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Tagträumer
Der abendliche Verkehrslärm dringt gedämpft durch die beiden Fenster zur Straßenseite hin. In meiner alten Wohnung war es ruhiger – bessere Wohngegend und ein Schlafzimmer Richtung Innenhof. Hier habe ich nicht mal ein Schlafzimmer – ein kombinierter Wohn- und Schlafraum mit Kochnische und einer geschmacklosen Kunstledercouch ist alles, was ich mir noch leisten kann. Und dennoch sehe ich der Nacht zum ersten Mal seit Wochen positiv entgegen.
Der Grund für meine Zuversicht liegt vor mir auf dem Tisch: eine 20er-Packung Methylphenidat. “Die sollten Ihr neurochemisches Gleichgewicht wieder in Ordnung bringen.” hatte mir der Arzt, ein ergrauter Mittfünfziger, heute morgen versichert. Für mich bedeutet das: Endlich wieder richtig schlafen.
Was Narkolepsie ist, weiß ich erst seit gestern. Zwei Nächte im Schlaflabor, verkabelt und überwacht, waren notwendig gewesen, um sicher zu gehen.
Dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist, habe ich schon vor ungefähr einem Jahr vermutet. Tagsüber ständig müde, lag ich nachts oft stundenlang wach. Kaffee half anfangs, hielt mich in einem farblosen Dämmerzustand, der ausreichte, um meiner Arbeit als Makler für ein lokales Immobilienunternehmen nachzugehen. Der Sekundenschlaf kam ein paar Monate später – ein echtes Handicap. Soweit als möglich versuchte ich, meine häufiger werdenden Aussetzer zu verbergen, mich in den vier Wänden meines Büros zu verstecken, und so selten wie möglich auf Außendienst zu gehen.
Aufzuwachen, am Steuer meines Wagens, und in die Scheinwerfer eines Busses zu blicken, markierte den Punkt, ab dem mein Leben definitiv in die falsche Richtung verlief.
Der Busfahrer reagierte schneller als ich, hatte aber weniger Glück: sein Ausweichmanöver ließ den Bus von der kurvigen Straße abkommen und die Leitplanke zerreißen, als wäre sie aus Papier. Im Rückspiegel sah ich das Fahrzeug kippen, langsamer, als ich es für möglich gehalten hätte, kurz in seiner surrealen Position verharren, und dann unerwartet plötzlich in die Tiefe stürzen.
Ich versuchte, zu retten, was noch zu retten war: Auf meinem weiteren Nachhauseweg mied ich stark befahrene Straßen, und stellte das Auto sofort in die Garage, (ja, auch eine Garage hatte ich damals noch) mit dem Vorsatz, ihn die nächste Woche nicht zu benutzen. Soweit ich abschätzen konnte hatte niemand den Unfall beobachtet, und eine oberflächliche Inspektion zeigte keine offensichtlichen Schäden an meinem Wagen.
Trotz Schlafmitteln kaum zu schlafen war für mich schon zur Gewohnheit geworden, doch die Nacht nach dem Unfall war die Hölle. Der Rest an Schlaf, den mir die Natur zugestanden hätte, wurde von nagenden Schuldgefühlen vertrieben, die sich durch meine Gedanken gruben, wie Maden durch faules Fleisch. Dass ich mir nur selbst geschadet hätte, hätte ich mich gestellt, ist ein Argument, das vier Uhr morgens vor dem eigenen Gewissen nicht zählt.
Darüber hinweggekommen, verschlimmerte sich in den folgenden Wochen mein Zustand noch weiter: ich wachte immer öfter nach viel zu kurzem Schlaf auf, unfähig, mich zu bewegen, und mit dem Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Nicht die angenehmste Art aufzuwachen, die ersten Male hatte ich Angst wie ein Kleinkind.
Ich verlor meinen Job (Arschlöcher!), und vor kurzem musste ich meine Wohnung kündigen. Dass es sich bei dem Bus um einen vollbesetzten Schulbus gehandelt hatte, erfuhr ich aus einer alten Zeitung, mit der ich beim Umzug das Porzellan eingewickelt hatte.
Narkolepsie in Verbindung mit chronischer Insomnie war es, was der ergraute Mittfünfziger mir dann heute Morgen in der fast familiären Atmosphäre des sonnendurchfluteten Sprechzimmers diagnostizierte. Sekundenschlaf, Schlafparalyse, Angstattacken und hypnagoge Halluzinationen die Symptome, würde ich nicht die Medikamente einnehmen, die er mir verschrieben hatte.
So sitze ich jetzt hier am Tisch meiner Einzimmerwohnung, zwischen übervollen Umzugskartons, die ich schon vor Tagen hätte ausräumen sollen, und sehe zu, wie sich der Rauch meiner für heute letzten Zigarette langsam zur Decke windet. Hier im vierten Stock kann ich die Sonne gerade noch hinter dem Antennenwald des gegenüberliegenden Hauses sehen. Im abendlichen Gold betrachtet, war der heutige Tag gar nicht so schlecht. Ein nachmittäglicher Spaziergang, ganz nach Weisung des Arztes, hat meine Gedanken geordnet, und den Medikamenten schreibe ich es zu, dass ich heute einigermaßen wach durch den Tag gekommen bin.
Meine Zuversicht steigt noch, als ich die dampfende Dusche verlasse und mich schläfrig fühle. Der Radiowecker neben meinem Bett zeigt noch keine acht Uhr, und ich fühle mich schon schläfrig! Noch vor drei Tagen hätte ich nicht zu hoffen gewagt, jemals wieder einen Hauch von Müdigkeit zu empfinden, und jetzt das!
Um nicht zu vergessen, lege ich mir die Tablette für morgen früh zurecht, und gehe danach zu Bett. Meine bisherige Einschlafhilfe, der Fernseher am Fußende des Bettes, wird mir schnell zu anstrengend, und so sinke ich zufrieden in das Kissen, tiefer und tiefer, um von den wartenden Armen des Schlafs empfangen zu werden.
*
Wo...? Achja, neue Wohnung. Und wieder schlafen...
*
Wach? Nein, ich schlafe noch. Weich und tief. Meine Augen sind offen. Also wach. Da war aber noch was... Medikamente – ich hab diese Pillen geschluckt, ich sollte schlafen...
Es fällt mir nicht mehr schwer, die Augen offen zu halten. Durch die beiden Fenster (Gardinen sind noch keine montiert) dringt farbloses Licht von unbestimmter Herkunft und lässt die Umrisse meiner Umgebung erahnen. Wie spät ist es? Aus den Augenwinkeln sehe ich den roten Schein der Leuchtziffern des Radioweckers. Ich kann meinen Kopf nicht bewegen. Mein ganzer Körper ist wie gelähmt – Schlafparalyse. Aber ich bin hellwach!
Erstmal Ruhe bewahren. Ich kann normal atmen. Gleichmäßig ein und wieder aus.
Auch meine Augen habe ich unter Kontrolle. Die Konturen der Bettpfosten sind deutlich zu erkennen, in einiger Entfernung auch der Tisch mit den zwei Stühlen. Die Fenster zeigen nichts als gleichförmiges Grau, zwei klar umrissene Rechtecke in der Dunkelheit.
Zu meinen Füßen erkenne ich das Nachleuchten der Fernsehröhre, und daneben türmen sich, fast bedrohlich, dutzende Umzugskartons, voll von Relikten meines früheren Lebens. Es scheint, als versuchten sie, mit ihren hölzernen und metallenen Fangarmen mein Bett zu erreichen. Ich erkenne die Silhouette der hässlichen Puppe, die ich schon vor meiner Scheidung hätte wegwerfen sollen.
Es muss mitten in der Nacht sein. Nicht ein Laut dringt von der Straße hoch in mein Zimmer. Mit angehaltenem Atems versuche ich, irgendein Geräusch in dem alten Mietshaus zu hören – vielleicht das Rauschen einer Abwasserleitung, Luftblasen in den Heizungsrohren oder Spannungen im Baumaterial – nichts. Ich habe jedes Gefühl für Lautstärke verloren, kann nicht mehr einordnen, wie laut oder wie leise das Rauschen des Blutes in meinen Ohren ist – oder ob ich es mir nur einbilde.
Stakkatoartiges Klopfen aus Richtung des Tisches. Das Klopfen wird schneller und leiser, scheint sich über den Parkettboden Richtung Bett zu bewegen – die Tablette muss vom Tisch gefallen sein.
Mein Herz pocht panisch gegen den Brustkorb – mir wird klar, wie schreckhaft ich in den letzten Monaten geworden bin.
Es scheint ein wenig heller geworden zu sein. Ist das schon die Dämmerung? Ich versuche nochmal, den Kopf zum Radiowecker zu drehen, kann aber nicht einmal mehr das rote Leuchten der Anzeige sehen.
Links hinter dem Tisch erkenne ich die Umrisse der Kochnische im Hintergrund. Um mein Bett herum die Türme der Umzugskartons. Und in der Ecke dahinter – was ist das? Ich kann mich nicht erinnern, in dieser Ecke etwas abgestellt zu haben. Sieht aus wie ein Haufen Kleidung. Wenn es nicht so klein wäre, könnte man fast meinen... – ein Kind! Mein Gott, in der Ecke sitzt ein Kind...
Die Dunkelheit betrügt meine Augen, lässt die verschiedenen Schattierungen von Schwarz miteinander verschwimmen und schafft die Illusion von Bewegung, wo nichts ist, was sich bewegen könnte. Mein Blick bohrt sich Richtung Ecke, versucht, dem Schatten, der nicht hier sein kann, sein Geheimnis zu entreißen – ohne Erfolg. Das Atmen fällt mir schwer. So eng ist meine Luftröhre, so schwach meine Lungen...
Ich schließe die Augen, versuche, mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Ein und aus. Langsam und gleichmäßig entgegen dem Druck, der auf meiner Lunge lastet. Ich muss meine Augen öffnen. In der Ecke darf nichts sein, erst recht kein Kind, und ich muss mir Gewissheit verschaffen.
Wenn es nur nicht so dunkel wäre! Mehr als Schatten sind nicht zu erkennen. Bettpfosten. Fernseher. Der Tisch – es sitzt jemand am Tisch. Die Silhouette eines kleinen Kopfes, der in meine Richtung zu blicken scheint. Ich versuche zu schreien, aber es ist keine Luft in meinen Lungen, keine Kraft in meinen Stimmbändern.
Ich werde meine Augen nicht wieder öffnen. Der Schatten in der Ecke. Die kleine Gestalt am Tisch – ich fühle meinen eisigen Puls im ganzen Körper. Wie kommen diese Kinder in meine Wohnung?
“Geht weg! Geht weg!” Natürlich kommt kein Laut aus meiner Kehle.
Gegen meinen Willen öffne ich die Augen. Hinter den Umzugskartons – ein kleines Mädchen. Am Fenster die entstellte Silhouette eines vierten Kindes. Und am Fußende meines Bettes – so nah! – ein Junge, keine acht Jahre alt. Augen wie vergessene Brunnen voll schwarzem Wasser blicken mich an.
Auf meiner Brust! Es sitzt ein Kind auf meiner Brust, und es ist schwer. So unendlich schwer...