Was ist neu

T minus

Mitglied
Beitritt
25.10.2001
Beiträge
31

T minus

T minus

Zehn
Irgendwo lachte jemand in diesem Moment über ihn. Er war sich sicher.
Denn endlich hatte er begriffen. Die Erinnerung war zurückgekehrt.
Und mit ihr der Schmerz.
Er legte das Gesicht in seine Hände und weinte. Weinte hemmungslos. Er war dagegen gewesen, aber auf seine Stimme hatte man nicht gehört. Sie hatten ihn überrumpelt, sie alle überrumpelt...
Er erkannte gleich, dass er allein dastand. Und er wusste, dass er nicht in der Lage war, in der Zeit zurückzugehen und alles besser zu machen. Dies war nicht mehr seine Zeit, nicht mehr seine Welt. Alles verloren. Hilflos und verlassen.

Neun
Er spürte etwas. Irgendetwas kitzelte ihn innerlich, als wenn es gegen seinen Schädel pochte.
Es war nicht das Rauschen der Blätter von draußen, das durchs offene Fenster zu ihm drang, das ihn verwirrte. Nicht der Wind, der sie zum Rauschen brachte.
(Er bemerkte nicht, dass niemand mehr da war, der seine Bäume pflegte.)
Es war etwas anderes. Etwas Unbeschreibliches, etwas Einmaliges, etwas, vor dem sich viele Leute fürchteten. Es hatte sich herangeschlichen wie eine schwarze Katze. Von rechts nach links. Von innen nach außen. Er bekam eine Gänsehaut.
Irgendetwas hatte sich verändert.

Acht
Als er erwachte, stand sein Kaffee nicht auf dem Nachttisch. Seine Dienerin hatte wohl verschlafen. Das wird dann vom Gehalt gestrichen, dachte er bei sich, etwas verbittert. Entnervt riss er sich die Decke vom Leib und blickte, halb schlaftrunken, auf die Uhr: Exakt acht Uhr morgens. So pünktlich war er noch nie aufgestanden! Das würde seinen Geschäften gut tun. Er reckte sich, stand mühsam aus dem Bett auf und musste Halt suchen, denn fast gaben seine Beine nach. Er kam sich vor, als hätte er ewig geschlafen. Trotzdem fühlte er sich müde und verkatert wie nach einer durchzechten Nacht. Seine Glieder schmerzten. Was hatte er getan am Abend zuvor? Er war doch schlafen gegangen - oder?

Sieben
Auf einem Computerbildschirm tauchte in diesem Moment in greller Leuchtschrift folgender Schriftzug auf. Irgendjemand saß am Rechner, die Arme friedlich in den Schoß gelegt, lächelnd im Schlaf. Schlafend wie der Rest der Menschheit.
„Projekt initiiert. Funkuhren der Welt untereinander angeglichen. Aktiviere Aussendung des Schlafpulvers. Erfassung der Erdoberfläche: 99,9%. 99,9% der Erdbevölkerung in Schlafphase eingetreten. Initiierung der Löschung aller Daten. Initiierung der Gutschriften. Abgeschlossen.
Projekt abgeschlossen. Statistische Fehlerwahrscheinlichkeit: 0,1%.“
Die Schrift verschwand. Viele Menschen träumten, wie sie noch nie geträumt hatten.

Sechs
Herrlich hell strahlte das Feuerwerk am Himmel. Zumindest auf diesem Teil der Welt feierten die Menschen ihren vorerst letzten Abend. Bevor der neue Morgen begann und alles für sie anders aussah. Sie wussten ja nicht, ob die Erinnerung auch verschwinden würde... Vorbei das Elend der letzten paar Jahre; aber die jungen Leute, die so prächtig feierten, waren sich nicht sicher, ob sie morgen noch genauso fröhlich sein würden. Oder ob ihnen das Lachen gefrieren würde, wenn die Welt erneut im Chaos versank. So viele offene Fragen und gleichzeitig so viele Hoffnungen. Aber wissen konnten sie es nicht, dachten sie sich, probieren geht über studieren; und sie feierten.

Fünf
Zweifel. Zweifel, ob alles klappt. Man kann planen, so viel man will. Wichtig ist das Ja oder das Nein. Und das gibt es immer erst am Ende.
Alle, die mit der Planung und der Ausführung des Projekts beschäftigt waren, quälten dieselben Fragen: Ob sie sich einen solchen Schritt erlauben dürften; ob die Welt bereit dazu war und noch viel mehr die Menschen; ob die Zeit überhaupt reif sei; ob man manche Menschen zu ihrem Glück, andere zu ihrem Pech zwingen dürfe. Ob die Feinde des Planes sich wehren würden oder das Schicksal über sich ergehen lassen würden? Schließlich handelte man gegen sie.
Sie arbeiteten alle mit Eifer. Und bald sollte es soweit sein.

Vier
Die Zustimmung der mächtigsten Regierungen hatten sie. In ihren Telegrammen drängten sie nach Eile. Die Angelegenheit war ihnen offensichtlich sehr wichtig. Die Planer berieten.
„Es wäre besser, den Schock nicht so tief sitzen zu lassen“, sagte einer von ihnen. „Wir sollten die Menschen in Schlaf versetzen, bevor das nächste Zeitalter beginnt. So können sie aus ihrem Schlaf erwachen und die neue Zeit voll genießen.“ Alle schwiegen und nickten als Zeichen der Zustimmung. Nach langer Denkpause ergriff ein anderer das Wort: „Wo ist eigentlich der Erfinder des Projekts? Hat irgendjemand etwas von ihm gehört? Ich glaube, viele Menschen würden ihm gerne seinen Dank ausrichten, wenn das alles vorbei ist.“

Drei
Einen Traum umzusetzen ist ein weiterer Traum. Wie viele verwirklichte Träume verträgt die Welt?
Noch während er sich diese Frage stellte, traf ihn ein Schuss. Er kam unerwartet, irgendwo von hinten. Blut spritzte von seiner Stirn und befleckte seine Brille. Erst, als er das Rot vor seinen Augen sah, realisierte er, was geschehen war. Er zitterte am ganzen Leib. Die Knie gaben zuerst nach, dann sein Oberkörper.
Seine Leiche wurde später weggeschafft, sein Mörder nie gefunden. Es war ein Zeichen der Warnung, aber man ignorierte es. Seine Idee aber lebte in den Köpfen der Leute weiter, denen er von ihr erzählt hatte.

Zwei
Seine Rede vor dem Rat der mächtigsten Persönlichkeiten der heutigen Welt schien Eindruck gemacht zu haben. Jedenfalls dachten sie darüber nach. Ein Hoffnungsschimmer?
Dennoch plagten ihn viele Sorgen. Die Reichen wären sicherlich dagegen, dachte er bei sich. Sie müssen sich fühlen, als ziehe ihnen jemand den Teppich unter den Füßen weg.
Und so wunderte er sich nicht, als er beim Verlassen des Gebäudes – er wollte nur kurz einen Spaziergang machen – eine Stimme hinter sich hörte und gleich darauf einen Stein knapp an sich vorbeifliegen sah.
„Verrückter Anarchist!“, rief sie. Und hatte Recht, das musste er sich eingestehen.

Eins
„Verstehen Sie, was ich meine? Wir halten die Zeit an. Wir lassen nicht zu, dass sie weiter an uns nagt. Natürlich können wir das nicht, das weiß ich doch! Hören Sie mir zu! Wir tricksen Sie aus. Wir haben uns ja schon immer mit Tricksen durchgeschlagen, nicht? Genau. Wir starten einfach neu. Wir alle. Wir setzen alles zurück auf Ausgangsposition: Alle Konten. Vergesst die Schulden. Alles weg. Wir schaffen Gleichheit für alle, jeder startet unter den gleichen Bedingungen neu. Eine Chance für Privatmann und Staat. Wir fangen einfach neu an! Eine irre Idee, oder? Die Formalitäten habe ich mir schon überlegt. Es ist alles hier auf Papier. Überlegen Sie es sich. Ich finde, es wird Zeit, dass wir die Kontrolle über unser Schicksal endlich zurückerlangen.“

Null
Als die Idee auf die Welt kam, lag die Welt gerade im Sterben: Ihre eigenen Kinder hatten ihr einen tödlichen Virus injiziert. Sie hatten nicht lange nach dem Erreger suchen müssen, denn sie trugen ihn in sich. Sie säten Verachtung und Ungerechtigkeit, Armut und Elend; die Welt musste ihre Saat ertragen, doch nun schaffte sie es nicht mehr. Weil sie krankte, krankte ein Großteil der Bevölkerung mit ihr. Viel zu viele starben. Die Staaten verzweifelten. Zu diesem Zeitpunkt kam irgendwo auf diesem Planeten einem einflussreichen Menschen eine geniale Idee. Er tat sie als völlig idealistisch ab, hielt sie für Gedanken eines armen Träumers. Aber er wusste noch nicht, was für einen Prozess er mit ihr in Gang setzen würde; wenn erst einmal alle davon wussten.

(C) by Sternenfluter (SCS), 19.11. AD 2002

 

Hallo Sternenfluter!

Erst mal muss ich sagen, dass mir deine Story und die Grundidee, die sie behandelt, ganz gut gefällt.

Die Geschichte ist anfangs sehr undurchsichtig und so ist es schön, wie sich nach und nch alles auflöst. Den Countdown finde ich passend zu den inhaltlichen Ereignissen. Dennoch verwirrte mich die Story beim Lesen etwas, da doch öfters "Szenenwechsel" vorkommen.
Eine Sache habe ich noch immer nicht kapiert. Will noch nicht zuviel verraten, aber ich verstehe nicht, was es mit dem Virus auf sich hat und wie er durch das Projekt geheilt werden soll. Vielleicht habe ich da auch was falsch verstanden.

In Wirklichkeit wird es wohl niemals zu einem derartigen Projekt kommen, aber das ist ja einerlei; als Science-Fiction-Stoff ist die Idee sicherlich geeignet.

Viele Grüße,
Michael :)

 

@Michael

Der/das "Virus" ist hier nur eine Metapher für Armut. Vielleicht ist der letzte Teil in der Tat etwas missverständlich. Danke für den Hinweis!

MfG
Sternenfluter

 

Aaah, hab' verstanden. Die Zusammenhänge sind mir jetzt klar. Danke für die Aufklärung.

Grüße - Michael :)

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom