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Tangenten
Der vietnamesische Busfahrer grinste über den jungen Weißen, dessen Schweiß in dicken Perlen vom Kinn auf den Asphalt tropfte. Im klimatisierten Gästehaus war es Daniel als gute Idee erschienen, die 20.000 Dong für ein Taxi zu sparen und mit seinem Rucksack – immerhin fünfzehn Kilogramm – zu Fuß zur Busstation zu gehen. Jetzt, fünfundzwanzig Minuten später, klebte ihm sein schwarzes T-Shirt am Körper.
Das Innere des Minibusses empfing ihn wie eine nach Kunstleder riechende Eisgrotte. Daniel war der erste Fahrgast und ließ sich erleichtert in einen Sitz in der hintersten Reihe am Fenster fallen. Seine Augen brannten vom grellen Licht draußen und für einen Moment schloss er sie. Er hatte einmal gelesen, dass Träume dazu dienten, die Eindrücke des Tages zu verarbeiten. Offenbar waren die Erlebnisse seiner Reise zu zahlreich, als dass sein Gehirn die Aufgabe in der Nacht allein erfüllen konnte. Kaum hatte er die Augen geschlossen, sah er auf seinen Lidern die phantastisch übersteigerte Vision eines asiatischen Marktes: Massen von Menschen schoben sich, tanzten, flanierten, drängelten durch- und übereinander; in riesigen Pfannen wurden Shrimps und Nudeln, Frösche und Ingwer gebraten. Eine zahnlose Alte bot Kokosnüsse mit Plastikstrohhalmen feil. Ein Motorroller knatterte durch die Menge. Darüber schwebten leuchtende Lampions wie Quallen durch die Tiefe des Ozeans.
Dass seine Träume nun ihren Weg in die wache Welt fanden, kam Daniel passend vor, immerhin befand er sich in einem Zwischenreich: Im März hatte er sein Mathematikstudium abgeschlossen. Im Juni würde – in den Worten seines Onkels – das „richtige Leben“ beginnen und Daniel seine Stelle bei einem mittelständischen Maschinenbauer antreten. Daniel konnte sich noch genau erinnern, wie sein Onkel – ein vierschrötiger Mann, dem eine Spedition gehörte – ihm die Hand geschüttelt, ihn umarmt und diese Worte benutzt hatte: dass dann das „richtige Leben“ beginnen würde.
Daniel fragte sich, ob der Onkel recht hatte. Auch fragte er sich, was genau das war: das „richtige Leben“? Es war nicht das erste Mal, dass er sich diese Frage stellte. Er war fest davon überzeugt, dass es so eine Sache geben musste. Oft, wenn er in seinem kleinen Studentenzimmer zwischen Laptop und Bücherstapeln saß, schaute er plötzlich auf, als riefe ihn eine Stimme. Sein Blick ging dann zum Fenster hinaus, über die Bäume des Parks und die Dächer der Häuser hinweg. Ihn überkam ein Gefühl wie Sommerregen auf der Haut, wie Feuerschein in der Ferne, wie ein Gewitter in der Brust. Er wusste, was ihn da rief: das richtige Leben. Aber wo war es? Und wie fand man es?
Daniel hätte nichts dagegen gehabt, der einzige Fahrgast zu bleiben und für die vier Stunden der Fahrt von Chau Doc nach Can Tho zu dösen. Fünf Minuten vor Abfahrt betrat jedoch eine Gruppe von jungen Reisenden – etwa in Daniels Alter – den Busbahnhof. Der Fahrer prüfte auch ihre Tickets und verstaute die Rucksäcke. Daniel hoffte, dass zumindest der Platz neben ihm frei bleiben würde. Der Minibus war jedoch ausgebucht, weshalb sich eine junge Frau in den Nachbarsitz klemmte. Der Raum pro Person war nicht gerade großzügig – aber Daniel kam immerhin um eine Begrüßung und Smalltalk herum, indem er seine Kopfhörer einsetzte, die Hörbuchversion der Brüder Karamasov einschaltete und den Blick zum Fenster hinauslenkte. Kurz darauf fuhr der Bus los.
Daniel setzte seine Überlegungen fort. War vielleicht gerade das hier das richtige Leben? Diese zweimonatige Asienreise? Immerhin hatte er in den vier Wochen bisher mehr erkundet, mehr getanzt, mehr neue Dinge gegessen, mehr erlebt, als in den fünf ruhigen Jahren konzentrierten Studierens. Andererseits: War all das nicht eine Ausnahme, eine Auszeit? Ein letzter Aufschub, bevor es wirklich losgehen würde? Wenn er sich jetzt die Fotos auf seinem Mobiltelefon ansah, den Königspalast von Bangkok, den Urwald von Khao Yai, die Tempel von Angkor Wat, dann kam ihm all das bereits seltsam unwirklich vor. Er selbst tauchte in diesen Fotos auf, er hatte auch die Bilder im Kopf – aber schon schien ihm das wie ein exotischer Film, den er einmal gesehen hatte.
Daniel schaltete das Hörbuch aus, ohne die Kopfhörer aus den Ohren zu nehmen. Der Bus verließ die Provinzstadt und fuhr nun an Reisfeldern vorbei, hinter denen sich sanfte, grüne Hügel erhoben. Mit der Gruppe um ihn war eine Veränderung vor sich gegangen: Hatten sie beim Einsteigen noch gescherzt und gelacht, schienen nun alle in sich gekehrt. Nur das Pärchen, das direkt hinter dem Fahrer saß, tuschelte noch miteinander. (Daniel glaubte, dass sie Deutsch sprachen.) Andere hatten gleichfalls Kopfhörer eingesetzt, lasen ein Buch oder blickten einfach hinaus in die ruhige, nachmittägliche Landschaft, die vor dem Fenster vorüberzog. Ein vorsichtiger Blick zur Seite zeigte, dass das Mädchen neben ihm den Kopf zurückgelehnt und die Augen geschlossen hatte.
Für einen Moment kam ihm das Gesicht mit der feinen Nase und den hohen Wangenknochen bekannt vor. Dann aber sagte er sich, dass das vermutlich schlicht daher kam, dass er in den letzten Wochen – in Hostels, in Tempeln, auf Plätzen und in Restaurants – so viele andere Touristen gesehen hatte. Er drehte sich wieder zum Fenster und schaltete das Hörbuch ein – konnte der Erzählung jedoch nicht folgen.
Verstohlen drehte er den Kopf wieder in die andere Richtung. Diese hohen Wangenknochen, der von Natur aus dunkle Teint, die geschwungenen Brauen – war da nicht was? Eine Erinnerung? Daniel dachte angestrengt nach. Er war sich beinahe sicher, dass dort etwas verborgen war – aber der Kompass seiner Erinnerung zeigte in verschiedene Richtungen gleichzeitig. Ein Mädchen aus der Parallelklasse während der Grundschulzeit? Hatte er sie einmal auf einer Party gesehen? Oder während eines Fußballspiels, das er vor Jahren mit seinem Vater besucht hatte? Nichts davon schien zu stimmen und Daniel schüttelte den Gedanken endgültig ab. Er zwang seinen Blick wieder zum Fenster hinaus.
Plötzlich spürte er ein warmes Gewicht an seiner Schulter. Sie war eingeschlafen. Ihr Kopf war von der Kopfstütze zur Seite gerutscht und an seiner Schulter zur Ruhe gekommen. Daniel schoss das Blut ins Gesicht. Was würden ihre Freunde denken, wenn …? Aber ein kurzer Blick verriet, dass eines der beiden anderen Mädchen in der letzten Reihe schlief, während ihre Nachbarin müde durch ihre Facebook-Timeline scrollte.
Sollte er sie aufwecken? Aber war das nicht unhöflich? Und was genau würde er sagen? Die Situation wäre für sie beide schrecklich peinlich – und die nächsten drei Stunden würden sie nebeneinander in unangenehmem Schweigen verbringen müssen. Vielleicht konnte er sie vorsichtig bei den Schultern fassen und wieder gerade hinsetzen? Aber was, wenn sie davon aufwachte? Was, wenn ihre Freunde sähen, dass er sie anfasste?
Der Bus fuhr unsanft durch ein Schlagloch und das Mädchen rutschte noch weiter in seine Richtung. Ihr Kopf ruhte jetzt an seiner Schulter wie auf einem Kissen und gegen die ganze Länge seines Armes fühlte er ihre warme Haut. Jetzt war es fast unmöglich geworden, sich zu bewegen, ohne sie aufzuwecken.
Weil er nicht wagte, sich zu bewegen, drehte er die Augen so weit wie möglich nach links. Ihr Kopf war so nah, dass er jedes ihrer schwarzen Haare einzeln sah. Von ihrem Scheitel ging ein Geruch aus, der das Gefühl der Vertrautheit verdoppelte. Er schien eine Erinnerung zu beschwören, an … Daniel wusste es nicht. Jeden Moment glaubte er, dass der Nebel sich auflösen und den Blick auf eine ganz bestimmte Erinnerung freigeben müsste – und doch passierte es nicht.
Irgendetwas löste dieses fremde Mädchen in ihm aus. Wie sie hieß? Miriam, dachte er. Er wusste nicht, woher der Name plötzlich kam. Er war einfach erschienen und nun war er sich fast unumstößlich sicher, dass sie Miriam hieß.
Noch ehe er wusste, was er tat, hatte Daniel seine Hand gegen die von Miriam gelegt: Die linke Außenseite seiner linken berührte über die ganze Fläche die rechte Außenseite ihrer rechten Hand. Sein linker kleiner Finger berührte ihren rechten kleinen. Einerseits kam ihm die kleine Bewegung peinlich und falsch vor – aber diese Empfindung rückte mit jeder Sekunde weiter in den Hintergrund, während sich seine Wahrnehmung immer weiter auf diese wenigen Zentimeter Haut verengte. Plötzlich war da dieses Gefühl: Ein Gefühl wie Regen im Sommer, wie Flammenschein in der Ferne. Ein Unwetter in seinem Innern.
Mit einem Mal war es ganz klar, was er tun musste: Ein paar Minuten noch die süße Nähe auskosten. Dann würde er sie sanft aufwecken und sagen: „Entschuldige, dass ich dich wecke. Ich bin mir sicher, dass wir uns noch nie im Leben getroffen haben, aber du kommst mir unendlich bekannt vor.“
Miriam erwachte aus einem tiefen Schlaf und brauchte einige Sekunden, um zu erkennen, wo sie sich befand. „Ist es noch weit?“, fragte sie Christiane zu ihrer Linken.
„Wir sind gerade aus Can Tho raus. Jetzt sind es noch mal drei Stunden bis Vinh Long.“
Miriam hörte die Worte wie durch dichten Nebel. Halb hielt sie der Schlaf noch im Griff. Nur am Rande bemerkte sie, dass der Sitz zu ihrer Rechten nun leer war. Der junge Mann, der dort gesessen hatte, war vermutlich in Can Tho ausgestiegen.
Ein seltsames Gefühl saß direkt unter Miriams Schlüsselbein. Ein süßes, etwas schmerzhaftes Gefühl, wie eine langsam verklingende Melodie. Miriam war sich sicher, dass sie etwas geträumt hatte, irgendetwas Großes, Bedeutsames. Aber als sie die Augen wieder schloss und in den Schlaf zurückglitt, war der Traum nicht mehr da.