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Tagebuch eines Toten
I:
Ich halte es nicht mehr aus. Ich bin leer und in mir ist nichts mehr. Was habe ich mit meiner Zeit angefangen? Ich habe alle verloren, die mir je wichtig waren. Ich habe auf niemanden anderen geachtet und mich nur um mich selbst gekümmert, bis sie sich einer nach dem anderen von mir abgewandt haben. Alle verloren und nichts bemerkt. Und jetzt bin ich so einsam wie nie zuvor. So einsam wie kein Mensch je sein sollte. Ich arbeite nur noch von Zuhause aus. Beim Einkaufen komme ich zwar noch unter Menschen, aber nur weil ich nicht allein bin, heißt das nicht, dass ich nicht einsam bin. Egal was ich mache, meine Gedanken sind in Dunkelheit getaucht und werden einfach nicht mehr klar. Musik im Ohr oder Menschen die reden, nehme ich kaum noch wahr. Ich bin gefangen in meiner eigenen Gedankenwelt und das Einzige, was mir immer wieder in den Sinn kommt, ist die Vorstellung von meinem rot glänzenden Blut, das aus meinen Armen tritt. Ich sehe es bildlich vor mir wie ich eine Rasierklinge nehme, an meinen Arm ansetze und mit einem kräftigem Ruck einen einfachen Schnitt reiße. Der Schmerz, der mir zeigt, dass ich noch am Leben bin. Und das Blut, wie es auf die sauberen Fliesen fällt. Rot auf weiß. Das Leben, das ich gerade noch spüre, wie es sich langsam auf dem Boden verteilt. Ich halte es nicht mehr aus. Und heute werde ich sehen, ob diese einzige Vorstellung, die ich noch habe, sich auch wirklich so anfühlt ...
II:
Gestern habe ich es getan. Ich nahm eine Rasierklinge und schnitt mir die Pulsader des linken Armes auf. Diesen Schmerz werde ich nie wieder vergessen. Es war kein befreiender Schmerz. Er war beängstigend. Wie gebannt starrte ich einige Sekunden auf das Blut, das aus mir herausfloss, bis ich es schließlich nicht mehr aushielt. Ich nahm mein T-Shirt, drückte es auf die Wunde und rief einen Krankenwagen.
Ich bin so ein Feigling! Ich habe nicht einmal den Mut meine Einsamkeit zu beenden. Jetzt liege ich noch mit einem vernähtem Arm im Krankenhaus. Ich habe die Sanitäter in der Notaufnahme über mich reden hören. Sie meinten, ich muss einen sehr starken Schutzengel haben, aber die haben doch keine Ahnung! Der einzige Engel den ich jemals hatte, hat mich schon längst verlassen. Das schönste Wesen, das ich jemals sehen durfte. Und es hat nichts außer Schmerz und Leere in mir hinterlassen. Warum muss ich das immer noch ertragen? Morgen darf ich zwar das Krankenhaus wieder verlassen, muss aber im Gegenzug zu einem Psychologen. Der kann mir aber auch nicht helfen. Niemand kann mir helfen.
III:
Drei Wochen sind inzwischen verstrichen. Ich bin wieder daheim, aber immer noch alleine. In der Wohnung gegenüber ist ein neues Arschloch eingezogen und ich hatte in der Zwischenzeit vier Gespräche mit Dr. White. Sie verliefen fast so wie ich es mir vorgestellt hatte. Er wollte von meinem bisherigen Leben hören. Wie mein Kontakt zu meinen Eltern und anderen Leuten ist, wie es mir geht und weiteres. Im Großen und Ganzen wollte er, dass ich all den Schmerz, den ich durchlebt habe, noch einmal erleben muss. Aber nicht mit mir. Ich werde ihn nicht mit meinen Leiden und Schmerzen unterhalten. Daraufhin hat er angefangen über die angeblich schönen Dinge im Leben zu reden. Während er versuchte, ein fröhliches Gespräch aufzubauen, konnte ich in seinen Augen immer wieder dieselbe Einsamkeit sehen, wie ich sie selbst fühle. Er redet sich diesen fröhlichen Mist auch nur ein, um die Illusion, er sei zufrieden mit seinem Leben, aufrecht zu erhalten. Ich hatte kurz überlegt, ihn zu fragen, ob er sich mit mir zusammen umbringen will. Dann würden wir zumindest nicht allein sterben und wir können uns auch gegenseitig den Mut geben, den wir dafür brauchen. Aber ich glaub nicht, dass er es durchziehen kann. Nein, er kann es nicht. Aber ich schon. Ich habe gestern eine schmerzfreie Vorgehensweise gefunden. Damit kann ich ihn zwar nicht erlösen, aber solange ich den Mut habe, mich zu erlösen reicht das aus. Ich musste zum Fädenziehen wieder ins Krankenhaus und da konnte ein Gespräch zwischen einer Patientin und einem Arzt belauschen, in dem der Arzt die Wirkung eines Medikaments beschrieb, das sie von ihm bekommen hatte. Es dient wohl dazu, dass man einen schnellen und ruhigen Schlaf bekommt. Aber bei einer zu großen Dosis, bleibt das Herz im Schlaf stehen. Ich weiß, dass es falsch war, der Frau ihr Medikament aus der Handtasche zu stehlen, aber ich bereue es nicht, denn ich benötige es mehr als sie. Morgen muss ich wieder zu Dr. White und anschließend werde ich mich für immer zur Ruhe legen ...
IV:
Warum überlässt man dem Menschen nicht selbst die Entscheidung, wann die Zeit gekommen ist zu gehen? Denn ich war bereit zu gehen und nahm eine Überdosis des Medikaments ein. Es wirkte sehr schnell, ich wurde müde und empfand seit langer Zeit mal wieder so etwas wie Zufriedenheit. "Ich lasse diese schreckliche Welt und all den Schmerz zurück.", dachte ich und glitt langsam davon.
Dann erwachte ich. Ich lag ein weiteres mal im Krankenhaus. Sie hatten mir den Magen ausgepumpt, nachdem mein neuer Nachbar mich durch das Fenster in meinem Wohnzimmer liegen sah, als er vorbei gekommen war, um sich vorzustellen.
Das ist jetzt zwei Tage her, aber ich verspüre keine Trauer darüber, dass ich nicht gestorben bin. Ich spüre auch keine Wut, keine Einsamkeit, keinen Hass oder Schmerz mehr. Ich fühle gar nichts mehr. Sie haben zwar meinen Körper wieder zurückgeholt aber innerlich bin ich trotzdem gestorben. Meine Gedanken sind nicht mehr in Dunkelheit gehüllt, aber ich sehne mich nach dem Licht. Ich bezweifle allerdings, dass sich dadurch mein Leben verbessert, denn man kann mich nicht mehr als lebendig bezeichnen.
Heute Abend darf ich das Krankenhaus wieder verlassen. Morgen will mich mein Chef mal wieder im Büro sehen und mit mir reden. Anschließend habe ich wieder einen Termin bei Dr. White.
V:
Ich bin gerade bei Dr. White. Er sitzt wie immer in seinem Sessel und ich auf seinem kleinem Sofa. Ich hatte ihm vorher dieses Buch gezeigt. Er war sehr froh darüber, dass er es lesen durfte und meinte zu mir, dass es gut sei, dass ich meine Gedanken unverfälscht niederschreibe. Dr. White wünscht, dass ich auch den heutigen Tag aufschreibe.
Mein Chef wollte mit mir über meine Selbstmordversuche reden. Er hatte mir versichert, dass sie mich nicht feuern werden, sondern hinter mir stehen und mir helfen wollen. Als ich ihn dann nach seiner Pistole vom Schützenverein gefragt habe, hat er gemeint, ich hätte ihn falsch verstanden. Er wolle mir helfen wieder gesund zu werden und würde es bevorzugen, wenn ich in Zukunft wieder im Büro und nicht von Zuhause arbeite. Ich stimmte ihm daraufhin zu und fragte ihn, ob er mir den Platz jetzt schon zeigen könne. Als er bejahte und sich von mir abwandte, um zur Tür zu gehen, trat ich ihm in den Rücken, nahm einen Stuhl hoch und schlug ihn damit ohnmächtig. Er wollte einfach nicht begreifen, dass ich nicht krank, sondern bereits tot bin. Ich nahm seinen Schlüssel an mich und ging zu ihm nach Hause. Dort brauchte ich einige Minuten, um seinen Waffenschrank zu finden. Ich nahm seine Pistole und die Munition an mich. Dann ging ich zu meinem Termin mit Dr. White, bei dem ich jetzt immer noch bin. Es war das erste Mal, dass ich unser Gespräch eröffnete. Ich gab ihm mein Buch und verlangte, dass er es las. Als er mit Lesen fertig war und mich wieder ansah, brachte ich den Mut für Dr. White auf. Inzwischen ist die Polizei eingetroffen, die von seiner Sekretärin gerufen wurde. Sie haben sich unten vor dem Haus aufgestellt und wollen, dass ich hier rauskomme. Aber das wird nicht passieren. Denn jetzt besitze ich den Mut, dass alles hier ein für allemal zu beenden.