Mitglied
- Beitritt
- 15.02.2003
- Beiträge
- 434
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Tage in Blau
Einer dieser blauen Tage, die Welt liegt hinter einer Schicht aus Milchglas, jemand hat die Kanten der Häuser rundgeschliffen, die Menschen reduziert auf schemenhafte Gesten und farbige Schatten.
Und sonst? Man wogt halt so dahin, im Takt der Kurven. Zehn Dioptrien schützen gegen den Ansturm der Bilder, wozu sich daran stören, man freut sich am ganz persönlichen Lichteinfall, am ganz individuellen Licht, in meinem Falle ausgesprochen weiches.
Nächste Haltestelle Calwer Straße.
Der Lautsprecher führt Monologe. Bitte während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen, bitte nicht sprechen, bitte.
Die Sonne schwebt über dem verwaschenen Horizont wie eine halbe Kupfermünze über einem Münzeinwurf. Die andere Hälfte wird verdeckt von einem Häuserblock, verwaschen wie der ganze Rest der Welt.
Die Kurzsichtigkeit hilft gegen das Lampenfieber, die Masse der Zuschauer verschwimmt zu einem hellen Brei mit dunklen Stellen hier und da, wo die Kameras und Kabelstränge sind, die mein Gesicht in die vorabendliche Welt ausstrahlen. Die Leute kennen mein Lächeln, meine Gesten, meine Art, die eingeblendeten Fragen vorzulesen. Von den extragroßen Buchstaben auf den Handkarten wissen sie nichts, ebenso wenig von der Angst, die mich befällt, sobald ich an die unzähligen Augenpaare denke, an die hässlichen Gesichter, an die stumpfen Blicke Hunderttausender, die sich an jeden meiner Schritte heften, jede Handbewegung registrieren, meine Lippen bei jedem Wort fixieren, als würden sie nur auf den Fehler warten. Es ist wie im Sumpf, man sieht zwar nur die Augen, aber man weiß, dass da Krokodile sind, unter den Augen, unterwasser.
Wagen hält. Alles andere bricht auseinander, die Lebenszyklen werden kürzer. Bei Gefahr Scheibe einschlagen, niemand zieht die Notbremse, dauert zu lang, die, die vorne sitzen, ziehen den Kürzeren, das geht schneller. Die Leute haben sich an mein Gesicht gewöhnt, mir kann nichts passieren, rein gar nichts.
Schwerer Unfall auf der Milchstraße. Der Himmel hat wieder mal zu spät gebremst, im Süden wurden Airbags ausgelöst, das sah aus wie Wolken aus dem Nichts, wenn man so will aus heiterem Himmel. Und dann noch etwas, die Engel werden gebeten, kurzfristig auf öffentliche Verkehrsmittel auszuweichen.
Die Räder knirschen, der Bus kommt zum Stehen, ein wenig sanfter als sonst. Die Türen gleiten auf, ein wenig leiser als sonst. Sonnenstrahlen auf dem dunklen Trittbrett, gemustert mit den bewegten Schatten irgendwelcher Blätter, Wind schwappt herein, ein wenig wärmer als sonst. Meine Finger tasten nach den Knöpfen meiner Jacke.
An ihrem Rücken hängen keine Flügel, aber sie ist schön, so wie alle schön sind in dieser meiner Unterwasserwelt, weil ich sie mir schöndenke, weil ich der Welt eine zehn Dioptrien dicke Schönheitsmaske verpasse, ob sie will oder nicht.
Der Boden unter meinen Füßen setzt sich ruckend wieder in Bewegung, wir poltern weiter durch die elefantenhafte Vorstadt, groß, grau und mittendrin winzige Augenpaare an den Fensterscheiben, und die Häuser ziehen am Fenster vorbei wie ein Film über arme Leute. Sperrmüll. Alle zwei Wochen gibt man den Häusern Gelegenheit, sich auf den Gehsteig zu erbrechen, eine tolle Sache.
Sie taumelt über den Mittelgang direkt auf mich zu, der Boden schaukelt wie auf hoher See, über die Wellen im Asphalt. Sie lächelt, glaube ich. Die Leute lächeln oft, wenn sie mich sehen. Auch ich lächle viel, und würde man mich nach meinem Erfolgsgeheimnis befragen, würde ich wiederum nur lächeln. Dieses Lächeln, das ist meine Bank.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sie immer noch lächelt, als sie sich auf den Sitz rechts von mir sinken lässt, sich zusammenrollt wie das Opfer einer Messerstecherei, direkt neben mir, obwohl da noch soviele andere freie Plätze sind. Von draußen dringen die Geräusche nur dumpf ins Innere des Busses, es klingt wie unter Wasser.
Hinter dem Plexiglas der Fensterscheibe kriechen Menschen zwischen beinamputierten Sesseln und rostigen elektrischen Geräten umher wie die vereinzelten Überlebenden einer Umweltkatastrophe. Irgendjemand beginnt leise zu summen, einige Sitzreihen weiter hinten. Das Wagen-hält-Schild erlischt, wir fahren ohne zu halten, kleine grüne Lichter fliegen rasch vorbei wie Glühwürmchen auf der Flucht.
Da türmen sich Sofas und Kleiderschränke und Bügelbretter wie die armseligen Opfergaben an eine anspruchslose Gottheit. Und an den Fenstern kleben die zweidimensionalen Gesichter der Menschen, man wartet auf die große Flut, die all die Sofas und Schränke und Bügelbretter fortschafft. Aber die Flut bleibt aus, nur die Obdachlosen schwärmen wie die Spatzen aus, eine traurige Armee, bewaffnet mit leeren Tüten.
Bitte hinten aussteigen. Wer ohne Erinnerung fährt, betrügt all diejenigen, die eine gekauft haben. Ich habe Probleme, die Schilder zu lesen, Buchstaben lassen sich nicht fühlen. Ein Lächeln spürt man in den meisten Fällen. Ich wende leicht den Kopf und betrachte sie genauer, ihren Mund mit dem Lächeln, ein breites Lächeln, die Mundwinkel gerade noch in Rufweite voneinander entfernt, der linke seltsam starr, die Haut glasartig, die Augen auf die Straße weiter vorn gerichtet, grün, soweit ich es erkennen kann, wie Moos.
Sie schaut auf die Straße, als wüsste sie von dem Ballon, der im nächsten Moment über die Straße geweht wird, ein roter Fleck im allgemeinen Grau, gefolgt von einem größeren, blauen Fleck, ein weiterer Luftballon, oder auch ein Kind, das dem ersten nachrennt. Der Bus weicht aus, ich werde ans Fenster gedrückt, ihre Schulter streift meinen Arm, warm, zufällig, trotzdem entschuldigt sie sich, weiterhin lächelnd, als hätte sie den Luftballon auf die Straße geworfen. Sie sieht mich an und blinzelt, einmal, zweimal, und schließlich fragt sie stockend, ob ich der aus dem Fernsehen sei. Meine Antwort ist das Lächeln, das im Grunde jeder kennt. Es ist seltsam, sage ich, ohne mein Lächeln erkennen mich die Leute auf der Straße nicht, um dann scherzhaft hinzufügen: Am liebsten würde ich es versichern lassen. Auf einmal senkt sie den Blick, ihr Kopf plumpst auf die Brust wie eine überreife Frucht, ihr Gesicht ist ein verschwommener heller Fleck, ich warte, was passiert.
Schließlich bittet sie, immer noch zu Boden blickend, nach einer Pause, so lang wie ein Geständnis und so tief wie ein Schlupfloch, um ein Autogramm.
Moment, sage ich, ohne Brille bin ich ein halber Blinder, mit Brille ein ganzer. Halbblind, wiederholt sie, während ich nach meiner Brille taste. Macht doch nichts, lächelt sie, niemand ist perfekt.
Ja, vielleicht stimmt das, lache ich, setze meine Brille auf und höre auf zu lachen. Das da in ihrem Gesicht ist kein Lächeln. Seltsam starr, merkwürdig verzerrt, hart wie ein kubistisches Potrait starrt sie mir entgegen. Die Proportionen stimmen nicht, ihr Mund ist viel zu breit, der linke Mundwinkel deplaziert, verloren auf der grotesk vergrößerten weißen Wange. Ich versuche, die Erinnerungen zu unterdrücken, an Schauermärchen, Jungfrauen mit gelähmten Gesichtern, zu Fratzen erstarrt, der böse Blick, Medusa und der Basilisk.
Für meine Tochter, sagt sie schüchtern, das Autogramm ist für meine Tochter, nicht für mich. Ach so, sage ich und versuche mir die Tochter vorzustellen, es will mir nicht gelingen.
Und einen Mann hat sie sicher auch, irgendeinen Zyniker, einen Poeten, der viel verreist und ihr hingeschluderte Postkarten schickt: Die Landschaft ist hier. Schade, dass du nicht wunderschön bist.
Ohne noch einmal aufzublicken, kritzle ich das Autogramm auf die Rückseite eines Kassenzettels, dann stehe ich auf und murmele, dass ich nun raus müsste. Sie rührt sich nicht, starrt durch das Autogramm in ihrer Hand auf etwas, das noch tiefer als der Boden liegen muss. Obwohl ich gar nicht mehr hinhöre, sondern nur noch ungeduldig darauf warte, dass sie endlich aufsteht, bekomme ich ihre Entschuldigungen mit. Immer wieder entschuldigt sie sich, selbst noch, als ich bereits im Gang stehe und darauf warte, dass sich die Türen zischend in Bewegung setzen. Und dann, als wäre das jetzt noch wichtig, als ergäbe das irgendeinen Sinn, schießen mir die Worte durch den Kopf, schnell und kalt wie Kugeln: Ich hätte es doch versichern lassen sollen, ich hätte mein Lächeln doch versichern lassen sollen.
An Werktagen ab 21 Uhr bitte beim Fahrer aussteigen, bitte aussteigen, bitte.
Die Türen schwingen auf wie Flügel, kalte Luft weht mir entgegen, von Osten schwappt das Blau herein, die Dämmerung überflutet den Himmel, Blaulicht, Flutlicht, die Brille schützt meine Augen vor dem Wind, aber auch nicht mehr.