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Tagebuch
Mit freudigem Erstaunen zog ich das kleine Päckchen aus dem Briefkasten heraus. Da ich keine Post erwartete, ein Päckchen schon gar nicht, war die Überraschung umso größer. Ich beäugte es neugierig, drehte es prüfend in meiner Hand. Offenbar hatte mir jemand ein kleines Buch geschickt, zumindest fühlte es sich so an. Als ich den Absender las, zog ich verwundert die Augenbrauen in die Höhe. Es war die Anschrift meines Schwagers, von dem ich seit vielen Jahren nicht gehört hatte. Unser Kontakt war nie eng, auch nicht, als meine Schwester Isabell noch lebte. Doch nach ihrem plötzlichen Tod vor sechs Jahren hatten wir uns endgültig aus den Augen verloren.
Warum schickte er mir ein Buch?
Von Neugier getrieben riss ich noch im Hausflur das Einpackpapier herunter. Der Inhalt des Päckchens ließ mich für einen Moment erstarren. Fassungslos schaute ich auf das kleine Büchlein in meiner Hand.
Margits Diary stand auf dem abgegriffenen Einband aus Karton.
Es war mein Tagebuch.
Das Tagebuch, das plötzlich verschwunden war.
Irgendjemand hatte es mir gestohlen, als ich neun oder zehn Jahre alt war. Natürlich kam damals nur Isabell dafür in Betracht, aber sie stritt es wütend ab. Was auch sonst? Und jetzt, vierzig Jahre später, tauchte es plötzlich wieder auf.
Ich schlug es auf und lächelte.
Die eigene, kindliche Handschrift zu sehen war rührend. Fast wurden mir die Augen feucht. Ich klappte es wieder zu und ging, das Büchlein fest in meiner Hand haltend, die Treppen zum ersten Stock hinauf.
In meiner Wohnung legte ich das Tagebuch behutsam auf den Küchentisch. Eilig stellte ich die Kaffeemaschine an. Dann kramte ich nach meiner Brille um die kleine Karte lesen zu können, die mein Schwager beigefügt hatte. Er schrieb, dass er das Buch in einer Kiste auf dem Speicher gefunden habe und es jetzt seiner rechtmäßigen Besitzerin zukommen lassen wolle. Ungelesen, wie er mir versicherte. Kopfschüttelnd ließ ich mich mit meiner frisch aufgebrühten Tasse Kaffee an den Tisch nieder. Nachdenklich hielt ich das Büchlein in meiner Hand. Das Buch, das mir meine Schwester gestohlen hatte.
Schon fühlte ich wieder die alte Wut in mir aufsteigen. Ich war noch immer nicht fähig, Isabell ehrlichen Herzens zu mögen – bis heute nicht.
Kurz dachte ich an meine hübsche Schwester, in deren Schatten ich mein Leben lang stand. Alle liebten ihr schüchternes, zurückhaltendes Wesen und jeder mochte ihre unaufdringliche Art.
Sie war immer Papas Liebling und später, als Papa uns verließ und nie wieder auftauchte, war Mama sehr um Isabell bemüht. Die sanfte, stille Isabell, die liebe Isabell – die gute Schülerin, das perfekte Kind, so leise und bescheiden – bis zum Erbrechen liebenswert. Mich schüttelte fast das Grauen, als ich mich meiner tollen Schwester erinnerte. Dank ihr war ich immer nur das zweite Kind, reine Nebensache. Das konnte ich ihr nie verzeihen, sogar über ihren Tod hinaus nicht.
Leise seufzend nahm ich einen Schluck von der schwarzen Kaffeebrühe, bevor ich liebevoll mein altes Tagebuch aufschlug. Mit wackeliger Schrift hatte ich täglich einige Aufzeichnungen hinein gekritzelt.
Freitag, 9. Juni
Papa ist heute mit mir an den See gefahren. Das war toll. Ich habe dort Herbert aus meiner Klasse gesehen. Alle Mädchen finden ihn gut. Ich auch. Papa hat mit mir gealbert und gespielt. Ohne Isa ist es immer viel schöner mit Papa. Isa ist sowieso nur blöd......
Montag, 12. Juni
Mama hat mir heute den Hintern versohlt, weil ich alle Bonbons aus dem Schrank gemopst und aufgegessen habe. Sie war sehr böse auf mich. Papa hat nur gelacht. Isa hat geheult, weil sie keins abbekommen hat. Natürlich hat ihr Papa neue Bonbons gekauft. Er hat sie ihr heimlich abends ins Zimmer gebracht und gegeben. Sie hat sie vor mir versteckt, die blöde Gans......
Im Grunde genommen nur langweilige Ereignisse. Warum hatte Isa mir das Buch gestohlen? Ich konnte nichts finden, was für sie von Interesse gewesen wäre. Ich blätterte weiter, tauchte noch einmal in ein Stückchen meiner Kindheit ein.
Samstag, 10. Juli
Papa liebt Isa viel mehr als mich. Dafür hasse ich sie und Papa hasse ich auch. Immer darf sie alles. Ich darf nichts. Heute ist sie 14 geworden und Papa sagte immer „jetzt ist mein kleines Mädchen schon eine große Frau.“
Sie hat Blumen bekommen und Karten für ein Auftritt von Pepe Schlager, den sie so mag. Papa wollte abends mit ihr hingehen. Sie hat geheult wie eine Blöde. Sie will nicht mit Papa zum Konzert. Mama war total sauer auf Isa, weil die Karten doch teuer waren und weil sie Papa die ganze Freude verdorben hat. Mama hat ihr sogar eine gescheuert. Fand ich gut.
Papa hat gebrüllt und die Karten zerrissen und weggeschmissen. Ich wollte mit Papa gehen, aber Papa hat gesagt, was er immer sagt: "Margit, dafür bist du noch zu klein." Dabei bin ich schon zehn.
Sonntag, 11. Juli
Isa ist total doof.
Gestern Abend kam Papa noch ins Zimmer. Er hat sich bei Isa entschuldigt. Sie hat nichts zu Papa gesagt, obwohl er ganz lieb war. Ich habe getan, als wenn ich schlafe. Als Papa wieder ging, habe ich Isa zugeflüstert, dass sie total doof ist. Sie hat nur geheult.
Heute morgen ist sie ausgeflippt. Ich war nach dem Aufstehen zu Papa und Mama ins Bett gekrabbelt. Papa hat mit mir geschmust und „Ich bin ein Löwe und Fresse dich“ gespielt. Als Isa mich lachen hörte kam sie ins Schlafzimmer. Mama war schon in der Küche Frühstück machen.
Isa hat mich angeschrieen, weil ich bei Papa war. Sie kam ans Bett und versuchte mich aus dem Bett zu zerren. Ich habe geheult und mich an Papa geklammert, aber der hat nur gelacht. Mama kam und hat Isa eine gescheuert, weil sie so böse war. Dann hat sie uns beide aus dem Schlafzimmer geschickt. Ich habe Isa in den Haaren gezogen und sie hat wieder nach mir getreten.
Dann hat Papa Isa gerufen und bis Mama das Frühstück fertig hatte, durfte sie mit Papa kuscheln.
Ich habe geweint und Mama hat gesagt, Papa hätte mich auch lieb, aber das glaube ich nicht. Am liebsten würde ich weggehen. Mich hat keiner so richtig lieb. Außer Mama vielleicht.
Meine Schwester konnte es tatsächlich nicht ertragen, wenn Papa mir ein wenig Aufmerksamkeit schenkte. Sie stellte sich immer zwischen uns. Meine Güte, habe ich sie dafür gehasst. Seufzend blätterte ich weiter.
Montag, 12. Juli
Ich habe Papa heute gefragt, warum er mich nicht so lieb hat wie Isa. Er hat mich auf seinen Schoß gezogen und ganz fest gedrückt und gesagt, dass er mich schrecklich lieb hat. Dann hat er mir leise erzählt, das er mit Isa immer schöne Spiele spielt. Ich wollte auch mit Papa spielen und Papa sagte, wenn Mama mal nicht Zuhause ist, würde er mir die schönen Spiele zeigen.
Wenn ich auch schön mit Papa spiele, hat er Isa bestimmt nicht mehr so lieb. Dann hat er mich viel lieber. Papa wollte mir nichts verraten und ich darf auch nichts verraten.
Es folgte eine leere Seite, auf der sich die Miene eines Kugelschreibers durchdrückte, umseitig hatte jemand eine Eintragung vorgenommen. Es war keine Eintragung von mir, denn am nächsten Tag war mein Tagebuch verschwunden und mein Vater ebenfalls. Als ich den plötzlichen Fortgang meines Vaters weinend ins Tagebuch eintragen wollte, lag es nicht mehr unter meiner Matratze.
Mit zitternden Händen blätterte ich die Seite um. Der Dieb hatte mir eine Nachricht hinterlassen. Es war Isas Handschrift.
Liebe Margit,
oft habe ich mit dir reden wollen, aber keine Worte gefunden. Auch das Schreiben wollte mir nicht von der Hand. Vielleicht beschreibt mein Gedicht, was ich dir niemals sagen konnte. In Liebe – Isabell
Und darunter stand geschrieben:
Papa war der Kosename
Den ich täglich zu ihm sprach
Papa wurd’ das Wort für Angst
Als er mein Vertrauen brach
Papa waren leise Schritte
Vor der dunklen Zimmertür
Papa waren rauhe Hände
Weckten nichts als Scham in mir
Papa sind geraubte Jahre
Die mir niemand wiedergibt
Papa ist mein Seelengrab
Weil man Papa trotzdem liebt