- Anmerkungen zum Text
Hallo zusammen, das ist ein Kapitel aus meinem Roman, den ich im Lockdown geschrieben habe. Würde mich über ehrliches Feedback freuen.
Beste Grüße
Talent
- Talent
Aber seine Talente für eine kriminelle Profession waren früh offensichtlich: Schon als Kind waren Lego- und Fischertechnik seine Lieblingsspielzeuge. Basteln, Schrauben, Werkzeug – das alles hatte eine unbändige Faszination auf ihn. Zwar war er nicht unbedingt ein Feinmotoriker, aber wie man etwas irreparabel kaputt machen konnte lernte er schnell. Man musste den Zahlencode des Fahrradschlosses nicht auswendig können, wenn man mal wieder den Schlüssel verloren hatte. Ein Bolzenschneider tat es auch. Das hatte er schon im Kindergarten begriffen. Dort zeigte sich auch, dass niemand so erfolgreich beim Versteckspielen war wie er. Verängstigte Erzieher hatten sogar mal die Polizei alarmiert weil der kleine Hosenscheißer über mehrere Stunden unauffindbar war. Regungslos hatte er in einem Baum gesessen, während unter ihm die nackte Panik ausbrach. Erzieher, Eltern und Kinder wuselten herum, schauten immer wieder in denselben Ecken nach und riefen ständig seinen Namen. Die eingetroffenen Beamten waren gerade dabei gewesen die Vermisstenanzeige aufzunehmen, als der kleine André in die Szenerie platze, an allen Beteiligten seelenruhig vorbei spazierte und nach stundenlangem Aushalten endlich den wohlverdienten Toilettengang antrat.
Das Wichtigste aber war und ist bis heute: André hatte nie Probleme damit Risiken einzugehen. Wenn beim Straßenfußball das Leder mal in den laufenden Verkehr rollte war er der Erste der hinterherlief. Lautes Hupen, aggressives Schreien, oder drohende Kollisionen mit tonnenschweren Blechkisten mit Todesfolge schüchterten ihn nicht ein. Es war nicht ganz klar, ob er sich den Konsequenzen nicht ganz bewusst war, oder sie einfach nur ausblendete, wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. Wie auch immer, diese Risikobereitschaft machte André zu einem ziemlich abgewichsten Typen. Alles in allem hatte er das Zeug dazu ein ziemlich guter Einbrecher zu werden.
Zuerst hebelte er Kellertüren auf, klaute Fahrräder, gutes Werkzeug und manchmal auch nur angesammelte Pfandflaschen. Keine hohe Gewinnmarge, aber gutes Training.
Danach wechselte er kurzzeitig zu Privatwohnungen. Die Erste mit der er sich begnügte war auch direkt die seines damaligen Dealers – der Scheiß sollte sich ja auch lohnen.
André hatte den Spätaussiedler über Tage hinweg verfolgt. Nach einer Weile war er sich sicher, dass der Idiot seinen Stoff zuhause bunkerte. Außer die offene Szene und den örtlichen Supermarkt gab es jedenfalls keine Orte, die der Ticker häufiger frequentierte. Also abwarten und wenn er das nächste Mal sein Nest verlässt, direkt rein und die Bude auf links gedreht. So war jedenfalls der Plan.
Der dürre, kahlköpfige Deutschrusse wohnte in einem achtzehnstöckigen Plattenbau – mittlerweile Grau, nachdem die grüne Farbe über Jahrzehnte immer weiter abgebröckelt war. Einer dieser Vogelkäfige, die in den 70ern als modern galten. Wände aus Pappe, keine Privatsphäre, aber das war für Andrés Vorhaben egal. Hier scherte man sich nicht um seine Mitmenschen: Der Schwerstalki aus dem sechsten hatte vor zwei Wochen seine pflegebedürftige Mutter totgeschlagen. Das Ganze hatte etwa 15 Minuten gedauert. 15 Minuten in denen wirklich keinem Nachbarn die entsetzlichen Schreie entgangen seien konnten. Eingegriffen hatte aber natürlich niemand. Nicht mal die 110 wurde gewählt. Nichts. Man war zwar neugierig, aber wirklich überrascht war keiner der Anwohner, als ein großes Polizeiaufgebot, den sich mit Händen und Füssen wehrenden zerzausten 40jährigen Sohn, vier Tage später, abführte.
Gerufen waren die Beamten durch eine schockierte Mitarbeiterin des Sozialdienstes, die ihre wöchentliche Stippvisite bei der doch recht problematischen Kleinfamilie abhielt. Als der Sohn die Tür öffnete wurde er, neben einem Schwall von lautstark brummenden Fliegen, von einem penetrantem, süßlichen Geruch begleitet, den die junge Frau noch nie vorher wahrgenommen hatte, aber auch nie wieder vergessen würde. Instinktiv wusste sie, dass etwas Schreckliches passiert war. Als dann der adipöse Kindmann in fleckiger Jogginghose und verschmiertem Unterhemd ihr felsenfest versichern wollte, dass doch alles in Ordnung sei, und er nur mal den Müll rausbringen musste, war für die junge Idealisten klar, dass genau jetzt der Zeitpunkt gekommen war die Ordnungsmacht zu alarmieren.
André machte sich also keine Sorgen, dass ihn irgendjemand bei seiner Arbeit stören würde und schlich durchs Treppenhaus in den neunten Stock.
Im Schleichen war André mehr als gut trainiert. Mit vier Jahren hatte er sich unbemerkt jeden Samstagmorgen ins Wohnzimmer geschlichen um das Zeichentrickprogramm anzusehen. Aus irgendeinem Grund war Fernsehen in seiner bürgerlichen Mittelstandsfamilie verpönt und sowieso morgens strengstens verboten. Daher musste er die Regeln brechen, wenn er Spidermans Abenteuer mitverfolgen wollte. Neben einer generellen Bereitschaft sich über Anordnungen hinwegzusetzen, zeigten sich aber auch schon in diesem Alter gewisse kognitive Mängel, die André sein Leben lang begleiten würden. So verstand er nicht, dass nicht nur er selbst möglichst leise sein musste, sondern auch der Ton des Fernsehers auf ein Minimum runtergedreht werden sollte. Dementsprechend wurde seiner Mutter (Louise) jeden Morgen ein etwas skurriles Bild präsentiert, von einem 4jährigen, der sich mit beiden Händen den Mund zuhielt, um ja keinen Mucks von sich zu geben, während Spidey, in hoher Lautstärke, seine komödiantischen Einlagen vollführte.
André wurde ausgeschimpft und in sein Zimmer geschickt. Dorthin verbannt begann er meist zu spielen, was sich sehr schnell zu einem Toben steigern konnte und dabei wesentlich den potentiellen Geräuschpegel des Fernsehers überstieg. Das führte zu noch mehr Frustration seitens Andrés Eltern, denn an Schlafen war jetzt nicht mehr zu denken. Hier zeigte sich dann, dass Andrés mentale Defizite vielleicht nicht von ungefähr kamen. Seine Eltern schienen einfach den Sinn hinter dem morgendlichen Kinderprogramm nicht nachvollziehen zu können; nämlich dass die Kleinen beschäftigt sind und ihre Erzeuger ausschlafen lassen. Man hätte André einfach nur sehr langsam erklären müssen, dass er morgens die Lautstärke des Fernsehers auf Leise stellen muss und das Problem wäre gelöst. Aber hierbei ging es ums Prinzip: Fernsehen macht dumm, es gibt kein Problem, dass nicht durch Schimpfen gelöst werden kann und mir doch egal; dann wird halt eben samstags nicht ausgeschlafen!
Aber zurück zu der verschlossenen Tür des Dealers und Andrés geistiger Schwäche. Zwar hatte André den Narcotist aus der ehemaligen Sowjet Union tagelang beschattet und sogar akribisch seinen Müll durchsucht, war aber nicht auf die Idee gekommen, dass der selbst süchtige und völlig ausgezehrte Straßenapotheker niemals 600 Gramm Hähnchenbrust pro Tag essen und trotzdem noch so aussehen konnte als wäre er gerade aus Ausschwitz befreit worden.
Der Pitbull, der auf der anderen Seite der Tür die Zähne fletschte, hieß Zeus und hatte bisher ein eher bescheidendes Leben gehabt. Geboren im polnischen Dębno in Westpommern, wurde der damalige Welpe früh von seiner Mutter getrennt.
Verschleppt nach Deutschland, um dort einen kleinen Zuhälter bei Hundekämpfen reich zu machen, wurde Zeus auf Stärke und Aggression getrimmt. Sein neuer Besitzer kettete ihn auf ein Laufband, fesselte zur Motivation ein lebendes Kaninchen ans andere Ende und ließ Zeus stundenlang, auf höchster Stufe hetzend, seinem Jagdinstinkt folgen. Dummerweise hatte der recht unsportliche Zuhälter noch nie was von Übertraining gehört. Zeus war körperlich am Ende und leistete in seinem ersten und letzten Kampf kaum Widerstand. Sein Gegner verbiss sich in seinem Kopf, was zu irreparablen Nervenschäden führte - Gleichgewichtssinn sowie Sehkraft waren von nun an immens eingeschränkt. Glücklicherweise erbarmte sich der russische Straßendealer, der auch bei dem Kampf anwesend war und erklärte sich bereit Zeus aufzunehmen, falls dieser nicht an seinen Verletzungen sterben würde. Zeus überlebte und sollte von nun an die Wohnung und besonders den Stoff des süchtigen Slaven bewachen. Dieser wiederum zweifelte ein bisschen an der Zurechnungsfähigkeit seines neuen Mitbewohners. Immerhin taumelte der Hund öfter etwas unkoordiniert durch die Wohnung, reagierte nicht auf Befehle und schnappte regelmäßig nach irgendetwas was gar nicht da war. Darum blieb Zeus in der Wohnung. Immer. Der Dealer versuchte diese Gefangenschaft erträglicher zu gestalten indem er dem Hund nicht einfaches Hundefutter servierte, sondern täglich 600 Gramm Hähnchenbrust. Dies führte aber zum nächsten Problem; der Köter erledigte natürlich sein großes Geschäft auch in der Wohnung und ließ sich partout nicht für ein Katzenklo begeistern. Mittlerweile stank das Räubernest zum Himmel, was dem, in seiner Sucht und allgemeinen Verwahrlosung weit fortgeschrittenen, Ticker recht egal war. Zu Andrés Verteidigung muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass der gesamte Etagenflur, aus vielen verschiedenen Gründen, mächtig nach Kacke stank und somit vor der Wohnungstür kein direkter Unterschied wahrzunehmen war.
Wie auch immer. André hebelte die Tür auf und erstarrte als er sich plötzlich einem knurrenden Monster gegenübersah. Zeus wiederum, bereit sein Zuhause bis zum Tod zu verteidigen, setzte zum Sprung an. Verfehlte um gut einen halben Meter. Knallte mit dem Kopf gegen den Türrahmen und blieb besinnungslos liegen.
André war immer noch in Schockstarre, als er auf das leblose Ungetüm vor seinen Füßen blickte. In Sekundenschnelle meldete sich aber sein von der Sucht konditioniertes Bewusstsein zurück. Im Höchsttempo wühlte er sich durch Schrott, Unrat und vor allem Hundekacke, bis er einen handgroßen durchsichtigen Müllbeutel mit ca. 30 Gramm Heroin Inhalt fand.
Schnellstmöglich raus aus der Wohnung, dem Block, ab in den Park und erstmal tief durchatmen. Von diesem Tag an spezialisierte sich André auf Geschäftseinbrüche.