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- 10.07.2020
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T-Shirts
1.
Die Kinder sitzen seit Freitag am Küchentisch: Bianca im Hochsitz, Robert mit dem Gesicht im Müsli. Als ich Roberts Kopf anhebe, rieseln Maden auf den Teller. Ich hätte mich früher kümmern müssen. Ich ziehe Müllsäcke über ihre grauen Gesichter und trage sie ins Bad.
Amélie schreit, als ich die Kinder in die Wanne lege, aber der Knebel erstickt ihre Stimme. Sie zerrt an den Kabelbindern, ihre Handgelenke sind blutig. Ich beachte sie nicht. Nachdem ich Robert und Bianca aufeinander gelegt habe, schließe ich die Tür und gehe zurück in die Küche. Verwesungsgeruch hängt in der Luft.
Atticus leckt seine Pfoten und sagt, dass wir jetzt bereit sind für die finale Phase.
2.
Haben Sie mal die Zahl der vermissten Kinder in Ihrer Stadt mit dem Anteil der unterkellerten Häuser verglichen? Beobachtet, wie die Farben der Autos in Ihrer Straße sich nach einem Regierungswechsel ändern? Nachgefragt, was mit verdorbenen Blutkonserven passiert? Nein? Gut. Leben Sie weiter Ihr kleines Leben zwischen Netflix, S-Bahn, Büro und Supermarkt. Gehen Sie am Donnerstag Handball spielen und sonntags in den Park. Sehen Sie sich die Sonderangebote in den Prospekten an und freuen Sie sich auf den Urlaub auf den Kanaren. Halten Sie Ihre Augen weiter fest verschlossen.
3.
Ich schreibe das hier nicht, weil ich Sie überzeugen oder für mein Vorhaben gewinnen will. Das spielt keine Rolle. Wenn dieser Bericht öffentlich wird - falls er jemals öffentlich wird -, bin ich tot und meine Taten haben ihren Zweck erfüllt. An Ihrer Zustimmung oder Ihrer Sympathie bin ich nicht interessiert.
Ich will Zeugnis ablegen. Von der Wahrheit, die ich erfahren habe. Ich will, dass Sie die Zeichen sehen, die mir offenbart wurden. Dass Sie die Opfer erkennen, die ich gebracht habe. Ich will, dass Sie verstehen. Es ist alles da. Der Schleier, der auf der Fratze der Wirklichkeit liegt, hat Löcher. Heute reiße ich ihn herunter.
4.
Das Telefon klingelt. Die Schule. Roberts Lehrer will wissen, wo er ist, er fehlt seit Tagen. Ich erstarre. Ich habe vergessen, ihn krankzumelden. Ich presse die Lippen aufeinander. In der Badewanne ist er, unter seiner kleinen Schwester, und in seinem Mund krabbeln Maden herum. Atticus schleicht um meine Beine. Der Lehrer fragt, ob ich noch dran bin. Ja, sage ich und erzähle etwas von der Grippe, von hohem Fieber, kalten Umschlägen. Der Lehrer wünscht gute Besserung und legt auf. Minutenlang stehe ich am Küchentisch und warte darauf, dass mein Herzschlag sich beruhigt. Der Gestank steigt mir in die Nase. Ich sollte die Kinder abdecken. Atticus sieht mich von der Fensterbank aus skeptisch an. Du musst alle Parameter bedenken, sagt er. Du darfst nichts dem Zufall überlassen. Ich nicke. Wir befinden uns jetzt in der Dunkelheit, sagt Atticus. Ich weiß, sage ich. Es wird nicht wieder passieren.
5.
Als ich Amélie kennenlernte, kam ich frisch von der Universität und hatte eine Stelle als Wasserbauingenieur angetreten. Kein aufregender Job, aber sicher. Ich war für die Trinkwasserversorgung von fast 200.000 Menschen zuständig. Ich kontrollierte Brunnen und Reservoirs, überwachte das Leitungsnetz und begleitete die Erschließung neuer Wohn- und Gewerbegebiete am Stadtrand. Es war nicht mein Traumjob, aber es war eine Aufgabe, die mich forderte, eine verantwortungsvolle Position. Amélie arbeitete in der Buchhaltung einer Druckerei. Sie hatte dort als Jugendliche einen Ferienjob bekommen; zehn Jahre später war sie immer noch da. Wir lernten uns im Schwimmverein kennen: Amélie gab den Kraulunterricht für Anfänger und ich war - daran hält sie bis heute fest - der hoffnungsloseste Schüler, den sie je hatte. Es wollte einfach nicht funktionieren. Umso überraschter war ich, als sie mich eines Abends nach dem Training fragte, ob ich Lust hätte, noch etwas essen zu gehen.
6.
Gestern sind 27 Personen an unserem Haus vorbeigekommen. 22 trugen T-Shirts. Die Farben verteilten sich wie folgt:
Weiß: 9
Blau: 7
Grün: 3
Gelb: 1
Rot: 1
Schwarz: 1
Anfangs habe ich diese Zahlen in Notizbücher eingetragen. Seit ein paar Wochen schreibe ich sie auf die Wände. Hunderte Beobachtungen habe ich festgehalten. Mit Kugelschreiber, Bleistift, Permanent Marker, Kreide, Lippenstift. Die Wände sehen aus, als seien sie von einem Aderngeflecht bedeckt. Wenn ich meine Beobachtungen sehe, fühle ich ihre Wahrheit.
Siehst du, sagt Atticus. Es ist alles da.
Ich nicke.
Im Bad rüttelt Amélie an der Heizung.
7.
Seit drei Wochen betrete ich den Keller nicht mehr ohne Gasmaske, Overall und Gummihandschuhe. Der Plan soll nicht scheitern, weil ich mir in einem Augenblick der Unachtsamkeit die Augen verätze.
Atticus kommt gar nicht mehr herunter.
Die Kunststoffwanne ist mittlerweile fast voll. Die Flüssigkeit sieht unscheinbar aus, ein bisschen wie Seife. Mit einer Suppenkelle und einem Trichter fülle ich sie in zwei dunkle Plastik-Kanister. Die Maske kann die Dämpfe nicht vollständig abhalten; meine Nase brennt und prickelt, die Augen tränen. Ich fülle erst einen Kanister bis zum Rand. Dann schraube ich ihn vorsichtig zu und setze den Trichter auf den zweiten Kanister. Als ich die Suppenkelle erneut in die weißliche Flüssigkeit tauche, werde ich unterbrochen.
Es klingelt. Jemand steht vor der Haustür.
8.
Das Problem mit Korrelationen ist natürlich, dass sie uns meistens zum Narren halten. Aus der Zahl der Pullover in Ihrem Schrank lässt sich nicht ableiten, ob Sie bei einem Raubüberfall ums Leben kommen werden. Und nur, weil Sie ein paar originalverpackte Erstausgaben der GI-Joe-Figuren haben, sind Sie nicht gleich zwangsgestört. Mit solchem Unsinn lacht das Universums uns seinen faulen Atem ins Gesicht. Diese Korrelationen sind bedeutungslos, banal, ohne jede Relevanz. Andere dagegen enthüllen das Wesen der Dinge. Sehen Sie, es war eben kein Zufall, dass Ted Bundy einen Käfer fuhr. Es war auch kein Zufall, dass meine Kinder beide Linkshänder waren. Um diese Strukturen zu erkennen, braucht es einen großen Geist, der sich nicht vom alltäglichen Klein-Klein der Dinge in die Irre führen lässt.
Wenn Sie mir vor ein paar Jahren gesagt hätten, dass dieser Geist mir in der Gestalt einer sprechenden Katze gegenübertreten würde, dann hätte ich Sie für verrückt erklärt.
9.
Der Lehrer steht vor der Tür. Durch den Spion sehe ich sein blasses Gesicht, das schüttere Haar, das gelbe Shirt. Gelb! Atticus knurrt. Vor der Einfahrt parkt ein alter VW Passat. Ich bleibe ruhig stehen, atme flach und hoffe, dass er geht. Aber er denkt nicht daran. Aus dem Bad dringen weiter Amélies erstickte Schreie. Ich bezweifle, dass er sie hören kann. Nach einer Minute drückt er die Klingel erneut, mehrmals hintereinander, schneller jetzt. Er ist ungeduldig. Ich spüre kalten Schweiß in meinem Nacken. Der Lehrer bewegt sich nicht vom Fleck. Ich schreie innerlich auf vor Frust. Warum gerade jetzt?
Beim 27. Klingeln öffne ich.
10.
Atticus war nicht immer bei uns. Er ist uns im Winter vor zwei Jahren zugelaufen, als Amélie mit Bianca schwanger war. Weder Amélie noch ich hatten viel für Tiere übrig - wir waren beide ohne Haustiere aufgewachsen und hatten kein Interesse daran, einen Kater ins Haus zu lassen, nicht mit dem Ledersofa. Aber wir hatten die Rechnung ohne Robert gemacht. Er war vom ersten Augenblick an vernarrt in das Tier. Spielte mit ihm, gab ihm Heringsfilets, zog ihn am Schwanz. Atticus ließ alles mit sich machen. Warum uns das nicht stutzig machte, verstehe ich bis heute nicht. Nach ein paar Tagen legte Atticus sich abends neben uns aufs Sofa, als wäre er schon immer dagewesen.
11.
Ich schließe die Haustür hinter dem Lehrer und bitte ihn, ins Wohnzimmer vorzugehen. Er macht ein paar Schritte, dann bleibt er stehen und starrt auf die Tapeten. Aus dem Bad am Ende des Flurs kommt ein klackerndes Geräusch. Amélie zieht und reißt an den Kabelbindern. Der Lehrer stutzt. Ich ziehe die Spritze aus der Tasche des Overalls, entferne den Sicherheitsverschluss und ramme ihm die Nadel in den Hals. Dann drücke ich die milchige Flüssigkeit in seinen Kreislauf. Er schreit auf, dreht sich um, starrt mich mit weitaufgerissenen Augen an. Ein erster, heftiger Krampf fährt durch seinen Körper. Er zittert, seine Beine geben nach und er fällt um, reißt einen Teil der Garderobe mit sich. Dicker, milchiger Schaum quillt aus seinem Mund. Nach ein paar Sekunden beruhigt er sich. Sein Kopf ist fast violett, die Adern auf der Stirn treten deutlich hervor, er atmet schwer. Er starrt mich an. Schaum fließt über seine Mundwinkel und tropft von seinem Kinn. Ich trete zur Seite. Seine Augen folgen mir nicht. Sie fixieren ein altes Familienfoto neben der Eingangstür: Amélie, schwanger mit Bianca, Robert und ich. Das Rütteln aus dem Badezimmer lässt nach. Ich meine, Amélie schluchzen zu hören. Ich warte ein paar Minuten, dann bin ich sicher, dass das Gift wirkt. Die Zunge des Lehrers ist geschwollen und dunkel, die Augen glasig, die Atmung unregelmäßig und flach. Ich greife unter seine Arme und zerre ihn ins Bad. Amélie kauert in der Ecke. Ihr Gestank - ein penetranter Geruch nach Urin und Erbrochenem - vermischt sich mit dem Verwesungsgeruch aus der Badewanne. Ich versuche, nur durch den Mund zu atmen. Ich wuchte den Lehrer über den Badewannenrand, schiebe ihn auf Robert und Bianca. Amélie heult.
12.
Der Tag, an dem Atticus sich mir offenbarte, begann ganz gewöhnlich. Ich habe die Angewohnheit, früh aufzustehen, gegen 5.30 Uhr. Diese eine ruhige Stunde des Tages hat immer mir gehört; ab 6.30 standen dann Amélie und die Kinder auf. Meistens wartete Atticus morgens schon vor der Terrassentür. Ich ließ ihn ins Haus, und während der Kaffee durchlief, machte ich eine Dose auf. Dann saßen wir eine Weile schweigend nebeneinander, ich mit Kaffee und Zeitung, er mit seinem Futter.
An diesem Tag - ich glaube, es war ein Dienstag im Februar - verhielt er sich anders. Als ich die Terrassentür öffnete, schlüpfte er ins Haus, aber statt zum Futternapf zu gehen, sprang er mit einem Satz auf den Küchentisch. Und sah mich an. Ich erstarrte, als ich den Blick in seinen dunklen Augen sah. Etwas in ihnen war anders als sonst. Dann hörte ich seine Stimme in meinem Kopf. Ich sage in meinem Kopf, weil Atticus natürlich nicht spricht. Katzen können nicht sprechen, dazu wären sie schon anatomisch nicht imstande. Trotzdem hörte ich seine Stimme, genau so deutlich, wie ich Amélies Stimme oder die Stimmen meiner Kinder hörte.
Hast du dich mal gefragt, warum du so vielen Menschen in weißen Shirts begegnest?
13.
Der Passat des toten Lehrers kuppelt nicht richtig, ständig kreischt das Getriebe. Das Auto ist mindestens 20 Jahre alt, sein Inneres riecht ranzig. Auf der Rückbank rutschen vergilbte Ordner und Hefte herum, im Fußraum liegt eine zusammengeknüllte Hundedecke. Der Wagen erinnert mich an den Astra, mit dem ich vor langer Zeit Fahren gelernt habe. Ein altersschwaches, überwiegend mechanisches Ding, nicht so ein elektronischer Apparat wie die neuen Autos. Aber besser als Amélies Tesla - der wäre viel zu auffällig. So gesehen, habe ich Glück gehabt, dass der Lehrer vorbeigekommen ist. Ich fahre durch die menschenleeren Straßen der Neubausiedlung, dann fädele ich mich in den Verkehr auf der Schnellstraße ein. Eine dunkle Wolkendecke hängt schwer über der Stadt. Am Horizont blitzt es. Im Fußraum vor dem Beifahrersitz schwappt das Gift in den Kanistern.
Atticus sitzt in seinem Körbchen und schnurrt.
14.
In den ersten Wochen nach seiner Offenbarung wies Atticus mich auf Kleinigkeiten hin. Auf unscheinbare Korrelationen, die uns eine Facette der Wirklichkeit zeigen. Die Verbindung zwischen der Zahl der Badesee-Toten eines Sommers und dem DAX-Index zum Beispiel. Eine Korrelation, die auf den ersten Blick absurd erscheint, tatsächlich aber durch und durch ursächlich ist. Oder wie oft das Wort “gemeinsam” in den Reden der Bundeskanzlerin vorkommt und wie viele Säuglinge auf den Geburtsstationen sterben. Bei einer Gelegenheit ließ Atticus mich ein paar keltische Runen googeln und bat mich, sie mit den Mustern zu vergleichen, die sich ergeben, wenn man die europäischen Fernwanderwege auf einer Karte verbindet. Erinnern Sie sich daran, wie beliebt der Jakobsweg Mitte der 2000er bei deutschen Touristen war? Was, wenn ich ihnen sagte, dass diese Wanderer unbewusst an einem alchemistischen Ritual mitgewirkt haben? Atticus sprach morgens mit mir, in der Stunde, bevor die anderen aufstanden. Ich trank meinen Kaffee und er saß auf dem Küchentisch und lehrte mich, die Zeichen zu lesen.
15.
Nach einer Viertelstunde nehme ich die Abfahrt zum Gewerbegebiet. Fang jetzt an, sagt Atticus aus dem Korb. Ich nicke und sehe mich um. Die lange, gerade Straße ist leer, nur vor einem Getränkemarkt schiebt ein alter Mann einen Einkaufswagen über den Parkplatz. Er trägt Jeans und ein dunkles Shirt.
„Eins, blau“, sage ich.
Atticus knurrt. Blau?
Ich fahre langsamer und sehe nochmal genau hin. „Eher grau.”
Gut. Atticus wirkt erleichtert. Zähl weiter.
An der Stelle, wo der Radweg kreuzt, begegnet uns ein kleines Mädchen auf einem Fahrrad.
“Eins, rot.”
Weiter.
Grün.
Weiß.
Schwarz.
Schwarz.
Ich parke am Straßenrand, einige hundert Meter vom Werkstor entfernt.
16.
Umso älter wir werden, desto leichter verwechseln wir die Erscheinungen mit dem Wesen der Dinge. Wir gewöhnen uns an unseren Alltag, an diese immer gleichen Rituale zwischen Büro und S-Bahn und Wohnung und Supermarkt und wir verlieren die Fähigkeit, die Dinge zu hinterfragen. Die Erscheinungen sind nicht das, was ist, sagte mir Atticus immer und immer wieder. Manchmal kam ich mir vor wie im Philosophieunterricht. Dann verstand ich, dass dies viel mehr war: Atticus lehrte mich nicht bloß, über die Welt nachzudenken. Er bereitete mich darauf vor, sie zu verändern.
17.
Mit meiner Chipkarte habe ich Zugang zum gesamten Werk. Ich halte einen Plastikkanister in jeder Hand und betrete das Gelände durch einen Seiteneingang. Zum Glück ist niemand hier, der stutzig werden könnte, weil mir ein Kater folgt. Auf dem Parkplatz stehen zwei Autos. Ich schleppe die Kanister an den Mülltonnen vorbei zu der Treppe, die zur zentralen Wasseraufbereitung führt. Auf dem Weg begegnet mir kein Mensch. Das ist nicht ungewöhnlich, das Werk ist zu einem Großteil automatisiert; der Alltag kann überwiegend am Computer gesteuert werden. Am Eingang zum Hauptraum setze ich die Kanister ab und drücke meine Chipkarte gegen ein Lesegerät. Mit einem metallischen Klicken öffnet sich die Tür. Ich drücke mit meiner Schulter dagegen. Atticus huscht ins Innere. Ich greife nach den Kanistern und folge ihm.
18.
Ein paar Wochen, nachdem Atticus begonnen hatte, mit mir zu sprechen, übernahm Amélie einen neuen Erwachsenen-Schwimmkurs, ihren ersten seit Biancas Geburt. Zweimal pro Woche - dienstags und donnerstags - war sie fortan im Schwimmbad, erklärte Anfängern die richtige Atemtechnik, gleichmäßigen Arm- und Beinschlag und die korrekte Körperspannung. Ich kochte für Robert, meistens gab es Nudeln mit Tomatensauce, und sah mir anschließend irgendwas auf Youtube an. Atticus war an diesen Abenden selten im Haus; sobald es dunkel wurde, war er unterwegs.
19.
Ich beuge mich über den Haupttank und schütte den Inhalt eines Kanisters in das Wasser. Die Flüssigkeit vermischt sich in wenigen Augenblicken, verflüchtigt sich und ist bald nicht mehr zu sehen. Atticus schnurrt. 200.000 Menschen werden in den nächsten Stunden die hässliche Fratze der Wirklichkeit sehen. Die Wahrheit erkennen, die hinter den Dingen liegt.
20.
Nach fünf Monaten sagte mir Amélie, dass es keinen Schwimmkurs gab. Sein Name war Steffen. Er arbeitete in der Druckerei, im Marketing, und sie hatten sich während einer Fortbildung kennengelernt. Steffen lebte getrennt von seiner Ex-Frau und hatte einen kleinen Sohn. Amélie sagte, dass es Liebe sei. Dass sie mich verlassen würde. Sie weinte, es brach mir das Herz. Ich sah sie an, wollte schreien, konnte aber nicht. Ich blieb stumm. Die Kinder, sagte sie. Wir dürfen den Kindern nicht wehtun. Wir müssen das gemeinsam schaffen. Natürlich, sagte ich.
Vor der Terrassentür funkelten Atticus’ Augen in der Dunkelheit.
21.
Die Anlage dröhnt und rauscht. Ich setze mich neben dem Tank auf den Boden. Der leere Kanister liegt neben mir. Atticus läuft auf dem Rand des Tanks entlang. Gut, sagt er. Heute verändern wir die Welt. Ich sitze am Boden und mein Herz schlägt wie wild. Ich bin euphorisch. Ich denke an die Zahlen auf den Wänden, an die T-Shirts, an Amélie, an Steffen. An die grauen Gesichter meiner Kinder in der Badewanne. An die Maden. Atticus springt vom Beckenrand herunter und setzt sich mir gegenüber auf den Boden. Er beobachtet mich schweigend. Was bin ich für ihn? Ein Schüler? Ein nützlicher Idiot? Ich versuche, in seinen dunklen Katzenaugen zu lesen, aber da ist nichts.
Sobald ich diesen Bericht beendet habe, werde ich den zweiten Kanister an meinen Mund heben und trinken. Das ist Atticus’ letzte Lehre: Ich bin selbst nur eine Erscheinung, flüchtig wie die Farbe eines T-Shirts. Ein vorübergehendes Flackern. Ein Zucken auf der Fratze der Wirklichkeit.