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Tüte im Gebüsch
Fanner fand das Babyartikel-Sortiment nicht gleich. Nach ein paar überflüssigen Runden parkte er den Einkaufswagen zwischen Alete und Penaten. Er wunderte sich, wieviele Varianten von Schnullern es hier gab. Es machte ihm Spaß, die verschiedenen Dinger zu prüfen.
"Na, kaufst wohl für dein Enkelchen ein?", wurde er gestört. Er drehte sich um: Linda Sandner. Sie war nicht allein, ihr Mann stand neben ihr. Sie hatte sich zum Einkaufen nicht umgezogen, ihr enges Gartenkleid spannte über Bauch und Hüften.
"Oder benutzt du das Babypuder selbst?" Sie kam näher, er roch ihre ungewaschenen Achseln, ihre Riesenbrüste rutschten bedenklich nahe: "Ist ziemlich praktisch. Grad bei so nem Wetter!" Verschwörerisch nuschelte sie in sein Ohr: "Bevor Helmut und ich wandern, puder ich mir ordentlich wat unter die Möpse. Dat scheuert sonst so."
Linda kicherte. Fanner fühlte, wie er rot wurde. So eine Hitze in diesem Laden.
Die Sandners gingen ihm gehörig auf den Geist. Besonders seit jenem Grillabend, wo Linda versucht hatte, ihm unbemerkt ein paar Mayonnaiseküsse aufzudrücken. Fanner schaute hilfesuchend zu Lindas Mann, doch der tätschelte nur grinsend ihren Arm: "Nu mach den armen Mann nicht nervös!" Fanner war froh, dass die Kassen bald schlossen.
Die Einkaufstüte wog schwer. Sandners hatten angeboten, ihn nach Hause zu fahren, aber das hatte er nicht gewollt, auch nicht, dass sie seine Einkäufe in ihren Kofferraum luden. Er hoffte, seine Frau erfuhr nichts davon.
Bevor er sich in die Straßenbahn setzte, ging er zu Tchibo. Neben der Geschirrablage war ein Stehplatz frei. Fanner bemerkte auf dem Boden einen verschmutzten Rucksack und fragte sich, wer damit ins Einkaufszentrum fuhr. Ein Mann mit ungepflegt wirkendem Zopf registrierte seinen suchenden Blick: Er schriebe Tagebuch. Ihn, Fanner, hätte er schon erwähnt.
Die Straßenbahnfahrt dauerte lang, Fanner lächelte einem dicken Baby zu, das mit der Halskette seiner Mutter spielte. Die Häuser veränderten sich. Bald gab es Baulücken, Kopfsteinpflaster. Rechts einen Park. Schon beim Aussteigen achtete er darauf, nicht in einen der vielen Hundehaufen zu treten. Wo Anne wohnte, besaß fast jeder einen Köter, schäferhundgross und schwarz. Annes Haus sah er von Weitem. Hinter den roten Fensterrahmen wohnten sie und Merle.
Er hoffte, dass Anne zu Hause war. Ihrer Mitbewohnerin konnte er schlecht die Einkäufe hinterlassen. An Kinderfahrrädern vorbei, ging es die Treppe hinauf; ein winziger Plastikbagger leuchtete auf den Stufen. Oben beugte sich Anne übers Geländer. "Na, wieder fleißig eingekauft?" Ihre sommersprossigen Wangen zogen sich in die Breite.
Es roch nach Kaffee. Anne schob ihn in ihr Zimmer und zeigte auf ihr Bett.
"Neu, hab ich geschenkt bekommen." –
"Von wem?" Fanner fühlte, wie er eifersüchtig wurde.
"Von einer verstorbenen alten Dame aus unserer Gemeinde."
"Aber ich hätte Dir ein Neues kaufen können!" Fanner verstand nicht, wie Menschen in gebrauchten Betten schlafen konnten. Anne hob die Tagesdecke. Fanner freute sich, als er die Blümchenwäsche entdeckte, eins seiner ersten Geschenke, aber Anne wollte ihm was anderes zeigen: "Guck mal, ist sogar mit Gummieinlage!" Er hörte ihr Kichern noch in der Küche, wo sie sich Kaffee eingoss.
Er betrachtete ihre Bücher. Anne war eine begabte kleine Pädagogin. Während er sich auszog, betrachtete er ihre Fotowand: Anne bei einer Trekkingtour, sie rasteten gerade. Fanner dachte an den Rucksackmann im Tchibo. Was er wohl mit sich schleppte? Er freute sich, Anne davon zu erzählen. Anne liebte die kleinen Episoden aus seinem "Opa-Alltag", wie sie es nannte. Es war kein Zufall, dass sie sich im Erzählcafé von der Uni kennengelernt hatten. Anne hätte es gefallen, im Tagebuch des Unbekannten verewigt zu werden.
"Na, halten wir schon unseren Mittagsschlaf?" Anne erschien im Türrahmen, eine Schürze vor dem Bauch. Fanner liebte Schürzen, sie machten Frauen viel attraktiver. Seine eigene Frau mochte das nicht, aber sie mochte sowieso das wenigste, was er tat. Für sie war er nur das "perverse Schwein", besonders seit der Sache mit der Ungarin, das lag fünfzehn Jahre zurück. Wenn sie ihn hier sehen könnte. Oder die Sandner! Die wäre er los, für alle Zeiten.
Das Frottee unter seinem Hintern fühlte sich angenehm an. Gleich würde Anne die Decke lüpfen. Er mochte nicht dran denken. Anne könnte seine Enkelin sein, doch seine Gewissensbisse hielten sich in Grenzen, schließlich hatte sie genausoviel von ihrem Arrangement. Er hoffte, dass sie ihn nicht nur als "Fallbeispiel" sah, sondern auch ein bißchen gern hatte.
Sie hatte noch etwas vergessen. Fanner drehte sich wohlig um. Jetzt lag er auf dem Bauch. Anne hatte ihre Hausarbeit umbetitelt. Sie hieß nun "Fetischismus im Alter". Fanner war stolz, dass er dazu beigetragen hatte. Obwohl es eigentlich keinen speziellen Altensex gab. Jeder alterte mit dem Sex, den er schon immer hatte. Und er hatte seine Schrulle schon mit Vierzehn.
Annes Hände waren warm. Sie drehte ihn auf den Rücken, achtete darauf, seinen Penis nicht zu berühren. Aber um den musste er sich sowieso keine Sorgen machen. Er schämte sich höchstens für seinen schweren Sack, in dem sich seine paar Zentimeter versteckten, so dass Anne beim ersten Mal geglaubt hatte, er hätte gar keinen.
Fanner schaute nach oben, über ihnen die Sterne. Selbstleuchtende Aufkleber, hatte sie ihm erklärt. Sie hatte die verrücktesten Dinge mit ihm angestellt, ihm aber nie erlaubt, mit ihr Nachts die Sterne zu betrachten. Auch seine Tüte musste er später wieder mitnehmen. Betteln half nicht.
Fanner fragte sich, ob er in diesem Zimmer der Einzige war, mit dem etwas nicht "stimmte". Im Erzählcafé gab es den Psychologiestudenten, der sie hinter dem Kuchenbuffet bekrabbelte, aber es gab noch die anderen Männer, die vom Anrufbeantworter und Merle küsste Anne auf den Mund, ein wenig lange.
"Na, haben wir´s gleich geschafft." Und Anne wurde etwas reicher. Fanner hatte auf einem Taschengeld bestanden. Er faßte sie nicht an, sie musste sich nicht ausziehen. Er war nur ihr altes Kind, ihr braver, 69 Jahre alter Bub.
Zum Kaffeetrinken spätestens musste er zu Hause sein. Vorher eilte er in den Park. Rein ins Gebüsch, das war das Beste. In einem Imbiss hatte einmal jemand an seiner Toilettentür gerüttelt. Komm, raus, Du altes Schwein. Die Frauen hatten es leichter, in ihren Klos standen kleine Eimer. Zwischen den Ästen war es dunkel. Es konnte niemand sehen, wie er das Ding aus der Hose zerrte. Unbenutzt wie immer. Er musste an sein "erstes Mal" denken. Anne hatte das Windelpaket auf ihrem Küchentisch bestaunt. Plötzlich hatte sie gelacht. "Dann weiß ich, wie´s geht, wenn ich mal ein Praktikum im Kindergarten mache." Später hatten sie gemeinsam gelacht.
Vorsichtig lugte er aus dem Laub.
"Na, Opa, auch pieseln?" Fanner zuckte zusammen. Der Mann mit dem Rucksack saß auf einer Bank, einige Meter von ihm entfernt. und winkte. "Willst Du lesen, was ich über Dich geschrieben habe?" Neugierig setzte sich Fanner neben ihn. Er öffnete den Rucksack. Er war voller Bücher. Auf der Innenseite baumelte eine Schnullersammlung. Staunend besah er die Fundstücke, einige Sauger waren dunkler, als hätte sie Wochen lang in der Sonne gelegen.
"Wo haben Sie die her?"
"Da staunste. Von der Strasse. Die Kleinen lassen alles fallen."
"Früher haben wir die ausgekocht."
"Früher, früher. ..", wurde er nachgeäfft. "Die jungen Muttis sind heut anders drauf. Was meinste,..?" Der Mann genoss Fanners Aufmerksamkeit: "Die werden immer komischer. Neulich hab ich eine Tüte gefunden. Hier in den Büschen. Komplette Babyausstattung! Selbst die Flasche war noch warm."