Tage der Unendlichkeit
Jetzt saß er in dem Raumschiff, festgeschnallt in dem Kommandosessel. Die Aussichtskuppel über ihm und das Panoramafenster zu seiner Rechten zeigten Teile der Erde. Seine Gedanken kehrten in dieser Einsamkeit dreißig Jahre zurück: "Ich kann mir das nicht vorstellen: Unendlichkeit ... - Was soll das sein?", hatte er seinen Lehrer gefragt.
"Stell dir vor, dass du unsterblich bist und ein Raumschiff hast, das mit Lichtgeschwindigkeit fliegt. Und dann fliegst du damit Jahrtausende durch das All ... Ohne Kursänderung Immer geradeaus ... Und du wirst nie ein Ende finden ..."
Fjodor wollte das nicht glauben. Für ihn war die Unendlichkeit des Universums eine Notlüge der Menschen, die der Wahrheit aus dem Wege gingen. Sie standen vor einem Phänomen, das sie nicht begreifen konnten. Sie stießen auf Fragen: "Wie entstanden unsere Welten", "Was ist hinter dem Universum?". Fragen, auf die sie keine Antwort wussten. Und so ließen sie sich Antworten einfallen. - Es musste etwas respektvolles, etwas angsteinflößendes sein, das keine weiteren Fragen zuließ.
In früheren Zeiten glaubte man, die Erde sei eine Scheibe und höre irgendwo auf. Mitten im Meer sollte ein unendlich tiefer Abgrund sein, und Schiffe, die zu weit vorstießen, wurden von ihm verschlungen, kehrten nie wieder zurück. Damals war jeder Wissenschaftler von dieser Theorie überzeugt. Kein ernstzunehmender Mensch wagte es, etwas anderes zu glauben, geschweige denn eine andere Theorie offen auszusprechen. Man hätte ihn für verrückt erklärt, ihn in dem Kerker geworfen. Auf ähnliche Vorbehalte stieß Fjodor, wenn er in späteren Jahren von seiner Theorie erzählte:
"Das All ist wahrscheinlich nicht unendlich. Wir stehen hier vor einem Rätsel, das wir noch nicht lösen können; vor einem Phänomen, das unsere Vorstellungskraft übersteigt. Wir haben Angst, den nächsten Schritt zu tun, weil die Suche dann wieder von vorne beginnt. Wir haben Angst, weil wir dann wieder vor einer neuen Situation stehen, neue Fragen aufwerfen. Weil wir unsere Schulbücher, unser Denken und unseren Geist grundlegend ändern müssten. Also beharren wir auf unserem Standpunkt, sagen einfach `Das Universum ist unendlich', belassen es dabei, und genießen weiter unsere Ruhe. Ich glaube nicht daran.
Das Universum ist nicht unendlich, sondern dahinter liegt etwas, das wir in unserem jetzigen geistigen Zustand, in unserer heutigen Entwicklungsphase nicht verstehen können. Vielleicht sind wir Teil eines Experimentes irgendwelcher `Überwesen'; vielleicht liegen wir nur so einem Wesen in seiner unermesslichen Größe zu Füßen, sehen einen Teil von ihm und sagen in unserer überheblichen Winzigkeit: `Das ist das All. Das ist unendlich'. Und in unserem Größenwahn glauben wir, uns jetzt schon ein Urteil bilden zu können, obwohl wir doch nur einen Bruchteil erkennen können.
Wahrheiten sind wandelbar: Politische, physikalische, chemische, biologische Wahrheiten des menschlichen Geistes sind im steten Wandel. Doch wir haben immer Angst, eine neue Wahrheit zu finden. Wir haben Angst, all unsere alten Theorien über den Haufen werfen zu müssen, um dann festzustellen, dass wir nicht die Krone der Schöpfung sind. Wir sind ein Minimum! Ein Nichts! Ein Staubkorn! - Unsere Erde ein Atom im Universum, das irgendjemand zu irgendwelchen Zwecken dient.
Ich glaube, dass andere diese Wahrheit bereits erfahren haben: Einige Philosophen, Wissenschaftler, vielleicht auch religiöse Leute. Es gibt genügend Beispiele für derartige Menschen, die plötzlich starben oder verrückt wurden. Sie erfuhren die Wahrheit, aber ihr Gehirn war noch nicht reif genug. Sie waren intelligent, doch nicht genug, um die Wahrheit zu verkraften."
Fjodor wollte sich nicht anmaßen, die gleichen hervorragenden geistigen Fähigkeiten zu haben wie diese. Aber er vertraute eben nicht der alten Wahrheit. Er glaubte zu fühlen, dass die Zeit für den nächsten Schritt gekommen sei. Und er hatte die Hoffnung, es all jenen Besserwissern zu zeigen: Er wollte diese neue Periode in der Geschichte der Menschheit noch miterleben.
Es summte und kurz darauf riss ihn die Stimme des Funkleutnants - weit entfernt sitzend in der Kommandozentrale der Erde - aus seinen Gedankengängen:
"Focus an Soyus D 4. Bitte melden", rief die leicht verzerrte Stimme.
Er reckte sich kurz, als wäre er gerade wach geworden, beugte sich zu den Armaturen hinüber, schaltete das Mikro ein, welches er bereits die ganze Zeit über, kombiniert mit einem leichten Kopfhörer, trug. "D 4. Was kann ich für euch tun?"
"Du kannst uns mal sagen, was du da oben herausgefunden hast. - Und wie es sonst dort aussieht."
"Wie soll es hier schon aussehen? Steril wie eine Klinik mit Spezialbetten. Oder besser ausgedrückt: Wie eine Mischung aus Klinik und Bestattungsraum."
"Und die Erde? Wie sieht sie aus?"
Der Funkleutnant war ein junger Mann um die zwanzig, der die Erde noch nie verlassen hatte. Die Ergebnisse der medizinischen Prüfungen hatten seinen Traum einer Raumfahrerkarriere frühzeitig scheitern lassen und so musste er sich mit den Berichten über Funk begnügen. Fjodor schaute nach oben zur Aussichtskuppel und löste gleichzeitig die Gurte. Mit einem kleinen Schlag auf die Lehne stieß er sich ab; schwebte mit einer Umdrehung um sich selbst und einem Kribbeln in der Magengegend hinauf zur Kuppel und hielt sich an einem Griff fest. Und da schwebte er vor ihm: Sein Mutterplanet. - Eine blau-weiß schimmernde Perle; ein ewiger Kreislauf; ein gigantisches Massengrab und eine ebenso große Gebärmaschine; ein Millionen Jahre altes Rätsel; ein ewiges Schlachtfeld, auf dem in wenigen Wochen wahrscheinlich eine der letzten Schlachten ihr Ende finden würde. Aber er sagte nicht, was er dachte. Er setzte seine emotionslose Maske auf, weil er nicht genau wusste, ob man ihn auf der Erde über die Kameras beobachtete: "Normal", sagte er in das Mikrophon. "Ganz normal. Über Skandinavien bis runter nach Mitteleuropa ein einziges Wolkenfeld. Sind die letzten Aufklärungsbilder inzwischen durchgekommen?"
"Zum Teil. Die Störsender haben einiges vernichtet."
"Und wie sieht es mit meiner Rückkehr aus?", fragte er. Seit dreizehn Wochen befand er sich im Orbit; alleine in diesem Raumschiff, das ursprünglich für sechs Besatzungsmitglieder gebaut worden war. Es war kein Wunder, nach so langer Zeit im Nichts verrückte Ideen zu bekommen. Dreizehn Wochen nur Stimmen über Funk zu hören, nur Menschen auf Bildschirmen zu sehen, niemanden zu spüren, Emotionen zu unterdrücken, Selbstgespräche und Gedankengänge nur im Kopf wiederhallen zu lassen, keine Privatsphäre mehr zu kennen, keine Gemütlichkeit zu spüren, kein nichtdienstliches Gespräch zu führen sondern sich während der dienstfreien Zeit von Musikbändern und Videokassetten berieseln zu lassen. Das alles zerrte an seinen Nerven und machte ihn mehr und mehr zum grübelnden Einsiedler, der in seinen Gedankengängen die Freiheit und die Abwechslung suchte.
Er hatte angefangen, den Krieg auf der Erde und dieses Raumschiff zu hassen. Bereits der Hinflug - noch vor dem ersten Einsetzen der Alarmierungssirenen - hatte seinem Begleiter das Leben gekostet: Durch einen Materialfehler riss sein Raumanzug während einer Außenkontrolle auf, er verlor Sauerstoff, der Körper des Raumfahrers quoll innerhalb Sekunden auf, blähte auf, platzte... Von Zeit zu Zeit sah er noch in seinen Träumen den Anzug mit den Überresten seines Raumkameraden im All schweben, ähnlich einer ungelenkigen, leblosen Stoffpuppe. Eine tote Hülle, mehr nicht.
Später hatte er an die Sojus, die von den Instandsetzungsmannschaften bereits verlassen war, angedockt. Es sollte die erste interstellare Reise der Menschheit werden: Sechs Menschen ohne Zukunft auf der Erde, ohne Freunde und Verwandten. Sechs Menschen, die nichts zurückließen, das es lohnen würde, innerhalb der nächsten fünfzig Jahre zurückzukehren. Sechs Menschen in ihren Kälteblocks mit minimalen Lebensfunktionen und ohne jegliches Zeitgefühl auf einer langen Reise. Sechs Menschen, ein kleines Stück näher an den Rand der Unendlichkeit, ein weiterer "großer Schritt für die Menschheit", wie es jener Mann ausgedrückt hatte, der als erster Mensch den Mond betrat.
Und dann, noch bevor die restlichen fünf Raumkameraden zur Sojus starten konnten, begann weit unter ihm dieser unerbittliche dritte Krieg. Das Raumfahrtzentrum wurde größtenteils mit konventionellen Waffen zerstört - noch war es zu keinem Einsatz von atomaren Waffen gekommen- und vorläufig gab es für ihn weder eine Rückkehr noch die Hoffnung, dass sich die Besatzung vervollständigen konnte.
"Das unendliche Unternehmen" nannten es unten einige Zeitungen lakonisch. - Wenn auch nur in kleinen Zwischenberichten, denn die Schlagzeilen handelten inzwischen nur noch von gewonnen oder verlorenen Schlachten. Ein Unglücksflug, und er alleine saß hier oben; das Raumschiff umfunktioniert zu einen unwichtigen militärischen Beobachtungsposten, welcher von den Amerikanern nicht angegriffen und zerstört wurde, da es ursprünglich als Gemeinschaftsprojekt geplant war. Und so wartete er und wartete und wartete.....
"Wie sieht es mit meiner Rückkehr aus?", wiederholte er seine Frage.
"Nichts Neues", kam nun die Antwort aus dem Zentrum. "Nach wie vor sind die Mittel für Raumforschung auf ein Minimum reduziert. Und so lange für dich keine Gefahr besteht, wird sich hier auch keiner die Mühe machen, einige Milliarden Rubel für deine Rückkehr auszugeben. Man hofft immer noch darauf, das Projekt durchführen zu können. Du kennst sie doch."
"Ich habe keine Lust, hier oben mein Lebensende zu verbringen!", schimpfte er. Aber es war nicht ernst gemeint: Seine Stimme überschlug sich etwas, aber man merkte, dass es ein kontrolliert-ärgerlicher Tonfall war.
"Leg dich doch hin", empfahl der andere. "Wir haben es dir doch mehrere Male angeboten: Du lässt dich in Tiefschlaf versetzen, alterst nur noch minimal und wir wecken dich, wenn hier alles wieder unter Kontrolle ist."
Fjodor schüttelte den Kopf, so dass sein Kopfhörer leicht verrutschte und er ihn wieder gerade rücken musste. Dann sah er wieder hinauf zur Kuppel und betrachtete die Erde über sich, als könne er dort seinen Gesprächspartner erkennen: "Nein. Auf keinen Fall. Ich will wissen, was bei euch passiert."
Der Gedanke versetzte ihn in panische Angst: Einzuschlafen und abgeschossen zu werden. Oder wach zu werden und kein Leben auf der Erde vorzufinden.
"Ich versteh dich nicht. Genausowenig wie die anderen dich verstehen. Von uns allen bist du doch am sichersten aufgehoben... Du hast sogar die Möglichkeit, einen Krieg zu überleben, der sich über Jahrhunderte hinziehen kann."
"Lassen wir das", unterbrach Fjodor. Er wollte nicht darüber sprechen; konnte das auch gar nicht, weil er sich selbst nicht im Klaren war. "Es ist Zeit, schlafen zu gehen. Ich fühle mich irgendwie müde." "Du hast dein heutiges Trainingsprogramm noch nicht erledigt", erwiderte der Funkleutnant. "Also raff dich auf, alter Junge."
Er schwebte in den Aufenthaltsraum hinüber. Sein Zeitgefühl war ihm längst verlorengegangen, aber die Erde wachte über ihn: Eine immer wiederkehrende Prozedur im 24-Stunden-Rhythmus sowie die Regulierung der Beleuchtungsstärke schuf einen künstlichen Tag nach dem anderen; erinnerte seinen Körper und den langsam ermattenden Geist an alte Gewohnheiten, die man hier oben zu leicht vergaß...
Und so vollbrachte er seine Sport-Trainingsstunde zur Aufrechterhaltung seiner Muskulatur und zur Kreislaufstabilisierung, schwebte später hinüber in seinen an der Decke hängendem Schlafsack, gurtete sich an und schlief innerhalb weniger Minuten ein. Er träumte von der Unendlichkeit... Von einer unübersehbaren, schwarzen Masse, in der er schwamm und einen Anhaltspunkt suchte...
"Siebenuhrdreißig", weckte ihn der Computer, anscheinend bemüht, einen freundlichen Klang hervorzubringen. "Zeit zum aufstehen."
Fjodor blieb liegen, wenn man dieses Schlafen im schwebenden Zustand zwischen Decke und Boden so bezeichnen kann. Es war das erste mal, dass er während der Wochen auf dem Raumschiff nicht sofort gehorchte und seinen Pflichten nachkam, sondern einfach die Augen öffnete, vor sich hinstarrte und in diesem Zustand verharrte.
"Siebenuhrfünfunddreißig!" sagte der Bordcomputer. Seine Stimme schien bereits weniger freundlich, eher etwas bestimmter zu sein. "Es wird Zeit."
Er reagierte immer noch nicht. Vierzig Minuten nach Sieben Uhr begann der Computer einen schrillen Ton in den Raum zu werfen; um 07.45 Uhr wurde automatisch die Erdzentrale informiert. Kurz darauf drang wieder die Stimme des Funkleutnants aus den Lautsprechern und der Bildschirm leuchtete auf: "Was ist, Fjodor? Keine Lust heute? Oder fühlst du dich nicht wohl?"
"Ich weiß nicht", antwortete er. "Ich habe schlecht geträumt."
Er löste die Gurte, machte eine unbeholfene Bewegung, schwebte zur Decke hinauf und schlug mit dem Rücken an. Mit einem leisen Fluch begann der normale Tagesablauf: Überprüfung der Umlaufbahn, danach das Routinechecken, später frühstücken
Irgendwann in einer Freistunde keimte ein Gedanke in ihm auf: Er saß im Aufenthaltsraum und spielte Schach mit dem Bordcomputer, der nicht ständig mit dem Erde-Raumschiff-Rechengehirn verbunden war. Das bedeutete, dass die Kontrollstation auf der Erde keine Möglichkeit hatte, seine Computereingaben zu überprüfen oder nachzuvollziehen. Anfangs war es nur ein einziger, kleiner Gedankengang: Was wäre wenn...? Dann nahm der Gedanke Form an; wucherte in seinem Hirn, breitete sich immer mehr aus, und plötzlich löschte er das Schachprogramm und rechnete eine Flugbahn aus, die ihn in gerader Linie ohne Kollisionskurs weg von der Erde und hinaus in die Schwärze bringen würde: Ohne ein besonderes Ziel, nur weit, weit weg. Ein Kurs, der ihn nach seinem derzeitigen Wissen und den Eingaben der Computer über eintausend Jahre hinweg ohne Schwierigkeiten hinausbringen würde, während er die ganze Zeit in der Kältekammer liegend und ohne Zeitgefühl verbrachte. Eintausend Jahre Schlaf; eintausend Jahre näher an die Grenze der Unendlichkeit. Und immer mehr breitete sich dieser Gedanke in ihm aus, fraß sich auch die nächsten Tage in seinem Kopf fest, wie Rost ein Stück Eisen in einem feuchten Raum auffrisst.
"Fjodor", rief ein Funkleutnant an einem Morgen der fünfzehnten Woche. "Fjodor, bei dir da oben stimmt etwas nicht. Unseren Checks nach muss heute Nacht die Fernsteuerung deines Schiffs ausgefallen sein. Wir haben zur Zeit keine Kurskorrekturmöglichkeit. Eine geringe Abweichung deiner Umlaufbahn hat sich bereits ergeben. Du musst also erst von Hand die Umlaufbahn korrigieren und dann mit der Lokalisierung der Fehlerquelle beginnen. Eine Angabe der Störungsquelle ist uns zur Zeit noch nicht möglich, da auch bei deinen Kontrollübertragungen etwas nicht stimmt. Verstanden?"
"Verstanden", antwortete Fjodor. "Ich werde versuchen, die Fehlerquelle zu lokalisieren."
Er hatte die halbe Nacht daran gearbeitet; zu einer Zeit, in der nur die Notbesetzung der Erd-Kontrollstation Dienst hatte und er mit aller Wahrscheinlichkeit nicht über die Bildschirme beobachtet wurde. Er hatte das System mit einem Trick überlistet, indem er einige normale Kabelführungen unterbrochen hatte. - Jeweils so, dass die Kontrollinstrumente für die betreffenden Armaturen, Leitungen und Systeme ebenfalls nicht mehr funktionierten. Somit konnte die Fehlerquelle von der Erde aus nicht mehr festgestellt oder gar behoben werden. Das Schiff befand sich in seiner Gewalt. Trotzdem verbrachte er die meisten Stunden des folgenden Tages so, als würde er die Fehlerquelle suchen. Vergeblich, selbstverständlich, und so war die abendliche Meldung negativ und er vertröstete die Erde auf den nächsten Tag.
In dieser Nacht sorgte er für den Ausfall der Fernsehkameras und der Funkverbindung: Er brach die Senderelais heraus, weil er sie ohnehin nicht mehr benötigen würde, programmierte den Navigationscomputer auf den neu errechneten Kurs, tat einen letzten "Rundgang" durch das Schiff und legte sich schlafen. Nicht wie gewöhnlich in seinen Schlafsack, sondern in eine der Schlafboxen. Und als sich mit einem leisen Surren der Deckel über ihm hermetisch schloss und er langsam spürte, wie er müder und müder wurde und seine einzelnen Gliedmaßen abstarben, wusste er, dass es kein Zurück mehr gab. Seine Gedanken und Körperfunktionen wurden langsamer, er fror plötzlich, wollte sich noch einmal bewegen, als zwei Sicherheitsgurte über ihn glitten und ihn auf das Lager schnallten... Aber bevor er diesen Vorgang zu Ende beobachten konnte, war er klinisch gesehen bereits fast tot.
*
Die Prozedur der Wiederherstellung seiner Körperfunktionen zog sich über mehrere Stunden hinweg, wurde jedoch von ihm kaum wahrgenommen. Er registrierte nach ungefähr dreizehn Stunden im Unterbewusstsein, dass diese vollkommene Schwärze vor seinen Augenlidern sich langsam auflöste und einem verschwommenen, bunten Farb- und Lichtgewirr Platz machte. Ungefähr drei Stunden später keimte der erste Gedanke in ihm, der bald darauf in ungeordneten Gedankengängen verloren ging.
"Ich werde wach", registrierte er irgendwann. "Wie lange? Habe ich geschlafen? Habe ich tatsächlich geschlafen? Oder nur für eine Sekunde meine Augen geschlossen? Hat es funktioniert? Wie lange? Eine Stunde? Tausend Jahre?..."
Weitere drei Stunden später begann er zum ersten Male seit über einhundert Jahren seinen Körper zu spüren: Anfangs sagte ihm nur ein kleines Kribbeln in den Fingerspitzen und in den Fußzehen, dass noch andere Dinge existierten als seine Gedanken und dieses pulsierende Licht hinter geschlossenen Augen. Irgendwann später - ein Zeitgefühl hatte er immer noch nicht, aber in dieser Verdammnis des Nichts-Machen-Könnens wurden Sekundenbruchteile zu Jahren - schien er nachträglich die verschlafene Zeit zu erleben. Noch später bemerkte er das erste Zucken der Muskeln. Die Beleuchtung war längst auf Nachtstellung reguliert, als er das erste Mal seine Finger wieder bewegen konnte.
Fjodor atmete erleichtert auf, als der Deckel sich automatisch hob und die Gurte gelöst wurden. Er konnte es nicht erwarten zu erfahren, wie lange der Start zurücklag und wo er sich jetzt befand. Noch geschwächt stieß er sich leicht ab, schwebte aus der Box und sein erster Blick fiel auf die Aussichtskuppel: Er sah vereinzelt Sterne nur als kleine Lichtpunkte, konnte aber die Konstellation nicht erkennen. Um ihn herum befand sich nichts. Seinen Standort würde er später bestimmen. Jetzt interessierte ihn nur eins: Wie lange? Wie lange hatte er in dem Dämmerzustand zwischen tot und nichttotsein, zwischen leben und nichtleben verbracht? Er schwebte hinüber zu den Armaturen und die Digitalskala beantwortete seine Frage mit grünen Leuchtziffern: "0109". Einhundertneun Jahre. Eine nüchterne Zahl für eine derartige persönliche Veränderung, wie er sie mitgemacht hatte. Trotzdem: Er hatte mit einer längeren Zeitspanne gerechnet. Der Computer hatte ihn vorzeitig geweckt, also musste etwas Unvorhergesehenes passiert sein. Plötzlich erfasste ihn ein leichter Schwindel, als sein Geist sich die Veränderung vorstellte, die für ihn durch diese einhundertneun Jahre Schlaf entstanden waren: Er war jetzt einhundertvierundfünfzig Jahre alt, somit einer der ältesten Vertreter seines Volkes. Aber er besaß noch die Vitalität, das Aussehen und die Fähigkeiten eines knapp vierzigjährigen. Von allen Menschen, die er jemals kennengelernt hatte, lebte jetzt wahrscheinlich kein einziger mehr: Entweder hatten sie ihren Anteil an dem Krieg mit ihrem Leben bezahlt, oder der normale Lauf der Zeit hatte sie, ihre Gedanken, Wünsche und Ziele ausgelöscht. Hatte die Erinnerungen an sie verblassen lassen, so dass zum Schluss nichts mehr blieb, als eine Eintragung im Register:
"X Sowieso, geboren am..., verstorben am..." Einhundertneun Jahre!
Einhundertneun Jahre!
Alle tot: Seine wenigen Verwandten, Kameraden, seine Freunde, Bekannte, Mitarbeiter, Vorgesetzte ... Der Krieg auf der Erde musste schon ein Ende gefunden haben, wahrscheinlich hatte es schon längst wieder neue Schlachten gegeben. Die Räder der Zeit hatten sich weitergedreht: Die Kleinen und die Großen, Schicksale von Menschen, Völkern, Nationen, Rassen ... Nur sein Rad hatte stillgestanden; nur er war vorübergehend zurückgekehrt in den zeitlosen Schoß des Mutterlaichs Universum. Und alle Ereignisse waren - ohne Ergebnisse zu hinterlassen - an ihm vorbeigezogen. Er war alleine. Er gehörte nicht mehr zur Erde; sein Raumschiff war ein eigener, neuer Planet geworden. War sein Lebensraum bis an sein Ende. Wie sah es jetzt wohl dort unten aus? Wer regierte? Welche Staatsform hatte sich durchgesetzt? Wer hatte den Krieg gewonnen? Was war aus seinen Kameraden geworden? Und aus Christina?
- Da waren plötzlich hunderte von Gedanken, die verwirrt durch seinen Kopf jagten. Kleinigkeiten, teilweise, aber auch Gedanken über Dinge, die - jedenfalls zu seiner Zeit auf der Erde - alle bewegten. Als er plötzlich die Stimme hinter sich hörte, zuckte er erschrocken zusammen:
"Guten Morgen, Fjodor."
Er drehte sich langsam und vorsichtig um, begriff aber noch in der Bewegung, dass es sich um den Computer handelte.
Ein seltsamer Gesprächspartner, dachte er. Nach so langer Zeit von einem Computer begrüßt zu werden. Und ein seltsamer Gedanke, dass dies für den Rest seines Lebens sein einziger Gesprächspartner sein würde. "Ich hoffe, es geht dir gut? Alles in Ordnung?"
"Danke. Ganz gut. Ich bin nur etwas verwirrt..."
Er spürte, dass er über einen langen Zeitraum hinweg geschwiegen hatte: Die Zunge hing mehr oder weniger lose im Mund und fühlte sich dick und trocken-pelzig an; sein Sprechen glich mehr dem unkontrollierten Lallen eines Kindes, welches gerade das Formen von Worten gelernt hatte.
"Warum bin ich geweckt worden?"
"Einige Kleinigkeiten. Mit dem Schiff stimmt etwas nicht. Normaler Materialverschleiß in einigen Teilen, vermute ich. Eine Lötstelle im Bereich DV römisch zwei hat sich gelöst. Und zwei Reflektorplatten sind übermäßig stark beschädigt. Ich schlage eine Auswechslung vor..."
"Gut", lallte Fjodor. "Danke. Weitere Konversation unerwünscht."
Er hielt diesen programmierten Tonfall für geschmacklos; konnte ihn nicht mehr länger ertragen. Zudem störte der Computer seine Gedankengänge.
Fjodor sah noch einmal hinaus und fühlte sich so einsam wie nie zuvor in seinem Leben. Seine Gedanken verloren sich in der dunklen Tiefe des Alls, faszinierten ihn und diese Faszination verdrängte nach wenigen Minuten die Leere. Er schüttelte den Kopf, als wollte er sich mit dieser Bewegung von dem beklemmenden Gefühl endgültig befreien. Als wollte er es mit einer heftigen Kopfbewegung hinaus und möglichst weit wegschleudern. Die Gedanken über die Nachteile seiner derzeitigen Situation verflogen, er konnte nun die Vorteile erkennen: Hier vor ihm - kaum noch sichtbar und in weiter Entfernung - waren seine wahren Freunde. Hierfür war er geboren. Um dies zu sehen, zu spüren Er war Teil des Universums geworden; war Teil der Umlaufbahnen; er war der erste lebende, künstliche Planet. Den größten, schwierigsten Schritt in Richtung seines Lebenszieles hatte er bereits hinter sich gebracht; den schwierigsten Wegabschnitt war er gegangen. Alles andere war nur eine normale Folgereaktion auf diesen ersten Schritt vor über einhundert Jahren. Nein, er bereute auch jetzt im Nachhinein nicht eine seiner Entscheidungen. - Insbesondere, dass er keine feste Bindung auf der Erde eingegangen war:
"Gefühle lassen sich nicht im Voraus bestimmen", hatte er seiner letzten Freundin gesagt. Es musste wohl ungefähr drei Wochen vor seiner Anmeldung zu diesem Projekt gewesen sein. Drei Wochen vor diesem Projekt, das nun so ganz anders ausfiel als geplant. Sie saßen damals in einem jener Einkaufszentren von gigantischen Ausmaßen, in denen es wie in einem Ameisenhaufen zuging: Tausende Menschen waren auf den Beinen, rannten von Etage zur Etage, von Geschäft zu Geschäft oder von einem Kino in die nächste Spielhalle, um Roboterkämpfe ohne Gefahr zu überleben. Und sie saßen inmitten dieser geordneten Unordnung an einem kleinen Tisch und tranken irgendein neues Getränk zum Einführungspreis. Schon damals spielte er mit dem Gedanken, an dem Raumfahrtprojekt teilzunehmen. Schon damals, Jahre vor dem Start, spürte er, dass er seine eingefahrenen Bahnen verlassen und die Initiative ergreifen musste.
"Wie soll ich wissen, ob ich dich in fünfzig Jahren noch liebe? Du wirst dich bis dahin verändern, wirst ein ganz anderer Mensch sein. Warum heiraten, wenn ich JETZT noch nicht weiß, ob du SPÄTER noch dieselbe bist? Und ob ich dich dann noch lieben kann? Auch ich werde nicht mehr der sein, der ich heute bin. Alles, beginnend mit dieser Sekunde, wird neu sein, wird mich verändern, formen... Morgen bin ich schon ein anderer als jetzt, und da willst du in diesem Moment schon wissen, dass du den Mann von Übermorgen liebst? Das hieße doch, jemanden die Liebe auszusprechen, dem man noch nie begegnet ist!"
Sie wollte etwas erwidern, er jedoch ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen:
"Vielleicht bin ich schon in fünf Jahren ein seelisches oder körperliches Wrack? Vielleicht bin ich bis dahin ein Säufer? Vielleicht werde ich gewalttätig? Oder süchtig? Vielleicht werde ich immer wieder fremdgehen? Vielleicht werde ich impotent? Oder arrogant?! Verlogen! Hinterhältig! Unausstehlich! Es gibt unzählige negative Möglichkeiten der Entwicklung und nur wenige positive! Und da willst du dich heute schon entscheiden können? Und da willst du heute schon vor Gott, wie du sagst, ein Versprechen abgeben? Ohne selbst zu wissen, ob du das in deinem späteren Leben, mit deinem neuen Charakter und den neuen Meinungen und Einstellungen, vertreten kannst? Ich selbst bin mir da absolut nicht sicher. Der Mensch kann sein Gefühlsleben nicht auf Jahre hinaus vorprogrammieren. Er kann nicht sagen `Ich muss sie einfach lieben, denn ich habe es ihr versprochen'. Und für jedes gute Beispiel, für jede Ehe, die bis zum Tode gut ging, nenne ich dir hunderte Beispiele von verlogenen Ehen. Von Ehen, die bis zum Tode verlogen waren; von Scheidungen nach einer kurzen oder einer langen Zeit, weil ein Partner nicht mehr mit Lügen leben konnte. Oder ich erzähle dir von eingeschlafenen Beziehungen, die nichts mehr mit dem ehemaligen Versprechen und der ehemaligen Liebe gemeinsam haben."
So war er Junggeselle geblieben. Seine Freundin suchte sich bald einen Anderen, weil sie feststellte, dass er jetzt schon genügend `verschrobene' Ansichten hatte und sie auf weitere eigentlich verzichten könne. Die Trennung tat ihm weh, obwohl er zu jedem Zeitpunkt damit gerechnet hatte: "Nichts ist von Bestand, außer dem Universum. Und vielleicht noch nicht einmal das. Früher oder später findet alles ein Ende; wird alles zerstört."
Aber gerade diese Trennung - verbunden mit dem bitteren Gefühl des Selbstmitleids - hatte ihn letztlich wieder zu seinem ursprünglichen Ziel zurückgeführt. Gerade diese Bitterkeit führte endgültig dazu, sich für dieses Projekt zu bewerben...
In seinem Magen rumorte es, er spürte einen Brechreiz, aber es gab nichts, das sein Magen wiedergeben konnte. Und so fasste er den Entschluss, erst einmal etwas zu sich zu nehmen.
Später gab ihm der Computer seinen Standort an: Eine Kombination von leicht flackernden Zahlen auf dem Bildschirm, die ihm zunächst nichts sagten. Dann, auf eine entsprechende Eingabe über die Tastatur, folgte eine astronomische Karte. Tausende weiße Punkte auf schwarzem Hintergrund, wild in das Nichts geworfen: Eine Anhäufung hier, eine weitere dort und im oberen rechten Quadrat ein kleines, rotes Kreuz: Sein Standort. Dort also befand er sich. Ein Nichts im Nirgends ...
Fjodor benötigte eine Woche, um den Schaden zu beheben. Am vierten Tag kam er auf die Idee, den gespeicherten Funkverkehr vom Tage seines Starts anzuhören: Mit einem Grinsen lauschte er den Versuchen der Erdkontrolle, ihn zu erreichen. Immer wieder hatten sie ihn angerufen und versucht, die Kameras anzuschalten sowie das Schiff wieder unter Kontrolle zu bekommen, es in die alte Umlaufbahn zurückzusteuern. Selbstverständlich erfolglos, sein Plan war geglückt. Das letzte Mal wurde das Schiff zwei Wochen nach seinem Aufbruch angerufen, dann hatten sie ihn wohl auf die Verlustliste gesetzt.
Den fünften Tag verbrachte er mit dem Durchchecken der Apparaturen und weiteren Reparaturarbeiten. Er stellte fest, dass das Schiff kaum Verschleißerscheinungen zeigte. - Von einigen kleinen Ausnahmen abgesehen. Wie der Computer gesagt hatte: Einige Solarzellen wiesen kleine Löcher auf, ein paar Teile mussten neu befestigt werden. Aber die Batterien waren voll geladen, die Steuerung funktionierte einwandfrei. Alles befand sich in einem perfekten Zustand. Die Konstrukteure, Techniker und Mechaniker hatten ein großartiges Werk geleistet.
Am späten Abend des sechsten Tages (zumindest war es den Uhren nach der späte Abend eines normalen Tages auf der Erde) beendete er ohne Komplikationen die Reparaturarbeiten. Und vierundzwanzig Stunden später schloss sich wieder der Deckel der Schlafbox über ihn und er glitt wieder hinüber in jenen seltsamen Zustand, der dem Tod so ähnelte.
*
Irgendwann begann abermals der langsame Prozess der Wiederherstellung seiner Körper- und Geistesfunktionen. Irgendwann - für Fjodor nur Stunden, seitdem er sich in die Schlafbox gelegt hatte - konnte er sich wieder bewegen. Und seine erste Handbewegung führte unter großer Anstrengung zu seinem Gesicht, weil er das unbestimmte Gefühl hatte, dort habe sich etwas verändert. Zu seiner Überraschung fühlte er einen Bart.
"Mach dir keine Sorgen, Fjodor", sagte der Computer. "Das ist ganz normal unter den gegebenen Umständen. Du bist in der Zwischenzeit ungefähr zwei Wochen gealtert."
- Zwei Wochen, dachte er. Zwei Wochen, trotz dieser Technik. Wie lange habe ich dann geschlafen?
Der Computer schien auch diesmal seine Gedanken erraten zu haben: "Zweitausendfünfhundertsechsunddreißig Jahre", sagte er. "Einhundertsechzehn Tage und vier Stunden."
Die Worte hallten in seinem Kopf, wiederholten sich in Gedanken immer wieder und fanden kein Ende. Ich muss mich zusammenreißen, dachte er. Ich darf nicht mehr an so etwas denken. Zeit spielt kaum noch eine Rolle für mich, und daran muss ich mich gewöhnen. Sonst werde ich verrückt verrücktverrückt... Es ist ein neuer Weg, den ich gehe, und an die Begleiterscheinungen muss ich mich gewöhnen.
Er wollte sprechen. Wollte fragen, warum er geweckt wurde, denn der Computer hatte Anweisungen, ihn nur bei besonderen Ereignissen zu wecken. Aber aus seinem Mund kamen nur unverständliche Töne. Seine Zunge und die Lippen gehorchten nicht mehr den Befehlen seines Gehirns. Die Muskulatur war erschlafft; nicht fähig, die gewünschten Bewegungen durchzuführen.
Als er sich etwas besser und gestärkt fühlte, schwebte er hinaus und zur Eingabetastatur hinüber. Schwerfällig tippte er seine Frage ein:
"Warum wurde ich geweckt?"
"Wir umkreisen zur Zeit einen erdähnlichen Planeten", antwortete sein mechanisch-elektronischer Weggefährte. "Ich habe eine Umlaufbahn eingeschlagen und dich geweckt, weil er ganz interessant ist. Außerdem wollte ich deine Funktionen in der Praxis testen. Es wäre besser, wenn du nach und nach etwas Sport betreibst, um deine Muskulatur und deinen Kreislauf wieder zu stabilisieren. Und du scheinst Schwierigkeiten mit der Sprache zu haben. Wenn du willst, werde ich dir auch hierfür ein Lernprogramm entwickeln."
Fjodor nickte, bis ihm einfiel, dass der Computer dies wahrscheinlich nicht verstehen konnte. Zwar war er zu Kontrollfunktionen mit Kameras ausgerüstet, die Fjodor nach seinem ersten Erwachen auch wieder angeschlossen hatte, aber er konnte nicht alle Gesten oder ähnliches deuten, die für das Zusammenleben auf der Erde so selbstverständlich geworden waren. Und so tippte Fjodor zusätzlich ein "o.k." ein. Anschließend stieß er sich leicht ab, um zur Kuppel hinaufzuschweben, und selbst diese kleine Bewegung in der Schwerelosigkeit fiel ihm bereits schwer. Dann sah er ihn vor sich schweben: Ein Planet mit ähnlichen Farbschattierungen, wie er sie von der Erde her gewohnt war; schwebend vor der schwarzen Finsternis eines Systems, das noch kein Mensch gesehen hatte. Und doch schien ihm alles so vertraut, als wäre es ein Schwesterplanet der Erde : Die Landmassen hatten natürlich andere Formen, aber das Blau des Wassers in unendlich vielen Schattierungen, die vereinzelten Wolkenmassen und die unterschiedlichsten Brauntöne des Landes erinnerten ihn an seinen Heimatplaneten, riefen Erinnerungen wach, die er eigentlich verdrängen wollte.
Fjodor brauchte nahezu zwei Wochen, um sich einigermaßen zu erholen. Er trainierte seine Muskulatur, steigerte langsam den Schwierigkeitsgrad. Sein Magen brauchte drei Tage, bis er sich wieder an feste Nahrung gewöhnt hatte. Aber die medizinischen Untersuchungen brachten keine schwerwiegenden negativen Befunde. Und je mehr er begriff, dass er trotz des hohen Alters vollkommen gesund war, desto mehr drängte es ihn danach, das Raumschiff zu verlassen. Er wollte endlich wieder Natur erleben. Er wollte Luft atmen, die etwas modrig-frisch roch. Er wollte einen Boden unter seinen Füßen spüren, der bei jedem Schritt leicht nachgab und ihn sein Körpergewicht spüren ließ. Er wollte für ein paar Stunden nur diese Kunstwelt verlassen um zu spüren, dass auch er ein Teil der Natur war. Er konnte es nicht erwarten, aber er benötigte weitere zwei Monate, um die technischen Vorbereitungen zu treffen und seinen Körper auf die Schwerkraft vorzubereiten.
Das kleine Begleitschiff, das Fjodor vor so langer Zeit in das All gebracht hatte, näherte sich dem Planeten. Zum ersten Male sah er sein Raumschiff wieder von außen, und es schien mit steigender Entfernung so winzig, klein und zerbrechlich, dass ihm keiner den weiten Weg zugetraut hätte, den es hinter sich hatte. Dann tauchte er in die erste Wolkenschicht ein, die Landung erfolgte problemlos in einer tropischen Landschaft: Ganz in der Nähe befand sich ein Fluss von unvorstellbarer Breite. Das gegenüberliegende Ufer konnte er kaum erkennen, aber auf der Seite des Landeplatzes war es von einer Art Schilfgras bewachsen, das stellenweise eine Höhe von drei Meter erreichte. Dort, wo es den Blick auf den Fluss freigab, bot sich ein seltsames Bild: An einigen Stellen ragten Felsen aus dem Wasser, dort schienen die Fluten reißend zu sein. Gischt schoss meterhoch, Regenbögen bildeten sich im Spritzwasser. Zum Ufer hin, weit entfernt von den Felsen, die mehr in der Mitte aufragten, floss das Wasser ruhig, fast zähflüssig. Hier und da drangen Gase durch das Wasser hindurch an die Oberfläche, hinterließen einen undurchsichtigen Nebel, der vom Wind auseinandergerissen wurde und einen Geruch nach Schwefel und undefinierbaren anderen Gasen verbreitete. Die Luft selbst war schwül und stickig, seinem ersten Atemzug folgte ein Hustenreiz und ein stechender Schmerz in der Brust. Er rannte zurück in den Gleiter, schloss ängstlich die hermetische Tür und ließ die Außenluft nochmals durch den Computer analysieren. Auch diesmal fiel das Ergebnis negativ aus:
"Keine für Menschen gefährliche Substanzen."
Dann ging er wieder hinaus, betrat zum zweiten Male seit zwei Jahrtausenden wieder Boden, den die Natur geformt hatte, und sackte bis zu den Knöcheln ein. Das in die Schuhe laufende Wasser war überraschend warm und angenehm und erweckte in ihm den Wunsch, ein Bad zu nehmen. Die Vernunft siegte jedoch und vorsichtig ging er um das Schiff herum, ohne sich weit zu entfernen. Bereits wenige Meter hinter der Rückseite des Gleiters begann ein Urwald: Grün- und gelblich-braune Laubbäume; riesige Stämme, Jahrhunderte alt; Kronen, die keinen Lichtstrahl durchließen. Und er hörte das kurze, sich stets wiederholende Pfeifen eines Vogels.
Hier war die Natur noch in der Entstehungsphase, während auf der Erde wahrscheinlich schon alles vorbei war: die Menschen ihre Umwelt, ihren Lebensraum auf die eine oder andere Weise zerstört hatten. Diese Wildnis hier war gerade erst erwacht, befand sich noch im Aufbau und tat die ersten Schritte hin zur Zukunft.
So ähnlich, dachte Fjodor, muss die Erde damals ausgesehen haben. Damals, bevor sie ihren größten Fehler beging und den Menschen schuf. Menschen, die nicht bereit waren, sich der Natur anzupassen. Menschen, die versuchten, die Natur ihren eigenen, persönlichen Eigenheiten entsprechend umzuformen.
Es herrschte eine ganz besondere, fast fühlbare Atmosphäre. Fjodor konnte sich förmlich vorstellen, wie kleine Tiere an den Strand gespült wurden. Wie sie auftauchten aus den Tiefen des Wassers und lernten, einen immer länger werdenden Zeitraum an Land zu verbringen. Er hatte während seines Landeanfluges auf der anderen Seite des Planeten feuerspeiende Vulkane gesehen. Träge in das Wasser fließende, rotglühende Lavamassen. Aufsteigende Wasserdampfwolken und Aschenregen. Ein Donnern, das durch die Wände seines Schiffes gedrungen war. Die Vielfalt dieses Planeten schien keine Grenzen zu kennen.
Dann kam die Nacht. Plötzlich und unerwartet brach sie herein, als sich ein anderer Planet vor die fremde Sonne schob und am Himmel ein schwarzes Loch mit strahlendem Rand entstand. Und erst jetzt bemerkte Fjodor zwei rötlich schimmernde Monde, deren Lichtrefflektionen jedoch nicht ausreichten, um die Nacht zu erhellen.
Instinktiv schlich sich Angst in sein Gehirn. Er kannte nicht die Gefahren dieses Planeten und musste nun auf sein wichtigstes Sinnesorgan verzichten. Falls es gefährliche Tiere oder Pflanzen gab, war er ihnen hilflos ausgeliefert. So zog er sich eilig in das Schiff zurück.
Später lag er auf seiner Liege und es war ein seltsames, aber angenehmes Gefühl, sein Körpergewicht wieder zu spüren. Es führte zu einem stärkeren "Ich-existiere-wirklich" Gefühl; er fühlte sich realer, bildete wieder ein gewichtiges, greifbares Individuum. Störend wirkten sich lediglich die Muskeln aus, die bei jeder Bewegung eine Welle des Schmerzes durch seinen Körper jagten. Und obwohl er im sicheren Inneren des Schiffes lag war er doch in Gedanken draußen in diesem Natur-Embryo.
"Sag' mir, wie die Erde entstanden ist", befahl er dem Computer.
Dieser brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um das entsprechende Magnetband zu finden. In diesem Zeitraum überprüfte er sein gespeichertes Wissen und verglich es mit der gestellten Frage. Dann fand er die richtige Speicherbank und begann, von dem Urknall zu erzählen.
"Stop", sagte Fjodor. "Fang später an. In umgekehrter Reihenfolge. Beginne mit dem Moment, als das erste Wesen aus dem Wasser stieg und erkläre mir, wie es dazu kam. Erkläre mir diese Kettenreaktion vom Ende zum Beginn hin."
Der Computer erzählte von den ersten Amphibien, von den Fischen, die es im Meer gegeben hatte und von den Kleinstlebewesen, aus denen sie entstanden waren. Er erzählte, wie Wasser, Baumwuchs und Sauerstoff entstand; wie die Erde langsam erkaltete, wir zuvor ein roter Feuerball im All schwebte. Er schilderte mit sachlichen Worten die Herkunft dieses Feuerballs: an eben jenen Platz, auf jene Bahn geschleudert durch die Wucht einer unvorstellbaren Explosion, entstanden durch eine gigantische Massenansammlung von extremer Dichte. Aus diesem Urknall entstand das heutige Universum mit all seinen Galaxien, Sonnensystemen, Planeten, Monden und Asteroiden. Dann, endlich, schwieg der Computer. -Verstummte, ohne Fjodors Neugier gestillt zu haben.
"Und davor?", fragte Fjodor. "Was war davor?"
"Vor dem Urknall? Wahrscheinlich Materie wie heute. - Partikelansammlungen, Planetensysteme und ähnliches, die sich auf jene extreme Dichte zusammenzog."
"Zusammenzog, um dann zu explodieren? Und diese Materie... Wo kam die ursprünglich her? "
Der Computer benötigte für ein Rechengehirn eine endlose Zeitspanne bis zur Antwort: "Tut mir leid, Fjodor. Unzureichende Eingaben."
Fjodor wartete fast darauf, dass sein Gesprächspartner bedauernd nicht vorhandene Achseln zucken würde. Er erinnerte sich, etwas ähnliches auch schon einmal einen religiösen Mann gefragt zu haben. Dort hatte sich alles einfacher angehört: Gott hat alles geschaffen. Auf weitere Fragen, wer zum Beispiel Gott gemacht haben könnte oder wie er erstanden ist, wusste dieser Mann aber auch keine Antwort. Und dieser Mann hatte mit den Schultern gezuckt: "Frag einen Physiker, wenn du meine Antwort nicht akzeptieren kannst", hatte er Fjodor gesagt. "Vielleicht kann er dir den Ursprung nennen."
Es ist eine Sache der Mathematik, der Physik und der Religion, dachte er nun. Die Mathematiker sagen: Null addiert mit Null ergibt Null. Und Null plus Eins ergibt eins. Eine einfache Grundlage für eine logische Sache. Hinzu kamen physikalische, biologische und chemische Erkenntnisse, die ebenso logisch erschienen. Aber das Ende dieser Rechnung blieb offen. War da nicht ein Widerspruch? Ein Widerspruch zwischen Mathematik und Physik! Versuchen die Physiker nicht, uns beizubringen, dass das erste Atom aus dem Nichts des ursprünglich absolut leeren Raums entstanden war? Mathematisch gesehen: Aus Null plus Null wurde Eins! Und bedeutete das nicht, dass ihre sämtlichen Grundlagen falsch waren? Wenn das erste Glied einer Kette der Beweisführung falsch ist, sind dann nicht auch alle weiteren Schritte falsch, da sie ja doch auf einer falschen Grundlage beruhen?
Hier, an dieser Stelle, traten die religiösen Fanatiker auf, erzählten von einem Gott, der alles in Bewegung brachte und der Ursprung war. Und auf die Frage "Wer hat Gott gemacht? Was war vor Gott?" wussten sie keine bessere Antwort, als dass Gott von Anfang an und vor dem Beginn der Zeiten da war.
Die Frage, wer den Anfang gemacht hatte, erübrigte sich. Es war eine Antwort, die nur aus Glauben bestand. Einem Glauben, der beruhigte, weil er das Nichtwissen verdrängte.
Ab hier wurden unstillbare Neugier und Intellekt zu einer tödlichen Mischung: Alle Gedanken drehten sich im Kreis und würden nur zum Wahnsinn führen.
"Alle unsere Regelungen, all' unsere Logik... Umsonst! Der Fehler liegt am Anfang! Bereits am Anfang! Wo? Wo! Wo!! Am Anfang! Irgendwo am Anfang... Fehler... Unlogisch... Wo???... Ich... Ich muss abschalten!!!" schrie er und es war wie der weinerliche Klageruf eines Wahnsinnigen.
"Ich muss abschalten! Ich muss aufhören, darüber nachzudenken! Ich muss!"
Sein Kopf schien platzen zu wollen, ein stechender Schmerz durchzuckte ihn. Er spürte nur die erste Welle, dann erlöste ihn eine tiefe Ohnmacht aus dieser Gedankenkette, befreite ihn von der ewigen Suche nach der absoluten Wahrheit, die es vielleicht nicht gibt. Und von der Suche nach seiner persönlichen Wahrheit, die er immer noch nicht gefunden hatte. Und diese Suche, die jedem selbst überlassen blieb und für ihn endlos war, gönnte seinem ruhelosen Geist keine lange Pause. Träume quälten ihn in dieser Nacht, schreiende Fragen hallten in seinen Ohren.
Am nächsten Tag flog er bereits wieder zurück zu seinem Raumschiff. Er hatte ein seltsames Angstgefühl auf dem Planeten gehabt. Er hatte keinen Mut gefunden, sich von dem Gleiter zu entfernen und die Umgebung weiter zu erkunden, ein Bad zu nehmen oder einfach in aller Stille die Natur zu genießen. Zu lange war es schon her, dass er als kleiner Junge durch die letzten Wälder der Taiga gelaufen war. Und später hatte sein Leben nur aus Anpassung an eine künstliche Umwelt, an Beton und Neonlicht bestanden. Ihm fehlten nun Kenntnisse und Instinkte zum Überleben in einer freien Natur, und so siegte das Angstgefühl. Irgendwie war er beruhigt, als sich der Deckel der Schlafbox abermals über ihm schloss. In dieser Form des Schlafes existierten keine bewussten Träume, konnte ihn nichts quälen.
*
Er alterte langsam, aber er alterte. In den letzten drei Millionen Jahren hatte er den geistigen und körperlichen Stand eines Neunzigjährigen erreicht. Sein Geist war nicht mehr so klar wie früher, er hatte Erinnerungslücken, war nervös, zuweilen hysterisch und wurde während der letzten Wachphasen fast irrsinnig vor Einsamkeit. Und dann wurde er eines Tages wieder geweckt und sein erster Blick hinaus durch das Panoramafenster zeigte ihm...
Die Erde!
Das alte Schiff mit den hundertfach geflickten Sonnensegeln, den längst verblichenen Aufschriften und den vielen kleinen Aufschlagkratern auf der Außenhaut, das seit drei Millionen Jahren keinen anderen Befehl erhalten hatte, als stets in gerader Linie das Universum zu durchqueren, schwebte plötzlich wieder vor seinem Mutterplaneten.
Von außen gesehen war Fjodors Kopf hinter einem der Fenster kaum zu erkennen, so winzig erschien er im Vergleich zu den Ausmaßen des Raumschiffes; so unscheinbar war er, wie das Schiff selbst wirkte, im Vergleich zu seiner Umgebung. Seine alten Augen waren in unglaublichem Erstaunen weit aufgerissen, seine Lippen formten stumm hunderte Fragen. Die greise, faltige und zitternde Hand hob sich mühsam empor, tastete suchend das Glas ab und versuchte die Erde zu berühren; das Bild vor seinen Augen zu verstehen.
Dann war es, als hätte man ein zerbrechliches Spielzeug gegen eine unsichtbare Panzerglaswand geschmettert: Ein gewaltiger Stoß ging durch das Schiff, als es auf das unsichtbare, unbekannte und von den Bordinstrumenten nicht registrierte Hindernis stieß. Es war eine Grenze erreicht, die der Mensch nicht überschreiten durfte. Eine nicht sichtbare, nicht fühlbare Grenze. Erkennbar lediglich an dem Unmöglichen, das dort vor ihm lag.
Das Schiff explodierte lautlos und ohne dass es jemand bemerkte. Eine leblose Gestalt, aufgebläht, aufgeplatzt, mit verrenkten Gliedern, wurde hinausgeschleudert und entfernte sich in gerader Linie von dem Bild der Erde, um sich selbst drehend wie ein Kreisel, wie ein kleiner Planet. Anderen Welten entgegen, ein kleines Stück näher an den Rand der Unendlichkeit.