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Tagtraum

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19.06.2001
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Tagtraum

TAGTRAUM

„Ganz ruhig, Sir.“ Der junge Sanitäter beugte sich über Henry Mills und lächelte. „Sie hatten einen Unfall. Können Sie sich erinnern?“
Mills verdrehte die Augen. Unfall? „Was...“ Das Sprechen fiel ihm schwer. Er fühlte die Schmerzen in seinen Armen und Beinen. „Unfall?“ fragte er schwach.
Der Sanitäter nickte. „Ja. Wir sind auf dem Weg ins Krankenhaus. Alles wird gut.“ Er berührte etwas über Henrys Kopf. „Gleich sind wir da, Mr. Mills. Überanstrengen Sie sich nicht.“
Henry versuchte etwas zu sagen, aber er wurde schläfrig. Das letzte, was er noch hörte, war ein sanft in sein Ohr gehauchtes: „Sie werden sehen. Alles kein Problem.“ Dann fiel Mills in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Dieser verdammte Unfall. Henry dachte zurück an diesen verhängnisvollen Tag vor acht Jahren. Wie der Benz ihm die Vorfahrt genommen hatte und er dadurch das Lenkrad herumreißen mußte. Diese gewaltige Vorderfront des überdimensionalen Lasters, die direkt auf ihn zukam. Ein dumpfer Knall, unzählige kleine Lichter und anschließende Schwärze. „Gott.“ flüsterte Henry und sah rüber zu seiner kleinen Tochter Janet, die überschwenglich auf dem Klettergerüst turnte. „Sei vorsichtig, Janet!“ rief Henry und bekam einen entrüsteten Gesichtsausdruck als Antwort zurück. Er winkte ihr zu und setzte sich auf die Bank. Langsam holte er die Marlboro aus seiner Innentasche hervor und nestelte umständlich eine Zigarette aus der Packung. Eigentlich hatte er Mary auf dem Krankenbett, zwei Wochen nach dem schrecklichen Unfall, versprochen, mit dem Rauchen aufzuhören. Nun... Henry lächelte und zuckte mit den Schultern. Er steckte sich die Marlboro in den Mund und suchte nach dem Feuerzeug.
„Sie wissen aber schon, daß Rauchen die Gesundheit gefährdet. Nicht wahr?“ sagte eine Stimme. Die dazugehörende Hand hielt ein Feuerzeug vor Henrys Gesicht.
„Klar.“ sagte Mills und zündete sich dankbar die Zigarette an. „Aus dem fünfzigsten Stock springen ist genauso gefährlich. Aber haben Sie jemals eine Warnung gelesen, daß es sich so verhält?“
Ein Mann in mittleren Jahren setzte sich neben Henry auf die Bank. „Nun, aber das hat doch was mit gesundem Menschenverstand zu tun.“
Henry sah den Mann an. Obwohl es Sommer war und die Temperaturen sämtliche historischen Werte sprengten, hatte der Mann einen dunkelgrauen Anzug an. Auf dem Kopf trug er einen altmodischen Hut. Das leicht gelbliche Hemd war bis oben zugeknöpft und eine lilane Krawatte hatte sich eng um den Hals geschnürt. Sein Gesicht war an einigen Stellen rötlich, als ob der Mann Sonnenbrand hätte. Über seinen schmalen, blutleeren Lippen befand sich ungepflegter Schnurbart. Die Augen des Mannes waren hellblau, dennoch irgendwie leer, wie Henry fand. „Und was wollen Sie mir nun damit sagen?“ fragte Henry. Genüßlich blies er den Qualm aus. Er sah zu Janet, die kopfüber vom Gerüst herunterhing. „Janet!“ Henry mochte es nicht, wenn seine Tochter solche Kunststückchen machte. Er durfte gar nicht daran denken, was Mary sagen würde, wenn sie wüßte, in welcher Art und Weise Janet auf dem Spielplatz herumtollte.
Der Mann lächelte. „Ihre Tochter?“ Er nickte zu Janet. „Hübsch. Ganz die Mutter, nicht wahr?“ sagte er verschmitzt.
„Ja. Woher wissen Sie das?“ Henry lachte.
„Geraten.“ Der Mann räusperte sich. „Mein Name ist William Conrad Ulysses.“ Er reichte Henry die Hand.
Dieser zuckte mit den Schultern und schlug ein. „Henry Mills.“ Ulysses, dachte er. Komischer Name. „Und... Kann ich Ihnen weiterhelfen, Mr. Ulysses?“
Ulysses kratzte sich bedächtlich am Kinn. „Ja, eigentlich schon.“
„Inwiefern?“ Langsam wurde Mills ungeduldig. „Nun?“
„Wissen Sie, Mr. Mills. Jeden Tag gehe ich hier an dem Spielplatz vorbei. Und jeden Tag sehe ich Sie und Ihre kleine Tochter, wie sie so vergnügt hier spielt.“ Ulysses hielt inne und sah zu Janet. „Und Sie sitzen immer auf der gleichen Bank. Rauchen fünf Zigaretten, sehen hin und wieder zur kleinen Janet. Und dann, zwei Stunden später rufen Sie nach ihr und beide machen Sie sich zufrieden und glücklich auf dem Heimweg.“ Ulysses grinste Henry an.

Janet Mills war vom Gerüst heruntergeklettert und sah zu ihrem Vater rüber. Der saß auf der Holzbank und unterhielt sich mit einem seltsamen Mann, der für die Jahreszeit mehr als unpassend gekleidet war. Aus einem plötzlichen Impuls heraus wollte sie zu ihrem Dad laufen und ihn von diesem Mann wegzerren. Doch irgendetwas hielt sie zurück. Und dann bemerkte sie auch, was der Grund dafür war. Etwa vier Meter von der Holzbank entfernt, auf der ihr Dad und der komische Mann saßen, hockte ein großer Hund und sah direkt zu ihr. Seine Augen waren blutunterlaufen. Er hatte ein schmutziges und struppiges Fell. Ab und zu öffnete er sein Maul und Janet konnte riesige messerscharfe Zähne erkennen, die nur darauf zu warten schienen, sich in den zarten Körper eines kleinen Mädchens zu verbeißen. In ihren Körper. Langsam ging sie zurück, bis sie gegen das Gerüst stieß. Janet wollte ihren Dad rufen, aber es ging nicht. Sie brachte keinen einzigen Ton zustande. Und plötzlich begann der Hund langsam auf sie zuzutrotten...

„Entweder Sie sagen mir, was Sie wollen. Oder ich schlage vor, dieses Gespräch zu beenden.“ sagte Henry verärgert und sah aus den Augenwinkeln heraus, wie Janet auf das Gerüst stieg. Sei bloß vorsichtig, dachte er. „Also, kommen Sie zur Sache.“
Ulysses hob beschwichtigend die Hände. „Ja, ich beeile mich.“ Er sah nach oben. „Finden Sie nicht auch, daß das Wetter viel zu warm ist, Henry?“
„Was?“ Mills hatte genug. „Also hören Sie, ich werde jetzt...“
„Sie werden gar nichts, Henry!“ unterbrach ihn Ulysses. „Sie und ich werden uns ein bißchen unterhalten. Und ich rate Ihnen, auf meine Fragen zu antworten. Sonst...“
Henry lachte. Trotz des Unfalls vor acht Jahren, der ihm ein steifes Bein bescheert hatte, konnte er immer noch auf zehn Jahre Amateurboxen zurückgreifen. Und dieser seltsame Kauz von Ulysses sah nicht danach aus, daß er Henry körperlich überlegen war. „Sonst was, Mr. Ulysses?“
„Sonst...“ Ulysses packte Henrys linken Unterarm und drückte zu. Zufrieden sah er den verwunderten und gleichzeitig wütenden Gesichtsausdruck von Henry. „Ja, da hätten Sie wohl nicht mit gerechnet, was?“ Er ließ los. „Rauchen Sie noch eine, Mr. Mills.“ Er holte das Feuerzeug hervor und stellte es zwischen sich und Henry auf die Holzbank.
Henry hielt sich seinen Arm. „Wer zum Teufel sind Sie?“ Ulysses schwieg, sah ihn nur eindringlich an. Er wollte aufstehen, doch Ulysses schüttelte den Kopf und deutete auf das Feuerzeug. „Was wollen Sie von mir?“
Ulysses nahm den Hut ab und fuhr sich durch sein schütteres blondes Haar. „Nur mal unterhalten, Henry. Und die kleine Janet kann doch inzwischen weiterspielen.“

Der Hund hatte das Gerüst erreicht und starrte Janet an, die auf dem höchsten Punkt der Konstruktion geklettert war. Sie stellte fest, daß auf dem Spielplatz nur noch sie, ihr Dad, sowie der komische Mann und der furchteinflößende Hund waren. Alle anderen schienen wie vom Erdboden verschwunden zu sein. Der Hund öffnete wieder sein Maul. Janet bekam eine Gänsehaut vor Angst. Diese Zähne... „Geh weg!“ flüsterte sie und sah verzweifelt zu ihrem Vater, der sich immer noch mit dem Mann unterhielt. Warum sieht er nicht zu mir? Kann er denn dieses Monster nicht sehen? Der Hund unter ihr begann im Kreis zu laufen. Als ob er darauf warten würde, daß ich runterfalle. Und dann... Janet rutschte plötzlich ab und konnte sich mit letzter Kraft an einer Sprosse des Gerüsts festhalten. Ihre Füße baumelten in der Luft. Im selben Moment sprang der Hund mit einem leisen Knurren nach oben und schnappte zu. Janet schrie auf. Das mächtige Gebiß des Hundes verfehlte ihr rechtes Bein knapp. Sie schwang sich mit einem Stöhnen wieder nach oben. Unten auf dem Boden bellte der Hund sie wütend an. Starr vor Angst wagte Janet sich nicht zu bewegen...

Ulysses steckte das Feuerzeug wieder weg, nachdem sich Henry zitternd eine Zigarette angezündet hatte. „Wie war das nach Ihrem Unfall, Henry?“
Mills sah Ulysses sprachlos an. „Wo... woher... Sie? Woher wissen Sie das?“ Er bemerkte, wie Janet beinahe vom Gerüst abrutschte, sich aber im letzten Moment noch festhalten konnte. „Janet!“ schrie er. „Janet!“
„Ihrer Tochter geht es gut, Henry.“ sagte Ulysses. „Glauben Sie mir.“
„Was?“
„Sehen Sie doch selbst! Sie vergnügt sich prächtig.“ Er zeigte zu Henrys Tochter.
„Ich...“ Für einen Moment hatte Henry gedacht, Angst im Gesicht seiner Tochter zu entdecken. Jetzt sah er ihr zu, wie sie ihm lachend zuwinkte. Gut, die Kleine muß nicht mitbekommen, was hier gerade passiert. „Gott, was wollen Sie?“
„Wie war das damals, Henry? Als Sie das erste Mal aus der Ohnmacht aufgewacht sind? Als Sie geglaubt haben, für immer an den Rollstuhl gefesselt zu sein? Das war doch die erste Prognose, nicht wahr? Querschnittslähmung.“ Ulysses lachte verächtlich. „Na kommen Sie. Erzählen Sie es mir.“
Henry sah wieder zu Janet. Ihr ging es wirklich gut, wie er soweit feststellen konnte. „Ich... Es war eine schwere Zeit.“ Er hustete und warf die Zigarette weg. Kopfschüttelnd sah er Ulysses an. „Warum wollen Sie das denn wissen, verdammt?“
„Ich interessiere mich einfach dafür. So schwer zu verstehen?“
Henry schloß die Augen. Gott, das war...

Schweigend saß Mary am Krankenbett ihres Mannes. Sie hatte die Gardinen zur Seite gezogen. Draußen war ein strahlend blauer Himmel. „Sie können sich irren, Henry.“ sagte sie schließlich.
Henry starrte zur Decke. „Vom Hals abwärts, Mary.“ brummte er. „Ich bin dann ein unnützes Wrack.“
„Red nicht so einen Unsinn!“ Mary schluckte und wischte sich die Tränen aus den Augen.
„Wieso Unsinn? Hm? Ich kann nicht für euch sorgen. Nicht für euch da sein!“
„Doch, das kannst du!“ Sie beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuß auf die Stirn. „Hast du nicht zugehört? Sie können sich irren. Es kann alles gut werden, Schatz.“
Henry hustete und schielte zu seiner Frau. „Weißt du, wie es ist, hier so rumzuliegen? Sich nicht bewegen zu können? Wie demütigend das ist? Man kann sich nicht selbst waschen. Man wird gefüttert. Und...“ Er schloß die Augen. Nein, erzähl ihr nicht, wie es ist, wenn du dein Geschäft verrichtest.
„Henry...“ Mary sah ihn liebevoll an. „Wir müssen einfach abwarten. Ich bin überzeugt davon, daß alles gut werden wird.“
„Ach, das sagt hier jeder!“ knurrte er.
Mary faltete ihre Hände zusammen. „Weißt du?“
„Was?“
„Vielleicht ist es jetzt der beste Augenblick, dir das zu sagen. Ich bin...“
Henry schielte zu ihr. „Was bist du?“
„Schwanger.“ flüsterte Mary. Sie sah zu Henry. Sie sah, wie sein wütender Gesichtsausdruck sich in ein liebevoll lächelndes Gesicht verwandelte.
„Schwanger?“ fragte er leise nach.
Mary nickte. „Ja.“

Ulysses stöhnte auf. „Das war dann also der auschlaggebende Grund, sich richtig reinzuhängen. Oder? Henry?“ Der hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte. „Oh...“ Ulysses runzelte die Stirn. „Das war nicht meine Absicht, glauben Sie mir.“
„Mistkerl!“ fluchte Henry und sah Ulysses zornig in dessen hellblaue Augen. „Woher wissen Sie soviel von mir? Und warum? Warum, verdammt?“
Ulysses setzte sich den Hut wieder auf. „Neugier?“
„Was?“
„War die Schwangerschaft Ihrer Frau der Grund, sich dann nicht selbst aufzugeben?“
Henry schüttelte den Kopf und sah zu Janet, die immer noch auf dem Gerüst saß. Er hatte ein komisches Gefühl. Sie lachte ihn an. Und trotzdem...
„Henry?“ Ulysses packte ihn am Arm. „War es der Grund?“
Mills nickte. „Ja, es war einer der Gründe...“

Janet Mills saß auf dem Klettergerüst und versuchte alles, die Aufmerksamkeit ihres Vater auf sich zu ziehen. Sie hatte gewunken, nach untern zu dem Hund gezeigt. Aber aus ihr unerklärlichen Gründen reagierte Henry Mills überhaupt nicht, sondern redete weiter mit dem Mann im dunkelgrauen Anzug. Der Hund saß geduldig da. Sie wußte, das Monster wartete nur darauf, daß sie eine unbedachte Bewegung machte. Der Hund hatte angefangen, zu knurren. Das Geräusch verursachte bei Janet eine Gänsehaut. Gott, war denn niemand da, der das sah? „Geh doch bitte weg.“ versuchte sie in einem sanften Tonfall auf das Tier einzureden. „Herrchen wartet auf dich.“ Sie zeigte zu dem Mann. Der Hund reagierte nicht. „Weg! Weg!“ Keine Reaktion. „Braver Hund.... Bist brav.... Und jetzt: Weg!“ Keine Reaktion. Janet war erst acht Jahre alt. Sie war über sich selbst erstaunt, wie rational sie die Situation bewertete: Keiner der ihr helfen konnte. Der einzige, der dazu in der Lage war, saß mit einem Mann im dunkelgrauen Anzug auf der Parkbank und unterhielt sich mit diesem, anstatt ihr zu helfen. Sie verstand es nicht. Janet begann zu weinen. Der Hund gähnte und kauerte sich auf den Boden. Ob er müde ist? Janet hoffte es. Vielleicht konnte sie sich still und leise davonschleichen. Aber... Sie hatte eine Idee. Sie zog ihren Turnschuh aus und warf ihn soweit sie konnte weg. Der Hund sprang augenblicklich auf die Beine, als der Schuh den Boden berührte. Mit einem wilden Kläffen sah das Tier zu dem im Gras liegenden Schuh. Dann sah es wieder zu Janet. Diese blutunterlaufenden Augen schienen ihr zu sagen: Mich kannst du nicht reinlegen! Janet blieb nichts weiter übrig, als auf dem Gerüst sitzen zu bleiben. „Dad!“ flüsterte sie flehentlich. Was ist nur los mit ihm? Und zu allem Überfluß mußte sie dringend auf die Toilette...

„Sie haben also neuen Mut gespürt. Und als dann die Nachricht kam, daß es doch nur ein paar Monate Training sein würden, dann...“
„Dann haben Mary und ich es geschafft. Ja.“ Henry liefen Tränen übers Gesicht. Er hatte keine Ahnung, was das alles sollte. Er wußte nicht, warum dieser Mistkerl von Ulysses das alles wissen wollte. Verdammt. Warum?
Ulysses nickte zufrieden. „Und irgendwann haben Sie das Krankenhaus verlassen. Gesund und munter.“
„Nein!“ sagte Henry schluchzend.
„Hm?“ Ulysses verstand nicht.
„Ich habe ein steifes Bein. Aber das...“
Ulysses sah auf Henrys linkes Bein. “Das wußte ich nicht.“ sagte er leise.
Henry begann zu lachen. „Ach, das wußten Sie nicht?“
„Nein.“ sagte Ulysses ernsthaft. Er runzelte die Stirn. „Ich dachte immer...“
„Was dachten Sie?“
„Daß Sie vollauf gesund sind. Hm...“ Der Mann mit den hellblauen ausdruckslosen Augen stand auf. „Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen Ihre kostbare Zeit gestohlen habe, Henry. Aber...“
„Was?“ Henry verstand nicht. „Was?“
Ulysses schien plötzlich Angst zu haben. Er sah sich um. Schließlich blieb sein Blick beim Klettergerüst haften. „Ich dachte immer, Sie wären völlig gesund, Henry.“ sagte er mit monotoner Stimme. „Ich habe mich wohl geirrt. Und... Oh nein!“ Ulysses lief auf das Gerüst zu, auf dem Janet saß.
Henry stand auf und lief ihm hinterher. „Warten Sie. Was soll das? He?“ schrie er Ulysses nach. Er hatte plötzlich eine Riesenangst um Janet...

Janet spürte, wie sie mehr und mehr vom Gerüst abrutschte. Ihre Finger hatten krampfhaft die dünnen Eisenstangen des Konstrukts umklammert. Sie hatte Schmerzen. Der Hund unter ihr schien zu wittern, daß es in wenigen Minuten eine neue Chance für ihn gab, daß kleine Mädchen über ihn zu zerfleischen. Er bleckte die Zähne und knurrte Janet an....

„He?“ schrie Henry. Er sah, wie Ulysses auf das Gerüst zurannte. Henry verfluchte sein steifes Bein, daß es ihm unmöglich machte, Schritt mit dem Mann zu halten. Und dann... Henry blieb stehen und traute seinen Augen nicht. Janet fiel schreiend vom Gerüst. „Janet!“

Ulysses erreichte das Gerüst in dem Moment, als Janet mit einem lauten Schrei zu Boden fiel. Der Hund setzte zum Sprung an, doch Ulysses war schneller. Noch bevor der Hund nach dem Mädchen schnappen konnte, hatte Ulysses Janet aufgefangen und gleichzeitig dem Tier einen Tritt in die Seite gegeben. Winselnd vor Schmerz zog sich der Hund zurück, ohne die beiden jedoch aus den Augen zu lassen. Ulysses hielt Janet in seinen Armen. Der Hund knurrte sie an. „Verschwinde!“ rief Ulysses dem Hund zu. „Verschwinde! Geh!“ Der Hund legte seinen Kopf quer. Offenbar verstand er nicht... „Geh! Los! Mach, das du wegkommst!“ schrie Ulysses. Mit einem wütenden Bellen lief der Hund schließlich davon.
Janet schlug auf den komischen Mann ein. „Lassen Sie mich los!“ Der Mann stellte sie behutsam auf den Boden. Sie stieß sich von ihm los und rannte zu Henry, der wie versteinert zwanzig Meter vom Gerüst entfernt stand. „Daddy!“
Erleichtert nahm Henry seine Tochter in die Arme. „Janet! Großer Gott...“ Er drückte sie an sich. Er konnte ihr aufgeregt schlagendes Herz hören. „Tut mir leid, mein Schatz. Ich habe nicht...“ Henry sah zum Gerüst. Ulysses war weg.

„Ich habe nach dir gerufen!“ schluchzte Janet. „Du hast mich nicht gehört. Es war so schrecklich. Dieser Hund...“
„Hund?“ Henry sah seine Tochter an. „Aber da war kein Hund.“
„Er war die ganze Zeit unter dem Gerüst, Dad! Ich...“
„Pssst, mein Schatz.“ Er gab ihr einen Kuß und lächelte sie an. „Da war kein Hund.“
„Aber...“ Janet schloß die Augen. „Ich...“ War da wirklich ein Hund gewesen? „Dieser Mann bei dir, Dad.“
„Was für ein Mann?“ fragte er sie.
„Dieser komische Mann. Der mich aufgefangen hat, als ich runtergefallen bin.“
Henry sah seine Tochter erstaunt an. „Du bist runtergefallen? Vom Gerüst?“
„Ja, ich...“ Janet schluckte. Das war sie doch. Oder doch nicht? „Ich...“
Henry lächelte sie an. „War wohl ein kurzer Tagtraum, hm?“ Er wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht. „Na komm, gehen wir nach Hause. Mama wartet bestimmt schon auf uns. Und, he?“
„Daddy?“
„Ein Eis? Hm?“
Janets Gesicht strahlte. „Himbeere und Schokolade?“
„Klar!“ lachte Henry, stand auf und setzte sich seine Tochter auf die Schulter. „Alles, was meine Prinzessin sich wünscht.“ Sie verließen den Spielplatz.

Mary stand lachend auf der Veranda. „Henry Thomas Mills!“ Sie versuchte, ernsthaft zu wirken. Es gelang ihr nicht. „Wenn du so weiter mit unserer Tochter herumtollst, wird Janet zu müde sein, um ihr großes Geschenk noch zu empfangen.“
Janet lief zu ihrer Mutter. „Geschenk?“ Es war ihr zehnter Geburtstag. „Dad?“ Sie drehte sich um und sah ihn fragend an. „Noch ein Geschenk?“
Henry saß auf der Wiese vor dem Haus. Es war merkwürdig. Heute morgen war er aufgestanden und das erste was er bemerkte... „Ja, Schatz. Sozusagen der Jackpot, meine Prinzessin.“ Ohne Mühe stand er auf. Er sah zu Mary, die ihm zunickte. Er nickte zurück. Beide hatten nicht glauben wollen, was da heute morgen plötzlich passiert war. Sein steifes Bein war... „Es ist wie neu!“ hatte er zu Mary gesagt. Ein Wunder! Er winkte Janet zu sich. „Komm her, Kleines. Mum geht das Geschenk holen.“ Dabei zwinkerte er Mary zu.
Janet lief zu ihm. „Was ist es, Dad?“
„Laß dich überraschen, Janet.“
„Ist es...“ Sie wagte es kaum auszusprechen. „Ein Hund?“
„Woher?“ Stirnrunzelnd sah Henry seine Tochter an. „Wie kommst du denn darauf?“ Der Typ, der ihm den Hund verkauft hatte, so hatte es Henry aus der Anzeige lesen können, hatte sich darauf spezialisiert, familientaugliche, besonders kinderfreundliche Hunde zu züchten. Der Mann mit dem lichten blonden Haar und den hellblauen Augen hatte einen seriösen Eindruck gemacht. „Glauben Sie mir.“ hatte der Mann gesagt. „Mit diesem Hund werden Sie Ihre Freude haben.“ Henry knuffte seine Tochter zärtlich. „Laß dich überraschen, Schatz!“
Mary kam zurück. Und an der Leine hatte sie...

Janet sah den Hund. Es war ein sehr großes Tier. Seine Augen waren blutunterlaufen. Er hatte ein schmutziges und struppiges Fell. Sein Maul öffnete sich und sie konnte riesige messerscharfe Zähne erkennen. Der Hund sah zu Janet und riß sich von Mary los. Knurrend rannte er auf Janet zu. „Daddy!“ schrie Janet und rannte davon.

Fragend sah Henry zu Mary, die hilflos mit den Schultern zuckte. Er drehte sich um und sah, wie der Hund gierig seine Zähne in Janets Körper schlug. Fassungslos starrte Henry auf das Tier. Er hörte, wie Mary hinter ihm ohnmächtig zu Boden fiel. Es dauerte eine Weile, aber dann wurde auch Henry endlich bewußtlos...

ENDE

copyright by Poncher (SV)

15.06.2002

 

Hallo Poncher,
Oh, man. Die Geschichte ist der Wahnsinn und super geschrieben.
Die Geschichte hat mich total mitgerissen.
Aber ich bin mir noch nicht im klaren, wer dieser Mann war.
Hat er schlechte Arbeit geleistet und nach der vollständigen Leistung dann sei Honorar gefordert? Da ist vorher ein Deal gelaufen? Ich glaub ja.
Kompliment.
Einfach super
Gruß Manfred

 

Tolle Geschichte!
Hat mir gut gefallen wie du langsam diese beklemmende, befremdende Atmosphäre aufbaust wobei man merkt dass irgendwas nicht stimmt...
Irgendwo in der Mitte ist ein kleiner Gramatikfehler aber ich will jetzt nicht genauer nachsehen.
Ist auch egal die Geschichte ist verdammt gut, vom Plot und vom Stil her.
Aber eine Frage hätte ich noch:
Was hat das Bein von dem Typen damit zu tun?

 

Hi Poncher!
Deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen - bis zum Zeitsprung zur Janets zehnten Geburtstag.
Irgendwie hab ich das Alles nicht so richtig gepeilt.

Mhh..also..
Der Mann wollte Henry um einen Gefallen bitten - in der Annahme er sei vollständig gesund. Als er jedoch erfährt, dass es doch nicht so ist, macht er einen Rückzieher und rettet Janet das Leben.
An ihrem Geburtstag, an dem zufälligerweise auch Henry wirklich geheilt ist, lässt er sie durch seinen Hund töten.
Also hat das Mädchen etwas mit der Heilung zu tun, aber was? Ist sie das "Honorar"? Das würde bedeuten, dass der Mann über Leben und Tod entscheiden kann, dann hätte er aber auch vom steifen Bein wissen müssen.
Die Idee hat was von Rumpelstilzchen, Henry verspricht im Gegenzug für seine Genesung sein erstes Kind und kann sich nicht mehr daran erinnern.

Naja, ich mag Storys, bei denen man dann richtig grübeln muss, aber hier ist mir das Ganze einfach zu schwammig. Ich finde zu wenig Anhaltspunkte in der Geschichte.

Eins ist mir noch aufgefallen:

Ulysses packte Henrys linken Unterarm und drückte zu. Zufrieden sah er den verwunderten und gleichzeitig wütenden Gesichtsausdruck von Henry. „Ja, da hätten Sie wohl nicht mit gerechnet, was?“
Ich weiss ja nicht, aber auf mich wirkt das wenig furchteinflößend. Ich kann mir jetzt zwar denken, dass viel Druck dabei ausgeübt wird und daher die Überraschung rührt, aber es liest sich recht unspektakulär.

Naja, wie immer gut geschrieben, aber leider ein unbefriedigendes Ende.

Ugh

[ 15.06.2002, 23:43: Beitrag editiert von: Bibliothekar ]

 

Hallo Poncher,
beim zweiten Lesen sind mir noch einige Dinge aufgefallen:

Wieso Unsinn? Hm? Ich kann nicht für euch sorgen. Nicht für euch da sein!“
„Doch, das kannst du!“ Sie beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuß auf die Stirn. „Hast du nicht zugehört? Sie können sich irren. Es kann alles gut werden, Schatz.“

Für wen kann er nicht sorgen? Er weiß doch noch gar nicht, daß er Vater wird.

... Henry blieb stehen und traute seinen Augen nicht. Janet fiel schreiend vom Gerüst. „Janet!“

Ein Vater bleibt da nicht stehen, der rennt, bis er bei ihr ist.

Fragend sah Henry zu Mary, die hilflos mit den Schultern zuckte. Er drehte sich um und sah, wie der Hund gierig seine Zähne in Janets Körper schlug. Fassungslos starrte Henry auf das Tier. Er hörte, wie Mary hinter ihm ohnmächtig zu Boden fiel. Es dauerte eine Weile, aber dann wurde auch Henry endlich bewußtlos...

Wenn ein Hund sich auf meine Tochter stürzt, dann stürze ich mich auf den Hund.
Meine Frau stürzt mit. Da wird niemand ohnmächtig.

Aber begeistert bin ich immer noch.
Gruß Manfred

 

Hallo Poncher,

eine wirklich tolle Story, die du da geschrieben hast, athmosphärisch dicht, mit überzeugenden Charakteren und guten Dialogen. Eine rundum gelungene Geschichte, die noch besser wäre, wenn diese kleinen Logik-Fehler nicht wären.

Bsp1.:Aus einem plötzlichen Impuls heraus wollte sie zu ihrem Dad laufen und ihn von diesem Mann wegzerren. Doch irgendetwas hielt sie zurück. Und dann bemerkte sie auch, was der Grund dafür war. Etwa vier Meter von der Holzbank entfernt, auf der ihr Dad und der komische Mann saßen, hockte ein großer Hund und sah direkt zu ihr.

Zuerst weiß sie nicht, was sie davon abhält, zu ihrem Dad zu laufen und plötzlich ist dieser Hund da. Ist er also aus dem Nichts aufgetaucht?
Wenn ja, dann solltest du einen Hinweis geben, ansonsten klingt es unlogisch.

Bsp2.:Trotz des Unfalls vor acht Jahren, der ihm ein steifes Bein beschert hatte, konnte er immer noch auf zehn Jahre Amateurboxen zurückgreifen. Und dieser seltsame Kauz von Ulysses sah nicht danach aus, daß er Henry körperlich überlegen war. „Sonst was, Mr. Ulysses?“
„Sonst...“ Ulysses packte Henrys linken Unterarm und drückte zu. Zufrieden sah er den verwunderten und gleichzeitig wütenden Gesichtsausdruck von Henry. „Ja, da hätten Sie wohl nicht mit gerechnet, was?“

Versteh´ ich nicht. Das ist ein Amateurboxer, dessen Hand von einem älteren Herrn gedrückt wird. Hier fehlt eine nähere Umschreibung der Kraft des alten Mannes, weshalb der "Amateurboxer" so verwundert ist.
Und selbst dann würde ich eher annehmen, nachdem er seine Hand losgelassen hat, dass er ihn dennoch versuchen würde das Gesicht zu verbeulen und nicht ruhig auf der Bank sitzen bleibt.

Bsp3:Erleichtert nahm Henry seine Tochter in die Arme. „Janet! Großer Gott...“ Er drückte sie an sich. Er konnte ihr aufgeregt schlagendes Herz hören. „Tut mir leid, mein Schatz. Ich habe nicht...“ Henry sah zum Gerüst. Ulysses war weg.

„Ich habe nach dir gerufen!“ schluchzte Janet. „Du hast mich nicht gehört. Es war so schrecklich. Dieser Hund...“
„Hund?“ Henry sah seine Tochter an. „Aber da war kein Hund.“
„Er war die ganze Zeit unter dem Gerüst, Dad! Ich...“
„Pssst, mein Schatz.“ Er gab ihr einen Kuß und lächelte sie an. „Da war kein Hund.“

Warum ist Henry erleichtert. Nach dieser Szene willst du uns weismachen, dass Henry keine Gefahr für das Kind gesehen hat. Weder an den Hund noch an den älteren Herrn scheint er eine Erinnerung zu haben, dennoch ist Henry erleichtert??
Was bedeutet das? Hatte das Kind einen Tagtraum, indem es ihre "Zukunft" vorhergesehen hat oder hatte Henry einen Tagtraum, an dem er sich im nächsten Moment gar nicht mehr erinnert oder passierte das alles in einer anderen Dimension.

Bsp4:Fassungslos starrte Henry auf das Tier. Er hörte, wie Mary hinter ihm ohnmächtig zu Boden fiel. Es dauerte eine Weile, aber dann wurde auch Henry endlich bewußtlos...

Das hier halte ich für keine realistische Reaktion eines Vaters, ebenso wenig wie die zuvor beschriebene Reaktion Henrys auf dem Spielplatz, wie er wie angewurzelt stehen blieb.

Fazit: Auch wenn ich hier nur die negativen Beispiele aufgezeigt habe, die mich gestört haben, bedeutet das nicht, das mir die Geschichte nicht gefallen hat. Ich habe sie sogar mehrmals gelesen, weil sie so gut war. Ich finde, dass du sehr gute und realistische Dialoge schreiben kannst, die eine Identifizierung mit den Charaktären sehr einfach macht. In vielen anderen Storys hapert es oftmals daran.

[ 16.06.2002, 14:12: Beitrag editiert von: André ]

 

Hallo Poncher, ich kann mich den anderen nur anschließen: Eine wirklich sehr gut geschriebene, mitreissende Story ist Dir da gelungen. :)
Ein paar verwirrende Punkte gibt es aber noch, das sind die, die Dreimeier und André schon angesprochen haben. Aber ich denke, das kann man alles klären ohne etwas entscheidendes zu verändern.

Was mir noch auffiel...

Hat der Name des seltsamen Mannes etwas mit dem Roman "Ulysses" zu tun? :confused:

und eine lilane Krawatte hatte sich eng um den Hals geschnürt.
Kann man das sagen, oder doch besser "lilafarbene"... Oder am besten gleich "violett". :p

 

Grrr!!! Computerabsturz, Kritik weg...
Hier mein Hauptkritikpunkt: Gut und flüssig geschrieben, wie bei dir üblich, ABER: Du wirfst mehrere Handlungsstränge auf, die schlussendlich nicht miteinander verknüpft werden.
Jedenfalls konnte ich dergleichen nicht entdecken.

Der Schluss ist, entschuldige, Käse: Ein riesiger Hund rennt knurrend auf mein Kind zu und ich als Vater zucke nur mit den Schultern???

Falls die Handlung doch einen Sinn ergibt, würde ich mich über eine Erklärung freuen! Aus dem Text geht jedenfalls nicht hervor, was es mit dem geheimnisvollen Mann auf sich hat, ob Ulysses alles nur geträumt hat oder das Kind, etc.

 

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