Tangoland
Ich war die ganze Nacht wach. In ihrem Herzen welche Wonne, in ihren Augen welcher Schmerz. Die ganze Nacht saß ich an ihrem Bett und hielt ihre Hand. Mit bangem Herzen sprachen wir über die letzten Stunden. Ihre Worte waren langsam und schwer. Es fiel ihr schwer zu sprechen. Doch das musste sie auch nicht. Ich konnte in ihren Augen sehen, was sie zu sagen hatte. In diesen wunderschönen Augen, in denen ich einst das Land der Träume gesehen hatte. In diesen versprochenen Augen lebten die Fantasien von einem herrlichen Land, in dem die Sonne hinter dem Meer untergeht. Und nie aufhört unterzugehen. In einem Land, in dem die Hitze nichts ausmacht und die Haut nicht verbrennt. Wo die Menschen Nachts raus gehen um zu singen und zu tanzen. Manche sitzen alleine ein einer Bar und rauchen Zigaretten und unterhalten sich mit dem Himmel, der uns alle verbindet, über die ersten und letzen Fragen unseres Daseins. Dabei drehen sie sich im Kreis und finden keine Antworten. Aber das ist egal! In diesen Stunden, in denen der Tabak den Geist schwerer und die Gedanken leichter macht ist keiner allein und die Traurigen sind nicht mehr verzweifelt. In diesem Land lebt die Sehnsucht und dieses Land lebte in ihren Augen. Auch in dieser Nacht würde es dort leben. Aber in dieser Nacht würden die Menschen Tango tanzen. Unendlich langsam und unendlich schwermütig. Nicht aber träge, sondern belebt von der Seele derer, die nicht wissen was morgen geschieht sondern wissen was gestern war. Die rauchenden Männer würden in dieser Nacht in die Luft starren und verstehen, dass sie die Antworten, die in ihnen zu wachsen begonnen hatten nie finden werden. Schlimm ist das nicht aber es ist wahr. Sie sprach. Ihre Lippen bewegten sich dabei nicht und ihre Lunge war leer. In diesem unendlich kurzen Moment zwischen Vergangenheit und Zukunft sah ich ein letztes mal in dieses Land. Ich sah sie alle. Ich sah alle Träume und Fantasien, ich sah die Zukunft, die aus der Vergangenheit erwachsen war, die Zukunft, die von der Gegenwart noch nichts wusste. Eigentlich war ihre Hand schon längst weg und ich war alleine. Aber das spielt keine Rolle. Mein Geist entzerrte sich und sah in dieses Land. Mein Geist kannte den langsamen Tango noch nicht. Stattdessen kannte er das Leben und die Lust. Er kämpfte darum und die Helden, die schon längst im Sterben langen gaben dafür ihre Hoffnung auf. Dies waren die schönsten Stunden dieser Nacht. Ihre Hand war warm in dieser Zeit und ihr Herz schlug schnell und bewegte das Blut durch ihren Körper. Selbst die Zigarettenmänner wippten mit ihren Köpfen zur Musik und vergaßen eine Weile, über was sie mit dem Himmel sprachen. Jetzt sprach sie wirklich und ihre Worte zerrissen mein Herz. Es waren nicht die Worte an sich sondern die Art wie sie sprach. Sie quetschte die Worte aus ihrem Mund. Es raubte ihr alle Kraft, die Wahrheit, derer sie sich nicht sicher war zu sagen. Aber sie musste. Und ich musste auch. Ich musste es hören. Ich hörte es nicht mit meinen Ohren sondern ich hörte es mit meiner Seele. In ihren Augen wurde es Nacht. Obwohl die Sonne dort nie untergeht, wurde es Nacht. Eine Nacht voller Sterne. In den Engen Gassen der Stadt bellten die Hunde und die Menschen schliefen schlecht. Die Zigarettenmänner gingen früher nach Hause als sonst und betäubten ihr Verlangen nach Klarheit durch den Schlaf, der sie zudeckte und beschützen konnte. Die Tänzerinnen tanzten zu Ende und verneigten sich vor den Leuten. Das Ensemble ließ noch eine letzten Zugabe hören und verneigte sich auch. Der Himmel hatte das Gespräch mit den Männern beendet. Aber vorbei war es nicht. Alle wussten, dass morgen ein neuer Tag beginnen würde, an dem die Sonne aufgehen, und dann nie untergehen, an dem die Leuten tanzen und die Vögel singen würden. Es war mein letzter Besuch in diesem Land. Ich wurde aus ihm gerissen wie ein Kind, dass aus einem Traum erwacht. Ihre Hand war jetzt kalt. Ihre Worte wurden zu Luft, die sich bewegte. Und plötzlich merkte ich, dass sie eigentlich nie da war und die Nacht, die ich bei ihr war um ihr zu helfen die schlimme Wahrheit zu finden schon längst vorbei war. Meine Zeit war vorbei. Ich hatte ihre Aufgabe erfüllt. Meine Aufgabe allerdings war noch am Anfang. Aber das fiel mir jetzt erst auf. Ich konnte ihr nicht mehr helfen. Die Gegenwart war in die Vergangenheit gerückt und die Zukunft wusste jetzt von ihr. Als ich aufwachte war ich verzweifelt. Aber nicht lange. Ich wusste jetzt das es dieses Land gibt für mich. Dorthin werde ich es schaffen. Es gibt die Sehnsucht aber es gibt auch die Liebe und im Traum der Liebe ist alles gleichgültig. Und diese Liebe gibt es. Nicht in dieser Nacht und nicht in dieser Zeit. Es wird vielleicht ein wahrhaftiges Ende brauchen, um in dieses Land zu gelangen. Aber dafür gibt es Zeit. Vielleicht gibt es Zeit. Und wir alle werden sterben. Aber das ist nicht mehr schlimm. Denn sie war da und ich war wach.