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Es ist ein langer, in künstliches Licht getauchter Korridor, flankiert von schweren Holztüren. Auf jeder Tür prangen goldene Zahlen. 113. 114. 115. Sie fliegen seitlich an ihm vorbei ins Vergessen. Schnurstracks geht er auf die Tür am Ende des Korridors zu. Diese Zahl passt nicht zu den aufsteigenden Ziffern. Auf ihr schimmert die goldene Zahl 5665. Seine Hand ergreift den Türhenkel und drückt ihn nach unten. Die Tür schwingt auf, als herrsche ein gewaltiger Sog in diesem Raum. Zum ersten Mal registriert er die blaue Vase mit den gelben Blumen darin. Sie steht auf einem kleinen Tisch vor dem Röhrenbildfernseher, der den Raum in flackerndes Licht taucht. Es läuft eine Dokumentation über Schlachten im Mittelalter. Auf dem Bett liegt eine Frau in roter Spitzenunterwäsche. Sie hat eine rote, lockige Mähne. An der Innenseite ihrer Schenkel sowie auf ihren Bauch klaffen Wunden, aus denen Blut sickert. Die blutdurchtränkte, aufgeworfene Bettwäsche wirkt wie eine Rose. Das Geräusch von rauschendem Wasser dringt aus dem Bad. Er wendet den Blick von der toten Frau ab und geht zur offenen Tür, aus der schwaches Licht dringt. Ein Mann im Anzug steht vor dem Waschbecken, reibt sich die Hände unter dem Strahl. Dann fängt der Mann an zu lachen. Hinter sich registriert er eine Bewegung, schnellt herum. Die Frau, die so tot schien wie eine Schweinehälfte, zuckt epileptisch unter den Wogen des schallenden Gelächters. Ein Schrei dringt aus seiner Kehle, bringt die Scheiben zum Platzen. Eine Wand aus tintenschwarzem Wasser fällt in den Raum, füllt ihn binnen Sekunden und erstickt den Schrei samt Gelächter.
Ihm war heiß. Der Mund war so trocken, als hätte er als Betthupferl einen Eimer Sand gegessen. Erst griff er nach der Wasserflasche neben dem Bett und trank gierig, dann zog er die Schublade des Nachttischschrankes auf und holte das kleine Notizbuch und den Kugelschreiber heraus. Er schlug es auf der Seite mit dem Eselsohr auf und schrieb:
24.07.2013: Blaue Vase mit gelben Blumen steht auf dem kleinen Tisch zwischen Couch und Fernseher.
Direkt unter dem Eintrag vom 19.07.2013, in dem stand, dass auch die linke Wange seiner Mutter aufgeschlitzt war.
Drei traumfreie Nächte hatte er gehabt. Das war gut. Es hatte Zeiten gegeben, in denen ihn dieser Traum jede Nacht heimgesucht hatte.
Er kannte seine Mutter kaum. Sie war vor sechzehn Jahren, als er noch in Windeln lag, spurlos verschwunden. Seitdem hatte er sie nur noch in dem Traum oder auf Fotos gesehen. Die Erinnerung an die echte Mutter, die ihm Gute-Nacht-Lieder vorsang und im Kinderwagen herumschob, verblasste über die Jahre und machte Platz für die aufgeschlitzte Version auf dem Bett.
Angestrengt dachte er nach, erinnerte sich aber an keine weiteren Details. Also schlug er das Buch wieder zu. Ein Blick auf den Digitalwecker verriet ihm, dass es nach zehn war. Er stand auf und blickte auf das Bett. Ein roter Fleck in der Größe eines Golfballes zeichnete sich auf dem Kissen ab. Panisch hastete er ins Bad. Dem Konterfei im Spiegel standen Schweißperlen auf der Stirn, aber da war kein Blut. Kein getrocknetes Blut unter seiner Nase. Kein aufgeplatzter Pickel. Woher kam dieser Fleck? Er drehte den Wasserhahn auf und klatschte sich einen Schwall kaltes Wasser ins Gesicht. Das tat gut, denn es ließ die Nacht weniger real erscheinen. Was jedoch real war, war dieser Fleck, der immer noch da war, als er das Bad verließ.
„Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?“, fragte Werner.
„Na ja, es war ziemlich warm auf dem Zimmer.“
Werner saß in einem der roten Ledersessel im Foyer und blickte ihn über den Rand eines Buches mit dem Titel „Der Golem“ an. Vor ihm auf dem kleinen Holztisch stiegen leichte Dampfschwaden von seiner Kaffeetasse empor.
„Man sieht es dir an. Die Haare stehen ja in alle Richtungen. Du hättest die Klimaanlage anschalten können.“
„Du weißt, dass ich dieses Geräusch hasse. Dieses Surren. Davon werden die Träume schlimmer.“
Das Grinsen auf Werners Gesicht war ein wilder Cocktail aus Spott, Mitleid und Überlegenheit. Mit den weißen Slippern, dem weißen Hemd und den grauen, schulterlangen Haaren wirkte er wie ein strahlender Dämon. „Es sind nicht die Träume sondern der Traum, nicht wahr? Und er wird auch nicht schlimmer, sondern tritt nur öfter in Erscheinung.“
In einer ausladenden Geste deutete er auf den Sessel ihm gegenüber. „Setz dich.“ Dann wandte er sich zu Beate. Die Angestellte saß hinter dem Rezeptionspult und tippte etwas in den Computer ein. „Beate, wärst du so nett und brächtest für Ercan noch eine Kanne Kaffee.“
„Natürlich.“ Sie sprang hastig auf – so hastig, wie es ihre alten Knochen und ihr massiger Körper zuließen - und durchquerte das Foyer Richtung Küche.
Ercan ruckte den Sessel nach hinten und ließ sich in das Polster fallen. „Nein, der Traum wird schlimmer, umso mehr Details ich festhalten kann.“ Ihm wurde bewusst, dass er im Flüsterton sprach.
„Aber das ist doch toll!“, rief Werner aus. „Genau das ist es, was wir doch erreichen wollen. Was hast du diese Nacht neues entdeckt?“
Werner war für ihn da gewesen, als seine Mutter verschwand, hatte ihn großgezogen. Im schwangeren Zustand war seine Mutter aus der türkischen Provinz nach Berlin geflohen. Sie hatte lange Zeit vergebens probiert, schwanger zu werden. Als sie es dann doch wurde, war ihr Mann besessen von der Idee, sie habe ihn betrogen und hatte angefangen, sie zu malträtieren. Auf der Flucht hatte sie sich das Geld für Essen und Verkehrsmittel auf der Straße erbettelt. Diese Geschichte hatte ihm Werner oft erzählt. Sie war nach Berlin gekommen. Ohne Bleibe. Ohne Geld. Eines Tages kam sie in das Foyer gestapft. Die Mitarbeiterin an der Rezeption wollte sie schon freundlich zum Gehen auffordern, als Werner den großen Raum betrat und sie sah. Er hörte sich ihre Geschichte an. Danach bat er sie, in seinem Hotel zu wohnen, bis das Baby zur Welt käme. Danach könne sie für ihn arbeiten. Das tat sie solange, bis sie nach drei Jahren verschwand.
Ab diesem Zeitpunkt war Werner für ihn wie ein Vater gewesen. So hatte er ihm eines Tages auch von dem Traum erzählt. Zuerst hatte er Angst gehabt, Werner würde ihn auslachen, wie er es manchmal tat, wenn ihm bei der Arbeit ein Missgeschick passierte. Doch er hatte sich intensiv damit beschäftigt und versucht, ihm zu helfen.
„Luzides Träumen, das ist der Schlüssel“, hatte er gesagt.
Als der kleine Junge, der er damals noch gewesen war, hatte er ihn aus dunkelbraunen, ja, fast schwarzen Augen fragend angestarrt.
„Das ist die Kunst, Träume in bewusste Bahnen zu lenken, den Traum zu kontrollieren. Ich habe mir diese Technik vor vielen Jahren angeeignet. Ich bin Architekt meiner Traumlandschaft. Wenn du möchtest, kann ich dir zeigen, wie es funktioniert.“
Ercan willigte sofort ein. Architekt der eigenen Traumlandschaft sein. Das hörte sich so fantastisch spannend an. Es war nicht mal so kompliziert, wie er dachte. Alles, was er tun musste, war ein Traumtagebuch, wie Werner es nannte, zu führen und dieses jedes Mal um ein paar neue Eindrücke, die man im Traum erhalten hatte, zu erweitern. Wichtig war, dass man alles sofort nach dem Aufwachen niederschrieb, solange man sich noch in dem nebligen Zustand zwischen Traum und Realität befand und die Erinnerungen noch nicht verblasst waren. Wenn man dieses Buch regelmäßig führe und es ab und zu durchläse, sagte Werner, könne man das luzide Träumen erlernen.
Bisher hatte er den Verlauf des Traumes jedoch nicht ändern können. In Gedanken versunken, studierte er die Linien seiner Handflächen.
„Was hast du gesehen?“, wiederholte Werner.
„Nichts Außergewöhnliches.“ Er schaute von seinen Händen auf. „Nur eine blaue Vase in dem Zimmer.“
„Sie ist ein wichtiges Detail, vielleicht ist sie der Schlüssel. Wenn du dich heute Abend ins Bett legst, solltest du deine Gedanken an dieses Detail heften, während du wegdriftest.“
„Ich will das nicht mehr. Ich will den Traum nicht noch intensiver erleben, ihn lenken. Ich will, dass er verblasst und ganz und gar verschwindet.“
„Das wird er erst, wenn du ihn bewusst verändert hast!“, keifte ihn Werner an. Er war ein sehr stolzer Mann, der leicht außer Kontrolle geriet, sobald man seine Intelligenz in Frage stellte. Die zornigen Züge hellten sich aber gleich wieder auf, als Beate das Foyer betrat und die Kanne Kaffee mit einer Tasse zwischen ihnen auf dem Holztisch ablegte.
„Bitteschön.“
„Danke“, erwiderte Ercan und goss sich ein.
Das Gespräch hatte sich hochgeschaukelt, Emotionen aufkochen lassen. Sie waren nun nicht mehr imstande, alles ruhig und sachlich auszudiskutieren. Also wechselte Werner das Thema.
„Was machst du heute noch, bevor deine Schicht beginnt? Nimmst du noch die U-Bahn und fährst zum Wann- oder Schlachtensee heraus? Draußen herrscht ideales Badewetter.“
Wöchentlich wechselte er zwischen Früh-, Spät- und Nachschicht. Diese Woche musste er um vierzehn Uhr zur Spätschicht antreten. In seiner Schicht bearbeitete er Buchungen am Computer, bediente die Maschinen in der Waschküche oder säuberte die Zimmer. An der Rezeption stand er nur selten, weil er einen stets bedrückten, deprimierten Eindruck machte und sich schon einige Kunden wegen seiner Wortkargheit beschwert hatten.
„Nein, ich werde ein wenig lesen und …“ Er zögerte, nahm einen Schluck Kaffee. „Ein bisschen auf den Saiten des Kontrabasses herumzupfen.“
Werner stieß einen Seufzer aus. „Weißt du, manchmal habe ich richtig Angst um dich. Du wirst immer mehr zu dem, was ich bin.“
„Ach ja? Was bist du denn?“
„Oh, die Frage ist spannend. Lass mich nachdenken." Er fuhr sich mit der Hand durch die grauen Haare. „Ich bin ein alter Kauz, der zwischen den Zeilen tausender Romane und in schemenhaften Traumphantasien lebt, der nichts besitzt außer diesem Hotel mit seinen kalten Wänden. Manchmal kann ich gar nicht mehr unterscheiden was Fiktion und Traum und was Realität ist. Das bin ich.“
Er sah die tiefe Traurigkeit in den blauen Augen. Sie wurden durch die starken Brillengläser in der Größe und Form von Zwei-Euro-Münzen noch vergrößert. „Ich gehe zurück auf mein Zimmer. Danke für den Kaffee.“
Dort angekommen, las er in einem Sherlok-Holmes-Band. Oft musste er zurückblättern und eine Seite noch mal lesen, weil er bestürzt feststellte, dass er keines der gelesenen Worte verinnerlicht hatte. Genervt schleuderte er das Taschenbuch gegen den Wandschrank und nahm den Kontrabass aus dem Ständer, spielte ein paar Notenblätter durch und stellte ihn wieder ab. Alles, was er spielte, hörte sich schief an. Pünktlich begann er seine Schicht, saugte ein paar Zimmer raus, bohnerte den Frühstückssaal und bearbeitete Buchungsanfragen. Es schien ein ganz normaler Arbeitstag zu werden, bis er den Wagen mit sämtlichen Putzutensilien einen Korridor entlangschob und etwas auf einer Kommode stehen sah. Der Anblick traf ihn wie ein Fausthieb. Dort stand die blaue Vase mit den gelben Blumen darin.
Er sah, wie Berta aus einem Zimmer trat. „Berta?“
„Ja? Was ist?“
Er brauchte eine Weile, um die richtigen Worte zu finden. „Hast du diese Vase dort hingestellt?“
„Nein. Die hat wohl Lu in der Frühschicht da hingestellt. Warum?“
„Nur so.“ Er starrte die Blumen einige Sekunden an. „Weißt du, wie diese Blumen heißen?“
„Ja, das ist Johanniskraut. Komisch, dass du mich das fragst“, sagte sie und ein breites Grinsen legte ihr ganzes Gesicht in Falten. „Normalerweise ist dein Handy doch zuverlässiger, was das Beantworten von kniffligen Fragen betrifft.“
Er gab sich Mühe, ihr Grinsen zu erwidern. „Manchmal bin auch ich auf deine Weisheit angewiesen, Berta. Danke.“
Während der Arbeit hatte er die Klimaanlage auf seinem Zimmer laufen lassen, sodass das Zimmer angenehm kühl war, als er es betrat. Er ging zum Regler und schaltete ihn ab. Das surrende Geräusch rückte langsam in immer weitere Ferne. Dann ließ er sich erschöpft in das frisch überzogene Bett fallen. Er stellte sich vor, seine Mutter säße neben dem Bett. Gute Nacht mein Kleiner, sagte sie, träum` was Süßes. Bei diesem Gedanken verkrampften sich Arm- und Schultermuskulatur. Diese Nacht wird eine traumlose Nacht werden, sagte er sich, wusste aber im gleichen Moment, dass dem nicht so war.
Im Licht der Nachttischlampe ging er das Traumtagebuch durch, so wie er es fast jeden Abend vor dem Einschlafen tat. Er las vom Ventilator an der Zimmerdecke, vom expressionistischen rot-schwarzen Gemälde. Schließlich gelangte er zur letzten Seite und las den heutigen Eintrag. Er strich „gelben Blumen“ durch und schmierte in zusammengequetschter Schrift „Johanniskraut“ darüber.
Der Kopf versank immer tiefer im Kissen. Er knipste die Nachttischlampe aus und alles verschwand. Werners Worte drangen in sein Bewusstsein: Vielleicht ist sie der Schlüssel. Ja, irgendeinen Schlüssel musste es doch geben. Er stellte sich vor, alle diese Objekte, die Vase, das Gemälde, diese Traumdetails würden ihn umgeben. Würde ein Blitz den Raum für einen kurzen Augenblick erhellen, befände er sich in Zimmer 5665. Seine aufgeschlitzte Mutter läge neben ihm. Geistesabwesend brabbelte er es immer wieder „Johanniskraut in blauer Vase. Johanniskraut in blauer Vase. Johanniskraut in …“ vor sich hin.
Er zählte die blauen Vasen, die aus dem vierten Stock des Hotels auf den Gehweg fielen und zersprangen. Bald schlief er tief und fest.
Er geht den dunklen Korridor entlang, öffnet die Tür zu Zimmer 5665. Dort empfängt ihn der übliche Wahnsinn. Er zwingt sich, den Blick von seiner Mutter abzuwenden und starrt auf die blaue Vase mit dem Johanniskraut darin. Er tut dies ganz bewusst. Er geht hinüber zum Bad, starrt auf den Rücken des Mannes im Anzug mit dem schwarzen, kurzgeschorenen Haar. Das Lachen übertönt die Erzählerstimme und das Geräusch der sich kreuzenden Schwerter im Fernseher. Doch diesmal dreht er sich nicht nach ihr um. Das Lachen verebbt, bis eine Totenstille den Raum schweben lässt. Der Mann dreht sich zu ihm um, und er blickt in das verjüngte Gesicht von Werner.
Na, erkennst du mich? Seine Lippen bleiben stumm.
Ich bin der Puppenspieler. Ich ziehe an den Fäden. Ich lasse sie tanzen. Sieh es dir ruhig an.
Er ließ den Blick starr auf den Mann gerichtet. Auf dem weißen Hemd unter dem Jackett befand sich Blut. Erneut erfüllt das Lachen den Raum, und wieder bewegen sich die Lippen nicht.
Die Vase ist der Schlüssel. Die Vase ist die Scheide.
Er sieht zu der Vase hinüber. Das Johanniskraut ist verschwunden. Nun ragt der Griff eines Messers über den Rand.
Nun geh schon. Nimm es.
Er tut es, umfasst den Griff fest und zieht das lange Messer heraus. Es ist blutverschmiert.
Und jetzt ramm es mir rein. Ramm. Es. Mir. Rein.
Werners Gesicht flammt direkt vor seinem auf. Er will etwas erwidern, aber als er den Mund öffnet, quillt eine Blase Blut heraus und platzt.
Na mach schon!
Er rammte es sich selbst rein. Jedenfalls hatte er es versucht. Aber es befand sich kein Messer in seiner Hand. So hatte er sich nur in den Magen geboxt. Ihm war furchtbar heiß, die Wände wirbelten um ihn herum, als säße er in einem Karussell. Er sprang geradezu aus dem Bett. Auf dem Kissen erspähte er zwei rote Flecken. Wieder inspizierte er das Gesicht im Spiegel. Wieder fiel ihm keine Wunde auf. Tiefblaue Augenringe zeichneten sich auf dem Gesicht ab. Er war so müde. Hatte er überhaupt geschlafen? Die Gestalt im Spiegel sah ihn fragend an. Werner? War das wirklich Werner gewesen? Was ergab das für einen Sinn? Gar keinen. Ja, Träume waren Träume, Hirngespinste, mehr nicht. Luzides Träumen – er hatte viel darüber gelesen – war immer ein umstrittenes Thema zwischen Traumforschern gewesen. Jedoch war die Erinnerung an den Traum so greifbar wie nie zuvor. Sie war absolut real.
Der Wecker zeigte ihm an, dass es kurz vor zehn war, Zeit für eine Kanne Kaffee.
„Ercan!“, rief Werner, als er das Foyer betrat. Werner saß in dem gleichen Sessel wie gestern und las das gleiche Buch. „Guten Morgen. Wie geht es dir? Hast du gut geschlafen?“
Er antwortete nicht. Die Lethargie breitete sich in ihm aus.
„Setz dich besser. Du siehst blass aus.“ Er deutete auf den Sessel ihm gegenüber. „ Hier steht schon eine Kanne. Du kannst dir einen einschenken, wenn du willst.“ Er sah ihn eindringlich an. „Was ist denn los?“
Seine Zunge fühlte sich an wie ein klebriger Klumpen. Er schluckte ein paar Mal, sagte: „Ich habe wieder geträumt.“
„Ja?“ Neugier beherrschte nun sein Gesicht.
„Diesmal war ich mir bewusst, dass ich träume. Ich habe den Traum gelenkt.“
„Tatsächlich? Sag schon: Was hast du gesehen?“ Werner wollte sich die Tasse Kaffee zum Mund führen, stellte sie aber sofort wieder ab, da seine Hände zu stark zitterten.
„Dich.“ Die Antwort war kurz und vernichtend. Wie beim ersten Mal, als er ihm von dem Traum berichtet hatte, dachte er auch nun wieder, er würde ihn auslachen.
„Setz dich“, sagte Werner ernst. „Reden wir darüber.“
Nun wünschte er sich, er hätte gelacht. Das hätte alles so harmlos erscheinen lassen. Das genaue Gegenteil war nun der Fall.
Er dachte nicht daran, sich zu setzen. „Du warst der Mann im Bad, der Mann, der meine Mutter umgebracht hat.“
„Setz dich. Bitte.“
„Erzähl mir die Wahrheit. Was ist mit meiner Mutter passiert?“
„Ercan“, sagte er beschwichtigend, „ich habe deine Mutter geliebt, glaub mir das.“
„Beantworte meine Frage“, forderte er im kühlen Ton.
„Ich wusste, der Tag würde bald kommen.“ Er schüttelte langsam den Kopf.
„Was für ein Tag?“
„Der Tag, an dem ich meine Schuld bekennen darf.“
Er konnte es nicht fassen. Wie in einem schlechten Film kniff er sich in die Schulter, um zu prüfen, ob er nicht träumte. Er spürte den Schmerz.
„Ich liebte deine Mutter. Und ich liebte dich. Verstehst du? Zuvor habe ich nur für dieses Hotel gelebt. Erbe und Fluch zugleich. Aber dann habt ihr meinen Leben einen Sinn eingehaucht. Es brach mir das Herz, als sie meinte, sie müsse zurück in die Türkei.“ Seine Stimme wurde brüchiger. Zum ersten Mal sah der Mann in Ercans Augen total hilflos und verloren aus. „Ich konnte sie nicht gehen lassen, konnte nicht zulassen, dass sie dich mitnimmt.“
So viel Wahrheit auf einmal konnte er nicht verkraften. Wie vom Körper gelöst, sah er sich dabei zu, wie er Treppen nach oben und durch Korridore rannte. Die Nummern an den Türen folgen an ihm vorbei. 224. 225. 226. Er stieß einen Mann um, der neben seiner Frau laut fluchend zu Boden ging. Ihm war nicht klar, wohin er rannte, bis er vor der Holzkommode innehielt. Nun blies er die Luft so geräuschvoll aus wie die Klimabelüftung in seinem Zimmer. Die blaue Vase stand immer noch auf der Kommode, und in ihr steckte das Messer.
„Die Vase ist der Schlüssel“, keuchte er. „Die Vase ist die Scheide.“