einem Stuhl an der hinteren Wand, das Gesicht in Richtung Fenster gedreht. Ihre weißen Haare, die sie normalerweise zu einem Zopf geflochten trug, waren jetzt offen. Martin konnte ihr Gesicht nicht sehen.
Ihr Körper war abgemagert, und Martin hatte das Gefühl, sie sei geschrumpft. Sie hätte wie eine friedliche alte Frau ausgesehen, wäre da nicht ihre Haut gewesen. Ihre Hand lag auf einer Lehne des Stuhls, und Martin sah erneut, dass sie grau und ausgetrocknet war. Lange Fingernägel verliehen ihr das Aussehen einer Klaue.
Dann sah er die Gürtel. Sie waren um die Arm- und Rückenlehne des Stuhls und Tante Annis Körper gewickelt, so dass sie am Stuhl festgegurrt war.
Du hast sie fixiert, hörte er Dr. Kranz sagen.
Er atmete laut hörbar Luft ein.
Das kannst du nicht machen. Das ist unmenschlich.
Warum hatte seine Mutter das getan? Warum hatte sie Tante Anni am Stuhl festgebunden?
Er war überzeugt, Tante Anni war tot. Ihr Körper wirkte eingefallen, ihre Haut – zumindest auf ihrer Hand und ihrem Hals – war aschgrau, und sie bewegte sich nicht mehr. Er hörte sie nicht mal mehr atmen. Er würde jetzt zurück in ihre Wohnung gehen, das Telefon nehmen und die Polizei verständigen. Er würde -
In diesem Moment röchelte Tante Anni. Es klang alt und feucht, wie das letzte Röcheln eines Ertrinkenden. Martin taumelte zurück.
Seine Tante versuchte etwas zu sagen, doch noch immer sah sie zum Fenster.
„Tante Anni?“, fragte Martin ein letztes Mal. Seine Stimme zitterte.
Dann drehte sie langsam ihr Gesicht zu Martin, und je mehr er von ihrem Gesicht sah, umso größer wurde der Drang zu schreien. Martin spürte förmlich, wie dieser Drang in ihm aufstieg. Nacktes Entsetzen packte ihn.
Ihr Gesicht war übersät mit schwarzen Flecken. Sie waren überall, einige davon nur so groß wie eine Münze, andere nahmen komplette Gesichts- und Halspartien ein und reichten bis unter ihr Nachthemd. In der Mitte waren diese Flecken pechschwarz, doch zum Rand hin wurden sie heller und verloren sich in kleineren Punkten.
Schimmel, dachte Martin. Großer Gott, sie verschimmelt bei lebendigem Leib.
Er hatte noch nie etwas so Schreckliches gesehen.
Doch am Schlimmsten waren ihre Augen. Sie waren gelb und trüb.
Sie röchelte erneut.
Auch wenn sie mit diesen Augen nie im Leben noch etwas sehen konnte, schien sie Martin direkt anzustarren.
„Hallo, Martin“, sagte sie mit der Stimme einer Toten. „Schön, dass du mich besuchst.“
Martins Verstand setzte aus. Er konnte sich nicht erinnern, was anschließend geschah.
Er kam einige Zeit später zurück in die eigene Wohnung.
Er konnte sich nicht erinnern, was geschehen oder wie viel Zeit verstrichen war. Er fühlte sich, als sei er eben aus einem Traum erwacht. Was war Wirklichkeit gewesen und was hatte er sich nur eingebildet?
Als er in die Wohnung zurück kam, sah er, wie seine Mutter auf Stefan einredete.
„Wo ist Martin?“, fragte sie. Sie klang besorgt. Stefan weinte. „Sag mir, wo er hingegangen ist.“
In diesem Moment sah sie ihren ältesten Sohn.
„Martin, wo warst du?“
Sie blickte an ihm hinunter, und erst jetzt sah Martin, dass er immer noch den Schlüssel zu Tante Annis Wohnung in der Hand hielt. Die Gesichtszüge seiner Mutter brachen auseinander wie eine dünne Eisdecke. Sie riss ihre Augen auf.
„Großer Gott, warst du oben bei ihr?“
Martin sah sie an, doch er konnte nicht antworten. War er oben gewesen? Oder war das ein Alptraum gewesen?
„Sag mir, dass du nicht in ihrer Wohnung warst.“ Seine Mutter war kreidebleich.
Martin schwieg, doch das schien Antwort genug zu sein.
„Sind ihre Schnallen noch zu?“, fragte sie dann, und Martin packte ein entsetzliches Déjà-vu. Er hatte diesen Satz schon einmal gehört, doch er konnte sich nicht erinnern, wo das war.
Seine Mutter entriss ihm den Schlüssel und rannte nach oben.
Martin blieb zurück, immer noch sprachlos. Stefan hatte aufgehört zu weinen. Mit tränenüberströmtem Gesicht blickte er zu seinen Bruder auf.
„Warst du oben?“, flüsterte er, seine Mutter mit mechanischer Stimme imitierend.
Martin sagte nichts. Er hörte, wie ihre Mutter oben die Tür öffnete. Sie ließ sie hinter sich offen und stürmte in Tante Annis Wohnung.
Gelbe Augen, erinnerte er sich. Da waren gelbe Augen. Und eine Stimme.
Oben hörte er einen überraschenden Schrei seiner Mutter.
„Warst du in ihrer Wohnung?“, flüsterte Stefan wieder.
Da war diese Stimme, und sie klang so vertraut. Obwohl sie so fremd war, war sie so vertraut.
Er hörte die Schritte seiner Mutter, wie sie oben durch die Wohnung rannte. Sie suchte Tante Anni. Sie war nicht mehr in der Küche, weil -
Da war dieses Lächeln. Dieses warme Lächeln. Obwohl es so kalt und leblos war, war es so warm.
„Sind ihre Schnallen noch zu?“ Stefan schluchzte jetzt wieder leise und wiederholte den Satz seiner Mutter. Wusste er, was er da fragte?
Es war seine Tante. Die nächste Bezugsperson nach seiner Mutter. Obwohl sie so grauenhaft aussah, war es immer noch seine Tante. Und sie hatte ihn gebeten -
Er hörte erneut einen Schrei seiner Mutter, dieses Mal jedoch länger. Intensiver. Jetzt schrie sie nicht mehr aus Überraschung, sondern vor Schmerz. Sie hatte Tante Anni gefunden. Oder besser gesagt, Tante Anni hatte sie gefunden.
Sie hatte ihn gebeten, sie loszumachen. Bitte Martin, hatte sie gesagt. Ich habe Schmerzen, hatte sie gesagt. Bitte Martin, hatte sie gesagt. Ich bin müde, hatte sie gesagt. Ich möchte hier raus, hatte sie gesagt. Bitte Martin, hatte sie gesagt. Öffne die Schnallen, hatte sie gesagt.
Und Martin hatte die Schnallen geöffnet.
Er hörte ein lautes Poltern in der oberen Wohnung. Glas ging zu Bruch. Wieder schrie seine Mutter, doch es klang jetzt schwächer.
Auch Stefan schrie jetzt und zitterte am ganzen Körper.
Danke, hatte sie gesagt und ihm über den Kopf gestreichelt. Wie früher. Wie früher. Sie hatte ihm über den Kopf gestreichelt wie früher, weil er –
„Warst du oben in ihrer Wohnung?“, schrie Stefan wieder, doch er konnte kaum mehr seine Stimme kontrollieren.
Weil er –
„Sag mir, ob du oben warst!“
Weil er sie befreit hatte.
„Sag mir, ob die Schnallen noch zu sind!“
Weil er die Schnallen geöffnet hatte.
Die Schreie seiner Mutter und das Poltern waren verstummt. Jetzt waren da nur noch diese schlurfenden Schritte, die sich der Treppe näherten.
Martin trat zu Stefan und drehte sich um. Blickte auf ihre eigene Wohnungstür, die leicht angelehnt war. Die Dämmerung hatte eingesetzt und die Wohnung in ein trübes Winterlicht getaucht. Bald würde heftiger Schneefall einsetzen.
Die schlurfenden Schritte kamen jetzt langsam die Treppe herunter.
Stefan weinte und schrie. Schrie und weinte.
War es ihre Mutter, die sich schwer verletzt die Treppe herunter schleppte? Oder war sie es? War es Tante Anni? Weil Martin sie befreit hatte?
„Sind die Schnallen noch zu? Sind die Schnallen noch zu?“ In seiner Panik und seinem Schock schrie Stefan immer wieder diesen einen Satz. Er versuchte, Martin zu schütteln, doch dieser regte sich nicht.
Statt dessen blickte er zur Tür. Die schlurfenden Schritte waren jetzt direkt davor. Warteten.
Hatte sie die langen Nägel ihrer Klauen in den Hals ihrer Mutter gebohrt? Hatte ihre Mutter sie überwältigen können?
Oder nicht? Oder nicht?
Er hörte vor der Tür ein schwaches Röcheln.
Die Tür schwang auf.
Draußen begann es wieder zu schneien.